Achtzehntes Capitel.
Das entsetzliche Wort!

[211] Es war nun hohe Zeit, an's Ziel zu gelangen. Die äußerste Erschöpfung machte es Mrs. Weldon fast unmöglich, eine unter so furchtbaren Mühen und Beschwerden vor sich gehende Reise noch länger fortzusetzen. Der Anblick ihres kleinen Knaben mit seinem während des Fieberanfalles so rothen, und während der freien Zeit so todtenblassen Gesichtes berührte sie schmerzlich. Ihre unruhige Sorge erlaubte ihr nicht einmal, Jack der Pflege der guten Nan zu überlassen, sondern sie trug ihn stets selbst halbliegend im Arme.

Ja, es war höchste Zeit, nun anzukommen! Nach der Versicherung des Amerikaners sollte die kleine Gesellschaft indessen auch am Abend des eben anbrechenden Tages, am Abend dieses 18. April, endlich in der gastlichen Hacienda de San Felipe eintreffen.

Eine zwölftägige Reise, und zwölf unter freiem Himmel verbrachte Nächte, das mußte die Kräfte der Mrs. Weldon, trotz ihrer energischen Natur, doch zuletzt aufreiben. Für ein Kind war das natürlich noch schlimmer, und der Anblick des kleinen kranken Jack, dem es an der nothwendigsten Pflege fehlte, raubte ihr noch gänzlich die Ruhe. Dick Sand, Nan, Tom und seine Gefährten hatten die Mühseligkeiten der Reise besser überstanden.

Wenn die Lebensmittel nun auch zu Ende gingen, so hatte es doch niemals an dem Nöthigsten gefehlt.

Harris schien für die Beschwerden eines langen Weges durch die Wälder wie geschaffen; an ihm merkte man kaum eine Spur von Ermüdung. Nur glaubte Dick Sand zu bemerken, daß er, je näher man der Hacienda kam, minder unbefangen auftrat und sein Benehmen zurückhaltender wurde, während man doch eher das Gegentheil erwartet hätte. Das war wenigstens die Ansicht des jungen Leichtmatrosen, dessen Mißtrauen gegen den Amerikaner mehr und mehr zugenommen hatte. Und doch, welches Interesse konnte[211] Harris wohl daran haben, sie zu täuschen? Dick Sand vermochte sich das zwar nicht zu enträthseln, doch beobachtete er ihren Führer stets mit ängstlicher Genauigkeit.

Der Amerikaner bemerkte wahrscheinlich, daß Dick Sand ein wachsames Auge auf ihn hatte, und zweifelsohne war es dieses Mißtrauen, das ihn gegenüber seinem »jungen Freunde« mehr und mehr schweigsam machte.

Die Wanderung ward wieder angetreten.

In dem jetzt weniger dichten Walde standen die Bäume in Gruppen und bildeten keine undurchdringlichen Ansammlungen mehr. Erreichte man hier die wirkliche Pampa, von der Harris gesprochen hatte?

Die ersten Stunden des Tages vergingen, ohne daß irgend ein Ereigniß Dick Sand's Befürchtungen gesteigert hätte. Nur zweierlei fiel ihm auf. Vielleicht war Beides nur von untergeordneter Bedeutung, unter den gegebenen Verhältnissen aber erlangte jede Einzelheit für ihn eine gewisse Wichtigkeit.

Zunächst erregte das Benehmen Dingo's die besondere Aufmerksamkeit des jungen Leichtmatrosen.

Wenn der Hund früher immer einer Fährte nachzuspüren schien, so ward er jetzt, und zwar ganz plötzlich, ganz anders. Bisher schnüffelte er stets am Erdboden hin, durchstreifte das Gras und die Büsche, verhielt sich dabei schweigend oder ließ nur ein klägliches Bellen hören, das mehr der Ausdruck eines Schmerzes oder Bedauerns zu sein schien.

Heute schlug er dagegen laut, manchmal fast wüthend an, so wie damals als Negoro auf dem Verdeck des »Pilgrim« erschien.

In Dick Sand stieg sofort ein Verdacht auf, der noch mehr bestätigt wurde, als Tom zu ihm sagte:

»Das ist doch sonderbar, Herr Dick! Dingo schnüffelt heut nicht mehr an der Erde hin, wie er es noch bis gestern that. Er hebt die Nase und ist erregt; sein Fell sträubt sich auf! Man möchte sagen, er wittere von ferne...

– Negoro, nicht wahr? fiel Dick Sand ein, indem er den Arm des alten Negers ergriff und ihm andeutete, nur leise zu sprechen.

– Ja wohl, Negoro, Herr Dick, wäre es nicht denkbar, daß er unserer Fährte gefolgt wäre?[212]

– Gewiß, Tom, und noch dazu, daß er in diesem Augenblick nicht sehr entfernt ist.

– Aber... weshalb? sagte Tom.

– Entweder kannte Negoro dieses Land nicht, erwiderte Dick Sand, und dann lag es in seinem Interesse, uns nicht aus dem Gesichte zu verlieren...

– Oder?... fragte Tom, den Leichtmatrosen fast ängstlich anblickend.

– Oder, fuhr Dick Sand fort, er kannte es, und dann...

– Doch wie sollte Negoro diese Gegend kennen? Er hat sie niemals gesehen!

– Niemals gesehen? murmelte Dick Sand. Jedenfalls steht das Eine fest, daß Dingo sich so benimmt, als ob der von ihm gehaßte Mann sich uns genähert hätte!...«

Er unterbrach sich, um den Hund zu rufen, der nach einigem Zögern herbeikam.

»He, rief er, Negoro! Negoro!«

Ein wüthendes Bellen war Dingo's Antwort. Jener Name übte auf ihn den gewohnten Einfluß und er sprang voraus, als wäre Negoro hinter einem Gebüsche versteckt.

Harris hatte den ganzen Auftritt mit angesehen. Mit fest aufeinander gepreßten Lippen näherte er sich dem Leichtmatrosen.

»Was wollen Sie denn von Dingo? fragte er.

– O, eigentlich gar nichts, antwortete scherzend der alte Tom. Wir fragten ihn nur um Nachricht über unseren früheren Schiffsgenossen, der uns verschwunden ist.

– Ah so, entgegnete der Amerikaner, über jenen Portugiesen, den Schiffskoch, von dem Sie mir schon sprachen?

– Von demselben, bestätigte Tom; wenn man Dingo hört, möchte man glauben, daß Negoro in der Nähe sei.

– Wie hätte er hierher kommen sollen? antwortete Harris. So viel ich weiß, hat er dieses Land ja nie gesehen.

– Wenn er uns das nicht verschwiegen hat, meinte Tom.

– Das wäre doch sonderbar, sagte Harris. Doch wenn Sie wollen, suchen wir das Gebüsch ab. Es ist ja möglich, daß der arme Teufel Hilfe braucht, daß er in Noth ist...[213]

– Das ist wohl unnöthig, Herr Harris, lehnte Dick Sand ab. Wußte Negoro bis hierher zu gelangen, so wird er sich auch weiter zu finden wissen. Er ist der Mann dazu, sich aus der Verlegenheit zu helfen.

– Ganz wie Sie wünschen, antwortete Harris.

– Allons, Dingo, sei still!« rief Dick Sand dem Hunde befehlend zu, um dem Gespräch ein Ende zu machen.

Die andere, dem Leichtmatrosen auffallende Beobachtung bezog sich auf das Pferd des Amerikaners.

Es schien nicht, als ob dasselbe »den Stall röche«, wie man das an Pferden von seiner Race bemerkt. Es zog die Luft nicht begieriger ein, beeilte seinen Gang nicht, erweiterte nicht die Nase und stieß nicht jenes Wiehern aus, wodurch es das Ende einer Reise andeutet. Alles in Allem verhielt es sich ebenso indifferent, als ob die Hacienda, nach der es mehrmals gekommen war und die ihm einigermaßen bekannt sein mußte, noch Hunderte von Meilen entfernt wäre.

»Das ist kein Pferd, welches seine Behausung wittert!« dachte der junge Leichtmatrose.

Dennoch sollten, nach Harris' Angaben vom Tage vorher, nur noch sechs Meilen zurückzulegen sein, und von diesen letzten sechs Meilen waren um fünf Uhr Abends gewiß schon vier durchwandert. Sowie das Pferd nichts vom Stall roch, dessen es doch selbst recht nöthig bedurfte, so deutete auch kein anderer Umstand auf die Nähe einer großen Ansiedelung hin, wie die Hacienda de San Felipe es ja sein sollte.

Mrs. Weldon, der sonst Alles, was nicht ihr Kind betraf, so ziemlich gleichgiltig war, verwunderte sich doch über diese so öde Gegend. Wie! Nicht ein Ein geborner, kein Beamter, kein Knecht der Hacienda, die nun so nahe lag! Hätte Harris sich dennoch verirrt? Nein, er versicherte das Gegentheil. Eine weitere Verzögerung wäre für den kleinen Jack der Tod gewesen!

Harris schritt unverdrossen vorwärts; doch er schien sich im Walde umzusehen und nach rechts und links auszulugen, wie Jemand, der seiner selbst oder seines Weges nicht ganz sicher ist.

Mrs. Weldon schloß die Augen, um ihn nicht ferner zu sehen.[214]

Nach einer etwa eine Meile breiten offenen Ebene folgte wiederum Wald, wenn auch nicht so dicht wie im Westen, und die kleine Gesellschaft verschwand auf's Neue unter den großen Bäumen.

Gegen sechs Uhr Abends erreichte man ein Dickicht, durch das kurz vorher eine Anzahl großer Thiere gebrochen zu sein schienen.

Dick Sand faßte die ganze Umgebung scharf in's Auge.

In einer Höhe, weit über der des menschlichen Körpers, waren die Zweige geknickt oder abgerissen. Durch das niedergetretene Gras leuchtete der Boden, der ein wenig sumpfig war, und dabei sah man die Abdrücke von Tatzen, welche Jaguaren oder Couguaren nicht angehören konnten.

Waren es nun »Ais« oder andere Faulthiere gewesen, die den Erdboden so gezeichnet hatten? Wie sollte man dann aber das Abbrechen der Zweige in so großer Höhe erklären?

Elefanten hätten wohl dergleichen Fußspuren hinterlassen und eine solche Oeffnung in das Dickicht reißen können. Elefanten giebt es aber in Amerika nicht. Diese ungeheueren Dickhäuter gehören der Neuen Welt nicht weder ursprünglich an, noch hat man sie jemals daselbst acclimatisirt.

Die Hypothese, daß hier Elefanten vorüber gekommen seien, erschien also ganz unzulässig.

Was hier auch vorlag, jedenfalls machte Dick Sand Niemand von seinen Gedanken über diese unerklärliche Erscheinung Mittheilung. Er fragte hierüber nicht einmal den Amerikaner. Wessen hatte er sich auch von einem Manne zu versehen, der versucht hatte, ihm Giraffen für Strauße auszugeben? Harris hätte gewiß irgend eine mehr oder weniger plausible Erklärung bei der Hand gehabt, die an der gegebenen Lage doch nichts zu ändern im Stande war.

Doch wie dem auch sei, Dick Sand's Urtheil über Harris stand nun fest. Er sah ihn für das, was er war, für einen Verräther an! Er wartete nur noch auf die Gelegenheit, seine Nichtswürdigkeit vollständig zu beweisen, und Alles verrieth ihm, daß diese Gelegenheit nicht mehr fern sein könne.

Was konnte aber Harris' heimlicher Endzweck sein? Welches Schicksal stand den Ueberlebenden vom »Pilgrim« wohl bevor? Dick Sand sagte sich wiederholt, daß seine persönliche Verantwortlichkeit mit dem Schiffbruche noch nicht zu Ende sei.


Es lagen dort auf der Erde abgeschnittene Hände. (S. 219.)
Es lagen dort auf der Erde abgeschnittene Hände. (S. 219.)

Ihm lag es jetzt fast mehr als je ob, für das Heil[215] Derjenigen zu sorgen, welche das Unglück auf diese Küste geworfen hatte: diese Frau, das junge Kind, jene Neger, alle seine Schicksalsgefährten erwarteten ihre Rettung allein von ihm. Wenn er aber auch im Stande gewesen war, auf dem Schiffe so Manches für sie zu leisten, so lange er als Seemann auftrat, was sollte er hier gegenüber den ihnen noch drohenden Gefahren beginnen?


Dick Sand, das Jagdmesser in der Hand.... (S. 221.)
Dick Sand, das Jagdmesser in der Hand.... (S. 221.)

[216] Dick Sand wollte vor der entsetzlichen Wirklichkeit, welche jeden Augenblick an sie herantreten konnte, die Augen nicht verschließen. War er auf dem »Pilgrim« der Kapitän von fünfzehn Jahren gewesen, in der jetzigen Noth ward er es wieder! Er wollte jedoch nichts sagen, was die arme Mutter ängstigen konnte, bevor für ihn der Augenblick zum Handeln gekommen wäre.[217]

Und er sagte nichts, selbst als er am Ufer eines ziemlich breiten Flusses, der etwa hundert Schritte vor den Wanderern lag, eine Anzahl ungeheuerer Thiere unter dem Gesträuch des Flußrandes verschwinden sah.

»Flußpferde! Flußpferde!« wollte er ausrufen.

In der That, es waren solche Pachydermen mit enormem Kopfe und dicker Schnauze, deren Mundöffnung mit über fußlangen Zähnen bewaffnet ist, mit den kurzen kräftigen Beinen und der haarlosen, rothbraunen Haut! Flußpferde in Amerika!

Mit großer Mühe wanderte man auch diesen Tag weiter. Die Anstrengung lähmte allmälig auch die Kräftigsten. Es war wirklich hohe Zeit, an's Ziel zu gelangen, oder man mußte sich zu einem längeren Aufenthalt entschließen.

Die einzig mit ihrem Jack beschäftigte Mrs. Weldon fühlte zwar die Ermüdung nicht, doch ihre Kräfte waren vollständig erschöpft. Mehr oder weniger abgemattet waren Alle. Dick Sand hielt eine wahrhaft übernatürliche Energie, eine Folge seines strengen Pflichtgefühls, noch aufrecht.

Gegen vier Uhr Nachmittags fand der alte Tom im Grase einen Gegenstand, der seine Aufmerksamkeit erregte. Es war eine Waffe, eine Art Messer von besonderer Gestalt, mit breiter, gebogener Klinge, welche in einem grob verzierten Handgriffe von Elfenbein befestigt war.

Tom brachte Dick Sand dieses Messer. Letzterer prüfte es und zeigte es zuletzt dem Amerikaner, indem er sagte:

»Ohne Zweifel sind nun Eingeborne in der Nähe.

– Ja, wahrhaftig, antwortete Harris, und doch...

– Doch? wiederholte Dick Sand und sah Harris scharf in's Gesicht.

– Wir müßten jetzt eigentlich bei der Hacienda sein, fuhr Harris zögernd fort, und doch erkenne ich nicht...

– Sie haben sich also doch verirrt? fragte Dick Sand schnell.

– Verirrt, nein... Die Hacienda kann jetzt keine drei Meilen weit von uns sein. Ich dachte aber, durch den Wald den nächsten Weg einzuschlagen, und daran that ich vielleicht unrecht.

– Vielleicht, antwortete Dick Sand.

– Es wird am Besten sein, ich gehe allein voraus, sagte Harris.

– Nein, Herr Harris, erwiderte Dick Sand in entschiedenem Tone wir trennen uns jetzt nicht![218]

– Ganz wie Sie wünschen, lenkte der Amerikaner ein. Während der Nacht würde ich Sie jedoch schwerlich weiter führen können.

– Das thut nichts, antwortete Dick Sand, so machen wir noch einmal Halt. Mistreß Weldon wird nichts dagegen haben, noch eine Nacht unter freiem Himmel zuzubringen, und morgen am hellen Tage setzen wir unseren Weg fort. Noch zwei oder drei Meilen, das wird in etwa einer Stunde abgemacht sein.

– Meinetwegen!« erwiderte Harris.

Da ließ Dingo ein wüthendes Bellen hören.

»Hierher, Dingo, hier! rief Dick Sand, Du weißt, daß hier Niemand ist und wir in der Einöde wandern!«

Man entschloß sich also zu diesem letzten Halt. Mrs. Weldon ließ ihre Gefährten schalten, ohne ein Wort dazu zu sagen.

Der vom Fieber ergriffene kleine Jack ruhte in ihren Armen.

Man suchte die geeigneteste Stelle zu einem Nachtlager.

Unter einer großen Baumgruppe gedachte Dick Sand die nöthigen Vorbereitungen zum Ausruhen zu treffen. Da hielt der alte Tom, der ihm bei seiner Arbeit half, ihn plötzlich an und rief:

»Herr Dick! Sehen Sie da!

– Was giebt's, mein alter Tom? fragte Dick Sand mit dem ruhigen Tone eines Mannes, der auf Alles gefaßt ist.

– Da... da..., flüsterte Tom, unter jenen Bäumen... Blutspuren!... Und dort... auf der Erde... verstümmelte Gliedmaßen!...«

Dick Sand eilte nach der vom alten Tom bezeichneten Stelle. Dann kam er zurück und sagte:

»Schweig' Tom, schweig' nur jetzt!«

Wirklich lagen dort auf der Erde abgeschnittene Hände und neben diesen menschlichen Ueberresten einige zerbrochene Zwingen und eine gesprengte Kette.

Zum Glück hatte Mrs. Weldon dieses grausige Bild nicht gesehen.

Harris hielt sich bei Seite, und wer ihn jetzt beobachtet hätte, würde über die Veränderung betroffen gewesen sein, die mit ihm vorgegangen war. Aus seinem Antlitz sprach eine trotzige Wildheit.

Dingo war Dick Sand nachgelaufen und bellte wüthend vor diesen blutigen Ueberbleibseln.[219]

Der Leichtmatrose hatte große Mühe, ihn davon wegzutreiben.

Der alte Tom stand beim Anblick dieser Zwingen und der zersprengten Kette unbeweglich da, als seien seine Füße im Erdboden festgewurzelt. Die Augen weit geöffnet, die Hände krampfhaft geballt, starrte er darauf hin und murmelte unzusammenhängende Worte.

»Ich sah sie... ich sah sie schon früher... diese Zwingen... noch ganz klein... da hab' ich sie gesehen!...«

Offenbar erwachten in ihm wieder einige dunkle Erinnerungen aus seiner frühesten Kindheit. Er wollte sprechen.

»Schweig', lieber Tom! wiederholte Dick Sand, um Mistreß Weldon, um unser Aller willen, schweig'!«

Der Leichtmatrose führte den alten Tom weg

In einiger Entfernung wurde ein anderer Platz ausgewählt und Alles für die Nacht vorbereitet.

Eine Mahlzeit ward aufgetragen, doch kaum angerührt. Die Ermüdung besiegte den Hunger. Alle unterlagen dem unerklärlichen Eindrucke einer Unruhe, welche fast an Schrecken grenzte.

Allmälig sank die Dunkelheit herab. Bald war es tiefe Finsterniß. Der Himmel hatte sich mit mächtigen Gewitterwolken bedeckt. Am westlichen Horizonte sah man zwischen den Bäumen manchmal etwas Wetterleuchten. Der Wind hatte sich gelegt, kein Blättchen rührte sich in den Bäumen. Auf das Geräusch des Tages folgte eine Todtenstille; man hätte glauben mögen, die von Elektricität gesättigte, bleischwere Atmosphäre sei nicht mehr im Stande, Schallwellen fortzupflanzen.

Dick Sand, Austin und Bat wachten miteinander. Sie bemühten sich, in der dunklen Nacht zu sehen und zu hören, ob irgend ein Lichtschein, irgend ein verdächtiges Geräusch ihre Augen oder Ohren träfe. Nichts unterbrach indeß weder die Ruhe, noch die Finsterniß des Waldes. Tom, der weniger erschöpft, als in seine Erinnerungen versunken war, blieb unbeweglich, als hätte ihn ein Blitzstrahl getroffen.

Mrs. Weldon wiegte ihr Kind im Arme und hatte keine Gedanken für etwas Anderes.

Vetter Benedict war vielleicht der Einzige, welcher schlief, da sich auf ihn die allgemeine Stimmung nicht übertrug. So weit ging sein Vorgefühl eben nicht.[220]

Plötzlich gegen elf Uhr ertönte ein langes, dumpfes Gebrüll, dem sich ein scharfer, lauter Ton beimischte.

Tom sprang auf und wies mit der Hand nach einem höchstens eine Meile entfernten dichten Gebüsche.

Dick Sand ergriff seinen Arm, konnte aber nicht hindern, daß Tom noch mit lauter Stimme ausrief:

»Der Löwe! der Löwe!«

Das Brüllen, welches er in seiner Kindheit so oft gehört, mußte der alte Neger wohl wieder erkennen!

»Der Löwe!« sagte er noch einmal.

Dick Sand vermochte sich nicht länger zu bemeistern, sondern stürzte, das Jagdmesser in der Hand, nach dem Platze, den Harris einnahm.

Harris war nicht mehr da und sein Pferd mit ihm verschwunden.

In Dick Sand's Geiste ward es jetzt vollständig Tag... er war nicht, wo er zu sein glaubte!

Es war also die amerikanische Küste nicht, an der der »Pilgrim« aus Land kam. Auch die Osterinsel konnte es nicht gewesen sein, nach der der Leichtmatrose seine Position im Meere draußen bestimmt hatte, sondern irgend eine andere Insel, welche etwa ebenso im Westen des Continentes liegen mußte, wie die Osterinsel im Osten von Amerika!

Während eines Theiles der Reise täuschte ihn der Compaß, wovon wir ja die Ursache kennen. Vom Sturm in falscher Richtung verschlagen, hatte er das Cap Horn umschifft und war aus dem Stillen Ocean in den Atlantischen gekommen. Ohne sein Wissen segelte das Schiff, dessen Geschwindigkeit er nur mangelhaft zu bestimmen vermochte, von dem furchtbaren Orkane getrieben, noch einmal so schnell, als er geglaubt hatte.

Deshalb also fehlten die Kautschuk- und Chinabäume, die Erzeugnisse Südamerikas in diesem Lande, das weder das Plateau von Atacama, noch die Pampa von Bolivia war!

Giraffen waren es gewesen und keine Strauße, wel che nahe der Waldlichtung entflohen, Elefanten, welche durch das dichte Buschwerk brachen! Flußpferde, deren Ruhe im hohen Grase Dick Sand gestört hatte. Die Tetse war es, die Diptere, welche Vetter Benedict gefangen, die furchtbare Tetse, deren Stich die Thiere der Karawanen tödtet.[221]

Das Brüllen des Löwen endlich war es gewesen, das eben aus dem Walde dröhnte! Und diese Zwingen, diese Kette, das eigenthümliche Messer, das waren Werkzeuge eines Sklavenhändlers. Jene verstümmelten Hände gehörten einst unglücklichen Gefangenen an!

Der Portugiese Negoro und der Amerikaner Harris standen offenbar im Einvernehmen.

Endlich kamen die schrecklichen Worte – die Erfüllung einer Ahnung Dick Sand's – über seine Lippen:

»Afrika! Das äquatoriale Afrika! Das Afrika der Menschenhändler und Sklaven!«[222]

Quelle:
Jules Verne: Ein Kapitän von fünfzehn Jahren. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XXVII–XXVIII, Wien, Pest, Leipzig 1879, S. 211-223.
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