Sechzehntes Capitel.
Unterwegs.

[181] Wenn Dick Sand's Befürchtungen bis jetzt auch nichts zu bestätigen schien, so betrat er, nachdem jene dreihundert Schritt am Ufer zurückgelegt waren, doch nicht ohne ein unangenehmes Vorgefühl den dichten Wald, den er mit seinen Gefährten volle zwölf Tage lang auf beschwerlichen Fußpfaden durchreisen sollte.[181]

Mrs. Weldon dagegen, welche als Frau und Mutter doch leicht doppelt unruhig sein mußte, hatte das beste Zutrauen.

Zwei nicht unwichtige Gründe trugen zu ihrer Beruhigung bei: erstens, daß diese Gegend der Pampas weder rücksichtlich der Eingebornen, noch rücksichtlich reißender Thiere besonders zu fürchten war, und dann, daß man sich unter Harris' Leitung, d.h. unter der eines so zuversichtlichen Führers, wie der Amerikaner es zu sein schien, nicht wohl verirren konnte.

Die während des Marsches so gut als möglich einzuhaltende Zugordnung war folgende:

An der Spitze der kleinen Gesellschaft marschirten Dick Sand und Harris, Beide bewaffnet, der Eine mit seiner langen Flinte, der Andere mit dem Remington-Gewehre.

Ihnen folgten Bat und Austin, Beide gleichmäßig mit Büchsen und Jagdmessern ausgestattet.

Hinter ihnen kamen Mrs. Weldon und der kleine Jack zu Pferde; dann Nan und Tom.

Den Schluß bildeten Acteon mit dem vierten Remington-Gewehr und Herkules mit einer Axt im Gürtel.

Dingo lief, wie Dick Sand bald bemerkte, unruhig hin und her, als spürte er einer Fährte nach. Sein ganzes Benehmen erschien, seit der Schiffbruch des »Pilgrim« ihn an's Land geworfen, sichtbar verändert. Fast ohne Aufhören ließ er ein dumpfes, mehr klägliches als zorniges Knurren vernehmen. Es fiel das Allen auf, ohne daß es Jemand zu erklären wußte.

Dem Vetter Benedict hätte man ebenso unmöglich einen bestimmten Platz im Zuge anweisen können wie Dingo. Ohne an der Schnur geführt zu werden, hätte er doch nicht Ordnung gehalten. Er streifte mit seiner umgehangenen Blechkapsel, das Netz in der Hand und die große Loupe am Halse tragend, bald voraus, bald hinterher durch die hohen Gräser, und spürte den Orthopteren, sowie jedem anderen Insect, dessen Namen nur die Endung »ptere« hatte, nach, selbst auf die Gefahr hin, von einer giftigen Schlange gebissen zu werden.

Mrs. Weldon, welche sich darüber beunruhigte, rief ihn in der ersten Stunde wohl hundertmal zurück. Das half aber Alles nichts.[182]

»Vetter Benedict, sagte sie endlich, ich bitte Sie nun ernstlich sich nicht zu weit zu entfernen, und ermahne Sie zum letzten Male, meine Worte nicht in den Wind zu schlagen.

– Recht gern, Cousine, antwortete der unverbesserliche Entomologe, wenn ich aber gerade ein Insect entdecke...

– Wenn Sie ein Insect entdecken, fuhr Mrs. Weldon fort, so werden Sie gut thun, es in Frieden laufen oder fliegen zu lassen, wenn ich mich nicht gezwungen sehen soll, Ihre Trommel einstweilen zu confisciren.

– Mir meine Trommel nehmen! rief Vetter Benedict, als handelte es sich darum, ihm das Herz aus dem Leibe zu reißen.

– Ihre Trommel und Ihr Netz, allerdings! erklärte Mrs. Weldon unerbittlich.

– Mein Netz auch, Cousine! Und warum nicht die Brille dazu? – Nein, Sie scherzen nur, das wagen Sie nicht zu thun!

– Selbst Ihre Brille, die ich vergessen hatte. Ich danke Ihnen, Vetter Benedict, daß Sie mich selbst an das Mittel erinnert haben, Sie blind und dadurch zwangsweise klug zu machen!«

Diese dreifache Drohung hatte doch die Wirkung, den Vetter Benedict etwa eine Stunde lang etwas im Zuge zu halten. Dann begann er aber doch wieder, auszuschwärmen, und da er das auch ohne Netz, ohne Trommel und Brille gethan hätte, mußte man es eben dabei bewenden lassen. Herkules übernahm es, den Gelehrten speciell zu behüten – ein Auftrag, der seiner Natur entsprach – und sollte im Nothfalle mit jenem ebenso verfahren, wie Vetter Benedict mit einem Insect, d.h. ihn eventuell einfangen und ebenso sorgsam zurücktragen, wie es jener mit der allerseltensten Lepidopiere gethan hätte.

Nach dieser Verabredung kümmerte man sich nicht mehr allzu ängstlich um Vetter Benedict.

Die kleine Gesellschaft war, wie wir wissen, gut bewaffnet und wohl auf ihrer Hut. Harris versicherte jedoch wiederholt, daß nichts Anderes, als höchstens ein Zusammentreffen mit nomadisirenden Indianern zu fürchten sei, und auch solche werde man vielleicht gar nicht zu Gesicht bekommen.

Jedenfalls versprachen die getroffenen Vorkehrungen zu deren Abhaltung auszureichen.[183]

Die Fußpfade, welche den Wald in verschiedener Richtung durchschnitten, verdienten allerdings kaum diesen Namen. Es waren mehr Fährten von Thieren, als Wege für Menschen, auf denen man nur mit Mühe vorwärts kommen konnte, so daß die kleine Gesellschaft binnen zwölf Stunden im Mittel nicht mehr als fünf bis sechs Meilen zurücklegte.

Die Witterung war sehr schön. Die Sonne näherte sich dem Zenith, indem sie ihre Strahlenströme fast lothrecht niedersandte. Auf offener Ebene[184] wäre, wie Harris mehrfach bemerkte, die Hitze jetzt unausstehlich gewesen; unter diesem undurchdringlichen Laubdache machte sie sich dagegen weit weniger fühlbar.


Dick Sand betrat den dichten Wald. (S. 181.)
Dick Sand betrat den dichten Wald. (S. 181.)

Die allermeisten Bäume dieses Waldes waren sowohl Mrs. Weldon, als auch ihren weißen und schwarzen Gefährten völlig unbekannt. Ein Sachverständiger würde freilich die Beobachtung gemacht haben, daß sie weit bemerkenswerther waren durch ihre Arten, als etwa durch ihren Wuchs.


Einige solche etwas breitere Bäche... (S. 187.)
Einige solche etwas breitere Bäche... (S. 187.)

Hier[185] stand eine »Bauhinia« oder Eiseneiche; dort ein »Molompi« (identisch mit dem Pterocarpus), mit haltbarem leichten Holze, aus dem man Pageien oder Ruder fertigt und dessen Stämme ein gewisses Harz in Ueberfluß ausschwitzen; weiterhin fanden sich »Fusteten« (Gelbholzbäume) mit reichlichem Farbstoffe und »Guajacs«, welche wohl zwölf Fuß im Durchmesser haben, die aber an Qualität die gewöhnlichen Guajacbäume nicht erreichen.

Unterwegs erkundigte sich Dick Sand bei Harris nach dem Namen aller dieser Baumarten..

»Sie haben also diesen Küstenstrich Südamerikas noch niemals gesehen? fragte Harris, bevor er die Anfrage des Anderen beantwortete.

– Niemals bei meinen Seefahrten, erwiderte der Leichtmatrose, hatte ich Gelegenheit, diese Gestade zu sehen, und offen gestanden, ich glaube, es hat mir auch noch Niemand, der sie genauer kannte, von denselben gesprochen.

– Sie haben aber mindestens die Küste von Columbia oder die von Chili und Patagonien besucht?

– Nein, auch diese nicht.

– Doch Mistreß Weldon hatte vielleicht Gelegenheit, diesen Theil der Neuen Welt kennen zu lernen? fragte Harris. Die amerikanischen Damen fürchten ja die Reisen nicht und ohne Zweifel...

– Nein, Herr Harris, antwortete Mrs. Weldon, die Handelsinteressen meines Mannes führten ihn stets nur nach Neu-Seeland und ich habe ihn nie wo andershin begleitet. Unter uns kennt also noch Niemand diesen Theil des unteren Bolivia.

– Nun, Mistreß Weldon, Sie und Ihre Gefährten werden also ein sehr eigenartiges Land zu sehen bekommen, das mit Peru, der Argentinischen Republik und Brasilien auffallend contrastirt. Seine Fauna und Flora würden die Bewunderung jedes Naturforschers erregen. Wahrlich, man möchte behaupten, Sie hätten an einem sehr glücklich gewählten Punkte Schiffbruch gelitten, und wenn man jemals dem Zufalle danken soll...

– Ich glaube lieber, daß nicht der Zufall, sondern daß Gott uns hierher geführt hat, Herr Harris.

– Gott! Ja wohl, Gott!« erwiderte Harris mit dem Tone eines Mannes, der von dem Eingreifen der Vorsehung in die Angelegenheiten dieser Welt nicht besonders viel hält.[186]

Da indessen Niemand von der kleinen Gesellschaft weder das Land, noch dessen Erzeugnisse kannte, machte sich Harris ein Vergnügen daraus, die Namen der merkwürdigsten Bäume dieses Waldes zu nennen.

Es war in der That ärgerlich, daß in Vetter Benedict neben dem Entomologen nicht auch ein Botaniker stak! Wenn er bis jetzt keine seltenen Insecten gefunden hatte, so würde er dafür die herrlichsten Entdeckungen auf botanischem Gebiete haben machen können. Hier wucherten in Menge Vegetabilien aller Art, deren Vorhandensein in den tropischen Wäldern der Neuen Welt noch Niemand constatirt hatte. Unzweifelhaft hätte Vetter Benedict seinen Namen durch eine dieser Pflanzenfamilien verewigt. Doch, er liebte weder die Botanik, noch war er in diesem Fache bewandert. Er hegte von Natur sogar eine gewisse Abneigung gegen die Blumen, weil sich einige derselben die Freiheit nahmen, in ihren Korollen Insecten einzufangen und durch ihren giftigen Saft zu tödten.

Zuweilen wurde der Wald nahezu sumpfig. Man fühlte unter den Füßen das Netz von Wasseradern, welche die kleinen Nebenzweige des Flusses speisten. Einige solche etwas breitere Bäche konnten auch nur überschritten werden, indem man schmälere Stellen derselben aufsuchte.

An ihren Ufern wuchs häufig eine Schilfart, welche Harris »Papyrus« nannte.

Nach Ueberschreitung dieses sumpfigeren Theiles schloß sich wieder ein dichtes Blätterdach über den engen Pfaden des Waldes zusammen.

Harris zeigte Mrs. Weldon und Dick Sand sehr schöne Exemplare von Ebenholzbäumen, welche größer waren als die gewöhnlichen Arten und ein schwärzeres Holz als das im Handel vorkommende liefern. Dann traf man wieder auf Mangobäume, welche trotz der Entfernung vom Meere noch ziemlich zahlreich vorkamen. Bis in die höheren Zweige hinauf bedeckte dieselben ein dichter Ueberzug von Orseille. Ihr kühler Schatten und ihre köstlichen Früchte machen sie zu sehr schätzenswerthen Bäumen, und doch hätte, wie Harris erzählte, kein Eingeborner gewagt, sie selbst zu vermehren.

»Wer einen Mangobaum pflanzt, der stirbt!« so lautete ein abergläubiges Sprichwort des Landes.

Während der zweiten Hälfte dieses ersten Reisetages gelangte die kleine Gesellschaft nach eingenommenem Mahle auf ein leicht wellenförmiges Terrain, das zwar noch nicht die Ausläufer des Gebirgskammes durchzogen, sondern[187] das nur eine Art hügeliger Ebene darstellte, welche weiter nach rückwärts an den Bergkamm grenzte.

Da hier die Bäume mehr vereinzelt oder nur in kleineren Gruppen zusammenstanden, wäre der Weg leichter gewesen, hätten nicht dichte, hohe Gräser den ganzen Boden bedeckt, so, als befände man sich in den Dschungeln Ostindiens. Die Vegetation erschien wohl minder üppig als in der Fluß niederung, übertraf aber noch beiweitem die der gemäßigten Zonen der Alten und der Neuen Welt. Die Indigopflanze wuchs hier in großer Menge und galt nach Harris' Aussage mit Recht als das gefürchteteste, Alles überwuchernde Unkraut in der ganzen Umgebung.

Gerade ein Baum, der sonst in diesem Theile des Continentes sehr allgemein war, schien jedoch dem Walde zu fehlen – der Kautschukbaum. In der That giebt es die »Ficus primoïdes«, die, »Castilloa elastica«, die »Cecropia peltata«, die »Collophora utilis«, die »Cameraria latifolia« und vorzüglich die »Syphonia elastica«, welche verschiedenen Familien angehören, in Mittelamerika sonst wirklich in Ueberfluß. Auffallender Weise sah man hier von keinem dieser Bäume auch nur ein einziges Exemplar.

Nun hatte Dick Sand seinem Freunde Jack leider versprochen, ihm Kautschukbäume zu zeigen. Man kann sich also die arge Enttäuschung des kleinen Burschen vorstellen, der sich ja einbildete, daß auf solchen Bäumen gleich sprechende Babies, bewegliche Polichinells und elastische Ballons fix und fertig wüchsen. Er hielt mit seinen Klagen auch nicht zurück.

»Nur Geduld, mein kleines Männchen, tröstete ihn Harris, Deine Kautschukbäume werden wir in der Umgebung der Hacienda noch zu Hunderten antreffen.

– Recht schöne und elastische? fragte der kleine Jack.

– So elastisch wie nur irgend etwas sein kann. – Doch halt, möchtest Du wohl so eine schöne Frucht, um den Aerger zu vergessen?«

Harris pflückte bei diesen Worten schon von einem nahen Baume eine so saftige Frucht, wie eine Pfirsiche.

»Wissen Sie, Herr Harris, daß diese Früchte nicht schädlich sind? fragte Mrs. Weldon.

– Das kann ich versichern, Mistreß Weldon, antwortete der Amerikaner, der selbst eine solche Frucht anbiß. Das ist eine Mangofrucht.«[188]

Ohne sich viel bitten zu lassen, folgte der kleine Jack dem Beispiele Harris. Er erklärte, daß »die Birnen da« ausgezeichnet wären, und bald wurde der Baum herzhaft geplündert.

Diese Mangobäume gehörten derjenigen Species an, deren Früchte im März und April schon reisen, während andere erst im September eßbare Früchte tragen.

»Ei, das schmeckt schön, das schmeckt schön! rief der kleine Jack entzückt und mit vollem Munde. Mein Freund Dick hat mir aber Kautschukbäume versprochen, wenn ich recht artig wäre, und ich will nun auch Kautschukbäume.

– Du wirst ja welche finden, mein Jack, beruhigte ihn Mrs. Weldon. Herr Harris hat es Dir versprochen.

– Das ist noch nicht Alles, fuhr Jack fort, mein Freund Dick hat mir noch ganz andere Sachen versprochen.

– Was hat Dein Freund Dick denn zugesagt? fragte Harris lächelnd.

– Kolibris, Herr Harris!

– Du sollst auch noch Kolibris haben, mein Söhnchen, aber fern... fern von hier!« antwortete der Amerikaner.

Der kleine Jack hatte gewiß nicht so Unrecht, sich einige dieser reizenden Kolibris zu wünschen, denn er befand sich in einem Lande, wo es solche in Menge geben mußte. Die Indianer, welche die Federn dieser Vögel so kunstvoll zu behandeln verstehen, haben an die Edelsteine der gefiederten Welt die sinnigsten Namen verschwendet. Sie nennen sie z.B. die »Strahlen« oder die »Haare der Sonne«, hier flattert der »König der Blumen«, dort die »Himmelsblume, welche die irdischen Blüthen liebkost«. Daneben wiegt sich das »Sträußchen von Edelsteinen, das im Licht des Tages flimmert«. Man kommt zu dem Glauben, daß ihre rege Einbildungskraft für jede der fünfhundert Abarten, welche die Familie der Kolibris zählt, einen neuen poetischen Namen erfunden habe.

So zahlreich diese winzigen Vöglein aber in den Wäldern Bolivias auch hätten sein müssen, der kleine Jack mußte sich vorläufig mit Harris Versprechen genügen lassen. Nach der Aussage des Amerikaners befand man sich jetzt noch zu sehr in der Nähe der Küste, und die Kolibris lieben die dem Ocean benachbarten Wälder bekanntlich nicht. Die Gegenwart des Menschen verscheucht sie dagegen nicht, und auf der Hacienda sollte man den ganzen[189] Tag ihr »Teretere« hören und das dem Schnurren eines Spinnrades ähnliche Summen ihrer Flügel vernehmen.

»Ei, ich möchte schon dort sein!« rief der kleine Jack entzückt.

Das sicherste Mittel, die Hacienda bald zu erreichen, war nun gewiß darin zu sehen, daß man sich unterwegs möglichst wenig aufhielt. Mrs. Weldon und ihre Begleiter gönnten sich deshalb auch nur die unumgänglich nöthige Zeit zur Ruhe.

Die Umgebung wechselte ihr Aussehen. Zwischen den verstreuten Bäumen öffneten sich viele Lichtungen. Wo die Sonne den Gräserteppich durchdrang, zeigte sie den röthlichen Granit und Syenit des Bodens, welch' letzterer manchmal Platten von Lapis-lazuli ähnlich aussah.

Auf höheren Stellen wucherte die Sarsaparille, eine Pflanze mit fleischigen Höckern, welche einen fast unentwirrbaren Knäuel bildet. Alles in Allem hätte man doch dem Wald mit seinen schmalen Pfaden den Vorzug gegeben.

Noch vor Sonnenuntergang befand sich die Reisegesellschaft etwa acht Meilen von ihrem Ausgangspunkte entfernt. Die Wanderung war ohne Unfall, sogar fast ohne Beschwerden vor sich gegangen. Freilich hatte man nur den ersten Reisetag hinter sich und die folgenden Etappen konnten ja noch Hindernisse in Menge bieten.

Unter allseitiger Zustimmung machte man an der jetzt erreichten Stelle Halt. Hier sollte kein eigentliches Lager, sondern nur eine nothdürftige Schlafstätte eingerichtet werden. Ein einzelner Wachtposten, der von zwei zu zwei Stunden abgelöst wurde, mußte ja, da man weder wilde Menschen, noch reißende Thiere zu fürchten hatte, vollkommen genügen. Als Schutz fand man nichts Einladenderes als einen ungeheueren Mangobaum, dessen breite, dicht belaubte Zweige eine natürliche Veranda darstellten. Im Nothfalle hätte man in seiner Blätterkrone Nachtlager halten können.

Es erhob sich nur, als sich die kleine Gesellschaft näherte, in dem Gipfel des Baumes ein wahrhaft betäubender Lärm.

Der Mangobaum diente einer ganzen Kolonie geschwätziger, zänkischer, grauer Papageien zum Sammelplatze. Das sind sehr wilde Vögel, welche andere lebende Vögel anfallen, und man würde sehr irre gehen, wollte man sie mit ihren Anverwandten, welche man in Europa häufig in Käfigen hält, vergleichen.[190]

Diese Papageien plauderten mit einem solchen Geräusche, daß Dick Sand nicht übel Lust hatte, sie mit einer Schrotladung zu begrüßen, um sie entweder zum Schweigen zu bringen oder in die Flucht zu jagen. Harris redete ihm das aber unter dem Vorwande aus, daß es in diesen Einöden gerathen sei, niemals ohne Noth seine Gegenwart durch den Knall eines Gewehres zu verrathen.

»Wir wollen ohne jedes Geräusch dahinziehen, so werden wir ohne Gefahr an's Ziel gelangen.«

Das Abendbrot ward zubereitet, ohne daß man nöthig hatte, die Speisen erst zu kochen. Es bestand aus Conserven und Zwieback. Ein kleiner Bach, der sich durch das Gras schlängelte, lieferte trinkbares Wasser, welches man durch einige Tropfen Rum noch angenehmer zu machen wußte. Zum Dessert war ja der Mangobaum zur Hand mit seinen saftreichen, nahrhaften Früchten, welche die Papageien freilich nicht ohne lauten Protest abpflücken ließen.

Gegen das Ende der Mahlzeit ward es allmälig dunkel. Die Schatten erhoben sich langsam vom Erdboden nach den Gipfeln der Bäume, deren Kronen wie sein ausgeschnittene Bilder mit dem noch hellen Himmel contrastirten. Die ersten Sterne glichen mehr glänzenden Blüthen, die an den Ausläufern der letzten Zweige glimmten. Auch der Wind legte sich mehr und mehr und flüsterte nicht weiter im Gezweig. Selbst die Papageien waren stumm geworden. Die Natur bereitete sich zum Schlummer und lud jedes lebende Wesen ein, es ihr nachzuthun.

Die Vorbereitungen zum Nachtlager konnten natürlich nur sehr dürftig sein.

»Sollten wir für die Nacht nicht ein großes Feuer anzünden? fragte Dick Sand den Amerikaner.


Das Abendbrot ward zubereitet. (S. 191.)
Das Abendbrot ward zubereitet. (S. 191.)

– Wozu? antwortete Harris. Die Nächte sind hier nicht kalt und der weit ausgebreitete Mangobaum schützt den Boden auch noch außerdem vor jeder Verdunstung. Wir haben weder von zu kühler, noch von zu feuchter Luft etwas zu fürchten. Ich wiederhole Ihnen, mein junger Freund, was ich schon einmal sagte: Reisen wir incognito! Weder ein Feuer, noch einen Flintenschuß, wenn es zu umgehen ist.


Mit Ausnahme des wachehaltenden Riesen... (S. 195.)
Mit Ausnahme des wachehaltenden Riesen... (S. 195.)

– Ich glaube gern, ließ sich da Mrs. Weldon vernehmen, daß wir weder von Indianern und selbst von Waldläufern, deren Sie erwähnten, etwas[191] zu fürchten haben. Giebt es hier aber nicht auch vierfüßige Feinde, zu deren Verscheuchung ein Feuer sehr dienlich sein möchte?

– O, Mistreß Weldon, erwiderte der Amerikaner, Sie thun den wilden Thieren dieses Landstriches wahrlich zu viel Ehre an! Glauben Sie mir, sie fürchten hier den Menschen mehr, als dieser jene.[192]

– Wir sind aber in einem Walde, meinte Jack, und im Walde giebt es stets wilde Thiere.

– Ja, Wälder und Wälder, mein kleines Männchen, ist ein ebenso großer Unterschied, wie Thiere und Thiere! antwortete Harris lächelnd. Stell' Dir nur vor, Du wärest hier in einem großen Parke. Die Indianer sagen[193] von diesem Lande nicht ohne Grund: »Es como el Pariso!« – Es ist wie ein irdisches Paradies!

– Aber Schlangen sind doch hier? sagte Jack.

– Nein, mein Jack, versicherte Mrs. Weldon, hier giebt es keine Schlangen; Du kannst ganz ruhig schlafen.

– Oder Löwen?

– Nicht einen Schatten von Löwen, mein Söhnchen, beruhigte ihn Harris.

– Aber Tiger? fragte Jack weiter.

– Frage Deine Mama, ob sie je schon gehört hat, daß es in diesem Erdtheile Tiger gebe.

– Niemals, bestätigte Mrs. Weldon.

– Ganz recht, fiel hier Vetter Benedict ein, der ganz zufällig einmal bei einem Gespräche gegenwärtig war, wenn es in der Neuen Welt auch wirklich weder Löwen noch Tiger giebt, so trifft man darauf doch Kuguare und Jaguare genug.

– Sind das böse Thiere? fragte der kleine Jack.

– Pah! stieß Harris hervor, ein Eingeborner fürchtet sich nicht, diese Bestien anzugreifen, und wir sind ja gut bei Kräften. Wahrhaftig, Herkules wäre stark genug, zwei Jaguaren auf einmal den Garaus zu machen.

– Du wachst doch gut, Herkules, sagte der kleine Jack, und käme ein wildes Thier, um uns zu beißen...

– So beiße ich jenes dafür, Herr Jack! antwortete Herkules, indem er seinen mit prächtigen Zähnen ausgerüsteten Mund zeigte.

– Ja, Ihr mögt wachen, Herkules, sagte der Leichtmatrose, doch die Anderen und ich selbst werden Euch ablösen.

– Nein, Herr Dick, fiel Acteon ein, Herkules, Bat, Austin und ich, wir vier werden dazu vollkommen genug sein. Sie müssen während der Wacht Ruhe haben.

– Das ist von Euch recht gut gemeint, Acteon, erwiderte Dick Sand, doch es ist meine Pflicht...

– Nein, nein, gieb diesen braven Leuten nach, mein lieber Dick! bemerkte Mrs. Weldon.

– Ich, ich werde auch Wache stehen! meldete sich der keine Jack, dessen Augenlider sich schon langsam schlossen.[194]

– Ja wohl, mein Jack, ja wohl, Du sollst auch an die Reihe kommen! bestätigte seine Mutter, die ihm nicht widersprechen wollte.

– Aber, fügte der Knabe hinzu, wenn's im Walde keine Löwen und keine Tiger giebt, dann müssen wenigstens Wölfe darin sein!

– O, aber ganz komische Wölfe, antwortete der Amerikaner. Es sind das übrigens nicht einmal Wölfe, sondern mehr Füchse, eigentlich nur solche Waldhunde, welche man »Guaras« nennt.

– Nun, so ein Guara beißt aber? fragte der kleine Jack.

– Bah! für Dingo wäre es nur ein Bissen!

– Schadet nichts, lallte Jack noch einmal, diese Guaras sind doch Wölfe, weil man sie einmal so nennt!«

Friedlich schlummerte hierauf Jack in den Armen Nan's, die sich an den Stamm des Baumes lehnte, ein. Mrs. Weldon drückte noch einen Kuß auf die Stirne des zarten Knaben und bald schlossen sich auch ihre Augen zur nächtlichen Ruhe.

Wenige Minuten später führte Herkules den Vetter Benedict, der sich von der Jagd auf Pyrophoren zu weit hatte wegreißen lassen, nach der Lagerstatt zurück. Hier schwärmten nämlich jene »Cocuyos« oder Leuchtmücken umher, welche die eleganten Damen in ihrem Haarputz wie ebenso viele lebende Edelsteine anzubringen lieben. Diese Insecten, welche aus zwei, am Brustschilde befindlichen Drüsen ein lebhaftes, bläuliches Licht ausstrahlen, sind im südlichen Amerika sehr zahlreich. Vetter Benedict dachte eine reiche Ernte einzuheimsen, doch ließ ihm Herkules, trotz seiner Proteste, keine Zeit dazu, sondern brachte ihn nach dem Lagerplatze zurück. Hatte Herkules einmal einen Auftrag, so führte er ihn mit soldatischer Gewissenhaftigkeit aus, ein Umstand, der in diesem Falle gewiß eine große Menge von Leuchtfliegen vor der Einsperrung in die Blechbüchse des Entomologen rettete.

Einige Augenblicke später lagen mit Ausnahme des wachehaltenden Riesen Alle in süßer Ruhe.[195]

Quelle:
Jules Verne: Ein Kapitän von fünfzehn Jahren. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XXVII–XXVIII, Wien, Pest, Leipzig 1879, S. 181-196.
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