Siebenzehntes Capitel.
Auf der Fahrt.

[417] Herkules, der unter seiner Verkleidung als Magiker nicht erkennbare Neger war es, der also sprach, und Dick war es, an den er jene Worte richtete – ja, Dick Sand, der sich vor Schwäche freilich noch auf Vetter Benedict stützen mußte, neben welchem Dingo lagerte.

Als Mrs. Weldon wieder zum Bewußtsein kam, vermochte sie nur die Worte zu stammeln: »Du, Dick, Du!«

Der junge Leichtmatrose erhob sich, doch Mrs. Weldon preßte ihn in ihre Arme und überhäufte ihn mit Liebkosungen.

»Mein Freund Dick! Mein Freund Dick!« wiederholte der kleine Knabe immer.[417]

Dann wandte er sich gegen Herkules.

»Und Dich, sagte er, Dich hab' ich nicht einmal erkannt!

– Ja, das nennt man aber auch eine Verkleidung! antwortete Herkules, der die weißen Streifen wieder von seiner Brust abzureiben suchte.

– Du sahst gar zu häßlich aus, meinte der kleine Jack.

– Ei, ich war ja der Teufel, und der Teufel kann nicht schön aussehen!

– Herkules! sagte Mrs. Weldon, indem sie dem braven Neger die Hand reichte.

– Er hat Sie befreit, fiel Dick Sand ein, wie er mich gerettet hat, obwohl er es nicht zugestehen will.

– Gerettet! gerettet! Das sind wir jetzt noch nicht. Uebrigens wäre ohne Herrn Benedict, der hierher kam und uns mittheilte, wo Sie sich befänden, Mistreß Weldon, nicht das Geringste anzufangen gewesen!«

Herkules war es nämlich gewesen, der vor fünf Tagen auf den Gelehrten zusprang, als dieser schon zwei Meilen von der Factorei, auf der Jagd nach der kostbaren Manticore, durch den Wald trabte. Ohnedem hätten weder Dick Sand noch der Neger von dem Aufenthalt der Mrs. Weldon Kenntniß gehabt und Herkules konnte sich auch nicht als falscher Zauberer nach Kazonnde hineinwagen.

Während nun das Boot mit großer Schnelligkeit in dem hier sehr eingeengten Flußbett hinabglitt, erzählte Herkules, was sich seit seiner Flucht vom Lager an der Coanza ereignet hatte; wie er der Kitannda, in der er Mrs. Weldon und ihren Sohn wußte, ungesehen gefolgt sei; wie er Dingo verwundet wiedergefunden habe und beide in der Nachbarschaft von Kazonnde angekommen seien; wie ferner ein Zettel von Herkules Dick Sand unterrichtet habe, was aus Mrs. Weldon geworden wäre; wie er nach dem unverhofften Zusammentreffen mit Vetter Benedict vergebens in die strenger als bisher bewachte Factorei einzudringen versucht, und wie er endlich die Gelegenheit fand, sie dem schrecklichen Jose-Antonio Alvez zu entführen. Diese Gelegenheit hatte sich erst an dem nämlichen Tage geboten. Ein Mganuga, auf einer Zauberer-Rundreise begriffen, derselbe, welcher von der Königin so ungeduldig erwartet wurde, kam früh Morgens durch den Wald, in dem Herkules jede Nacht spähend und lauschend umherlief. Auf den Magiker losspringen, ihn seines Apparates zu erleichtern und seiner Hexenmeister-Kleidung zu berauben[418] und jenen mit unlösbaren Knoten mittelst Lianen an einen Baum binden, sich den Körper zu bemalen, wobei der Magiker als Modell dienen mußte, und dessen Rolle zur Beschwörung des unablässigen Regens zu übernehmen – das Alles war das Werk weniger Stunden; freilich gehörte die grenzenlose Leichtgläubigkeit der Eingebornen dazu, diesen Mummenschanz durchzuführen.

In dieser ganzen Erzählung, welche Herkules ziemlich schnell berichtete, war von Dick Sand in keiner Weise die Rede.

»Und Du, Dick? fragte deshalb Mrs. Weldon.

– Ich, Mistreß Weldon, antwortete der junge Leichtmatrose, ich habe Ihnen nichts zu erzählen. Mein letzter Gedanke galt Ihnen und dem kleinen Jack! Vergeblich suchte ich die Fesseln zu sprengen, die mich an dem Todespfahl festhielten... Dann stieg mir das Wasser über den Kopf... ich verlor das Bewußtsein.... Als ich wieder zu mir kam, sah ich mich in einer von Papyrusblättern gedeckten Versenkung am Ufer dieses Flusses, und Herkules vor mir knieend, der mich mit größter Sorgfalt pflegte.

– Potz tausend, weil ich eben Heilkünstler bin, warf Herkules ein, Wahrsager, Zauberer, Magiker, Zukunftsdeuter!...

– Sagt mir, Herkules, fragte Mrs. Weldon, wie es Euch möglich wurde, Dick Sand zu retten?

– Hab' ich denn das gethan, Mistreß Weldon? entgegnete Herkules; hat nicht die Strömung den Pfahl umreißen können, an den unser Kapitän gebunden war, und ihn im Dunkel der Nacht eben auf jenem Balken unbemerkt wegführen können, bis ich ihn auf jenem halbtodt entdeckte? War es denn bei der Finsterniß so schwierig, sich mitten unter die Opfer, welche den Boden des Grabes auskleideten, zu schleichen, die Durchstechung des Dammes abzuwarten und beim Steigen des Wassers heimlich den Pfahl zu lockern und auszureißen, an den die Schurken unsern Kapitän gebunden hatten? Dabei ist doch nichts so Besonderes! Das hätte der erste Beste auch gethan. Ich wette, selbst Herr Benedict, im schlimmsten Falle sogar Dingo! Wahrhaftig, warum könnte es denn nicht Dingo ausgeführt haben?...«

Da ließ sich ein leises Kläffen hören; Jack faßte den großen Kopf des Hundes und streichelte ihn sanft. Dann sagte er:

»Sprich, Dingo, hast Du unsern Freund Dick gerettet?«

Gleichzeitig bewegte er den Kopf des Hundes von links nach rechts.[419]

»Da, er sagt Nein, Herkules! fuhr Jack fort. Du siehst nun wohl, daß er es nicht gewesen ist. – Nun aber, Dingo, war es Herkules, der unsern Kapitän vom Tode gerettet hat?«

Der Knabe bewegte den schönen Kopf Dingo's fünf- bis sechsmal auf und ab.

»Er sagt Ja, Herkules! Er sagt Ja! rief der kleine Jack. Du siehst wohl ein, daß Du es selbst gewesen bist!

– Freund Dingo, erwiderte Herkules, den Hund liebkosend, das ist nicht hübsch von Dir. Du hast ja versprochen, mich nicht zu verrathen!«

In der That, Herkules hatte sein Leben für das Dick Sand's eingesetzt. Doch das lag nun einmal so in seiner Natur und seine Bescheidenheit erlaubte ihn nicht, davon zu sprechen. Uebrigens fand er die Sache so einfach, und wiederholte, daß Keiner seiner Gefährten gezögert haben würde, unter den gegebenen Umständen ebenso zu handeln, wie er es gethan habe.

Das veranlaßte Mrs. Weldon, nach dem alten Tom, dessen Sohn, Acteon und Bat, ihren unglücklichen Begleitern, zu fragen.

Sie waren nach dem Gebiet der großen Seen abgereist. Herkules hatte sie mit der Sklaven-Karawane fortziehen sehen. Er war ihnen zwar eine große Strecke gefolgt, doch wollte sich nie eine Gelegenheit bieten, mit ihnen in Verbindung zu treten Sie waren fort! Sie waren verloren!

Dem früheren heiteren Lachen Herkules' folgten jetzt schwere Thränen, die er auch nicht zu verbergen suchte.

»Weint nicht, mein Freund, sprach ihm Mrs. Weldon zu; wer weiß, ob Gott uns nicht die Gnade gewährt, sie einst doch noch wiederzusehen.«

Wenig Worte genügten, um Dick Sand von dem in Kenntniß zu setzen, was sich während des Aufenthaltes der Mrs. Weldon in der Factorei von Alvez zugetragen hatte.

»Vielleicht, fügte sie hinzu, wäre es besser gewesen, in Kazonnde auszuharren...

– O, über mich Tölpel! rief Herkules.

– Nein, Herkules, nein! entgegnete Dick Sand. Jene Elenden hätten Mittel und Wege gefunden, Mrs. Weldon in irgend welche Falle zu locken! Fliehen wir vereint und ohne Zögern! Wir werden an der Küste ankommen, bevor Negoro nach Mossamedes zurück sein kann. Dort[420] leihen uns die portugiesischen Behörden ihre Hilfe und Unterstützung, und wenn Alvez sich dann einstellt, seine einhunderttausend Dollars in Empfang zu nehmen...

– So wird der alte Schurke einhunderttausend Stockhiebe über den Schädel erhalten! rief Herkules; ich verpflichte mich, die letzte Rechnung mit ihm abzuschließen!«

Konnte Mrs. Weldon auch gar nicht daran denken, nach Kazonnde zurückzukehren, so bildete ihre vorher getroffene Verabredung doch eine gewisse Erschwerung der Flucht. Vor Allem galt es, Negoro zuvorzukommen. Alle weiteren Projecte Dick Sand's mußten dieses Ziel im Auge haben.

Endlich kam nun Dick Sand's lang gehegter Plan, die Meeresküste mittelst eines Flusses oder Stromes zu erreichen, zur Ausführung. Jetzt war der Wasserlauf da, seine Strömung verlief nach Norden und es hatte einige Wahrscheinlichkeit für sich, daß derselbe sich in den Zaïre ergießen möchte. In diesem Falle würden Mrs. Weldon und die Ihrigen statt in San Pablo de Loanda freilich an der Mündung dieses großen Stromes anlangen; das verschlug ihnen jedoch nicht viel, da auch in den Kolonien Unter-Guineas ja auf einige Hilfe zu rechnen war.

Als Dick Sand sich dafür entschieden hatte, jenen Fluß hinabzufahren, war es sein erster Gedanke, eine Art Floß von Stämmen und Zweigen zu benützen, etwa eine schwimmende Insel, wie man sie auf den afrikanischen Strömen ziemlich häufig antrifft und von denen bei Cameron wiederholt die Rede ist.

Als Herkules aber während der Nacht am Flußufer umherspähte, fand er ein wirkliches Boot, welches führerlos den Strom hinabschwamm. Ein besseres Fahrzeug hätte Dick Sand sich gar nicht wünschen können, und der Zufall hatte ihn hierbei wirklich ausnehmend begünstigt. Es gehörte jenes nämlich keineswegs zu den schmalen Barken, wie sich die Eingebornen solcher gewöhnlich bedienen. Die Länge der von Herkules entdeckten Pirogue überschritt wohl 9 Meter bei einer Breite von über 1 Meter; derlei Boote sieht man, von zahlreichen Ruderern getrieben, auf den großen Seen oft pfeilschnell dahinschießen.

Mrs. Weldon und ihre Begleiter fanden also ausreichend Platz in jenem, und man brauchte es nur mittelst eines Bootsriemens einigermaßen zu steuern, um bequem mit der Strömung flußabwärts zu gelangen.[421]

Anfangs hatte Dick Sand, um möglichst ungesehen zu bleiben, die Absicht, nur in der Nacht zu reisen. Benutzte man von vierundzwanzig Stunden aber nur zwölf, so verdoppelte man offenbar die Dauer einer an und für sich nicht gefahrlosen Fahrt, welche ja ohnedies lange genug währen mußte. Glücklicher Weise kam Dick Sand auf den Gedanken, die Pirogue mit einem Dache aus langen, durch eine Stange gehaltenen Zweigen so zu bedecken, daß auch der Bootsriemen nicht sichtbar war. Man konnte das Ganze recht wohl für einen Haufen Aeste und Zweige halten, der mitten unter anderen schwimmenden Inseln dahinfloß. Die Herstellung dieses natürlichen Daches gelang auch so ausgezeichnet, daß sich selbst Vögel dadurch täuschen ließen, und oft setzten sich rothschnäblige Möven, schwarzgefiederte »Arrhingos« oder grüne oder weiße Papageien auf dasselbe, um einige Körner zu naschen.

Außerdem bildete dieses Dach einen vorzüglichen Schutz gegen die Sonnengluth. Eine unter diesen Verhältnissen unternommene Reise versprach also, wenn auch nicht ohne Gefahr, doch mindestens ohne besondere Anstrengung zu verlaufen.

Jedenfalls nahm die Fahrt eine ziemliche Zeit in Anspruch und mußte man sich täglich mit der nöthigen Nahrung zu versehen suchen. Gewährte der Fischfang diese nicht, so trat die Nothwendigkeit ein, am Flußufer zu jagen, und Dick Sand besaß als Feuerwaffe nur das eine Gewehr, welches Herkules nach dem Angriffe auf den Termitenbau mitgenommen hatte. Dafür bemühte er sich desto mehr, keinen Schuß vergeblich abzufeuern. Manchmal konnte er wohl auch aus der Bootshütte heraus durch die Wand von Zweigen schießen, wie der Hüttenjäger durch die Oeffnung seiner Hütte.

Inzwischen floß die Pirogue den Fluß mit einer Geschwindigkeit hinab, welche Dick Sand auf nicht weniger als zwei Meilen in der Stunde schätzte. Er rechnete also darauf, zwischen zwei Sonnenaufgängen eine Entfernung von fünfzig Meilen zurückzulegen. Gerade diese schnelle Strömung verlangte auch eine erhöhte Aufmerksamkeit, um etwaigen Hindernissen, wie Felsen, Baumstämmen oder Untiefen, rechtzeitig auszuweichen. Dazu lag auch die Befürchtung nahe, daß diese Strömung später in Stromschnellen, vielleicht gar in die Form von Wasserfällen übergehen könnte, was bei afrikanischen Flüssen ja sehr häufig der Fall ist.[422]

Dick Sand, dem die Freude, Mrs. Weldon und ihr Kind wiederzusehen, die Kräfte schnell wiedergegeben hatte, nahm im Vordertheil der Pirogue Platz. Durch das lang herabhängende Gras und Laub beobachtete er den Fluß vor sich und bezeichnete Herkules, der den langen Bootsriemen führte, durch Worte oder durch Gesten, was er thun sollte, um das Fahrzeug auf dem richtigen Wege zu erhalten.

In Gedanken vertieft, lag Mrs. Weldon in der Mitte auf einem Lager von Blättern. Vetter Benedict saß schweigend, manchmal die Stirn runzelnd, wenn er Herkules sah, dem er wegen seines Dazwischentretens bei der Jagd auf die Manticore noch immer zürnte, da neben und dachte an seine verlornen Sammlungen, an seine entomologischen Notizen, deren Werth die Bewohner von Kazonnde kaum zu schätzen wissen würden. Er streckte die langen Beine von sich, kreuzte die Arme auf der Brust und machte dann und wann instinctiv eine Bewegung, als wolle er die Brille, welche ja seiner Nase schon so lange fehlte, auf die hohe Stirn rücken. Der kleine Jack sah wohl ein, daß er hier keinen Lärmen verursachen dürfe; da es jedoch nicht verboten war, sich zu bewegen, so lief er mit seinem Freunde Dingo um die Wette von einem Ende des Bootes zum anderen.

Während der ersten zwei Tage entnahmen Mrs. Weldon und ihre Begleiter alle die nöthige Nahrung aus den Vorräthen, die Herkules sich vor der Abfahrt zu verschaffen gewußt hatte. Dick Sand ließ also nur wenige Stunden in der Nacht anhalten, um sich einige Ruhe zu gönnen. Er ging vorläufig jedoch nicht an's Land und wollte nur, wenn die Nothwendigkeit, neue Provisionen zu besorgen, an ihn heranträte, das Fahrzeug verlassen.

Der Anfang dieser Reise auf einem völlig unbekannten Flusse von oft nicht mehr als vierzig Meter Breite, wurde durch keinerlei Zwischenfall unterbrochen. Mehrere schwimmende Inseln trieben auf jenem mit der nämlichen Geschwindigkeit wie das Boot dahin. So lange sie also kein unerwartetes Hinderniß aufhielt, brauchte man einen Zusammenstoß mit denselben nicht zu fürchten.

Die Ufer erschienen übrigens vollkommen menschenleer. Offenbar wurden diese Theile des Gebietes von Kazonnde von den Eingebornen sehr wenig besucht.


Nach zwei Stunden war die Sperrung durchbrochen. (S. 426.)
Nach zwei Stunden war die Sperrung durchbrochen. (S. 426.)

Am Flußrande wucherten wildwachsende Pflanzen in großer Menge und schmückten diesen mit lebhaften Farben. Asclepias, Schwertlilien, Lilien,[423] wilder Wein, Balsaminen, Umbelliferen, Aloës, baumartige Farren und wohlriechende Sträucher bildeten eine Einrahmung von unvergleichlicher Pracht.


Die Elefanten wollten ihren Durst löschen. (S. 428)
Die Elefanten wollten ihren Durst löschen. (S. 428)

Da und dort badeten auch Wälder ihren Rand in dem schnell dahineilenden Wasser. Copalbäume, Akazien mit streifigen Blättern, »Bauhinias« mit eisenfestem Holze, deren Stämme an der den kältesten Winden ausgesetzten Seite dick mit Moos überzogen waren, Feigenbäume, auf Wurzelstämmen[424] wie auf Grundpfeilern gleich den Magnolien thronend, und noch andere prächtige Baumarten neigten sich über die Uferwand. Wenn dann ihre Gipfel bei dreißig und noch mehr Meter Höhe einander trafen, bildeten sie ein grünes Laubdach, das kaum ein Sonnenstrahl zu durchdringen vermochte. Ost entstand auch eine große Brücke von Lianen von einem Ufer zum anderen und im Laufe des 27. sah der kleine Jack zu seiner größten[425] Ueberraschung über diesen Pflanzenpfad eine Heerde Affen ziehen, welche sich gegenseitig an den Schwänzen hielten, für den Fall, daß jener unter ihrer Last in Stücke ging.

Diese Affen, zu den kleinen Schimpansen gehörig, die in Central-Afrika den Namen »Sokos« erhalten haben, bilden eine sehr häßliche Familie des Affengeschlechts, mit niedriger Stirn, hellgelblichem Gesicht und hoch oben stehenden Ohren. Sie leben in Gesellschaft von etwa einem Dutzend beisammen, bellen wie wilde Hunde und werden sehr gefürchtet von den Eingebornen, deren Kinder sie nicht selten rauben und zerkratzen oder jämmerlich beißen. Beim Passiren jener Lianenbrücke ahnten sie offenbar gar nicht, daß unter dem Laub- und Reisighaufen, den der Strom dahintrieb, sich auch ein kleiner Knabe befand, mit dem sie gewiß gern ihr Spiel getrieben hätten. Das von Dick Sand erdachte Fortschaffungsmittel war so täuschend hergestellt, daß selbst jene scharfsichtigen Vierfüßler sich davon täuschen ließen.

Zwanzig Meilen weiter ward das Boot noch an demselben Tage plötzlich aufgehalten.

»Was giebt es? fragte Herkules, der noch immer bei dem Bootsriemen stand.

– Eine Wegversperrung, antwortete Dick Sand, aber eine natürliche.

– So müssen wir sie durchbrechen, Herr Dick!

– Gewiß, Herkules, und zwar mit der Axt. Schon haben verschiedene Inseln darangestoßen, aber sie hat genug Widerstand geleistet.

– An's Werk also mein Kapitän, an's Werk!« mahnte Herkules, der im Vordertheil der Pirogue erschien.

Die betreffende Barre bestand aus zähem Grase mit glänzenden Halmen, welche sich durch Zusammenpressen selbst verfilzen und sehr widerstandsfähig werden. Man nennt dasselbe »Tikatika« und es gestattet nicht selten, Wasserläufe trockenen Fußes zu überschreiten, wenn man nicht davor zurückschreckt, in das Pflanzengewirr manchmal ziemlich tief einzusinken. Die Oberfläche der hier vorliegenden Barre war übrigens mit den schönsten Verzweigungen von Lotosblumen bedeckt.

Es wurde schon ziemlich dunkel. Herkules konnte, ohne zu viel auf's Spiel zu setzen, das Boot verlassen, und er benutzte seine Axt auch mit solchem Geschick, daß die Sperrung nach zwei Stunden durchbrochen war,[426] während die Strömung die beiden Hälften derselben an die Ufer andrängte und die Pirogue ihren Weg fortsetzen konnte.

Sollte man es glauben! Vetter Benedict, das große Kind, hatte einen Augenblick gehofft, daß man nicht hindurchkommen werde. Eine derartige Reise erschien ihm überhaupt langweilig. Er sehnte sich fast nach der Factorei des Jose-Antonio Alvez und nach der Hütte zurück, in der sich seine kostbare Entomologenbüchse noch befand. Dieser Kummer war gewiß ganz gerechtfertigt, denn hier hatte der arme Mann so gut wie gar nichts zu sehen. Nicht ein Insect, nein, nicht ein einziges wurde ihm zur Beute!

Wie groß aber war dafür auch seine Freude, als ihm Herkules – alles in allem doch »sein Schüler« – ein abscheuliches kleines Thier brachte, das er eben von einem Tikatika-Halme aufgelesen hatte. Sonderbar! Der brave Schwarze schien selbst etwas verwirrt, als er es dem gelehrten Herrn einhändigte.

In welche Ausrufe der Entzückung brach aber erst Vetter Benedict aus als er das zwischen Daumen und Zeigefinger gehaltene Insect so nah' als möglich vor seine kurzsichtigen Augen brachte, denen jetzt ja weder Brille noch Loupe zu Hilfe kommen konnte.

»Herkules! rief er, Herkules! Damit hast Du Dir die Begnadigung erworben! Cousine Weldon! Dick! Eine Hexapode, einzig in ihrer Art und von ausschließlich afrikanischer Herkunft! Diese wenigstens wird mir Niemand abstreiten, sie wird mich nicht verlassen, so lange ich das Leben habe!

– Sie ist also sehr kostbar? fragte Mrs. Weldon.

– Ob sie kostbar ist! rief Vetter Benedict. Ein Insect, das weder eine Coleoptere, noch eine Neuroptere, noch eine Hymenoptere ist, das keiner der den Gelehrten bekannten zehn Ordnungen angehört und das man versucht wäre, eher einer zweiten Abtheilung der Arachniden beizuzählen. Eine Art Spinne, welche auch eine Spinne wäre, wenn sie acht Füße hätte, die aber eine Hexapode ist, weil sie deren nur sechs hat! O, meine Freunde, diese Genugthuung war mir der Himmel schuldig, und endlich werde ich meinen Namen an eine wissenschaftliche Entdeckung knüpfen! Dieses Insect hier wird der »Hexapodes Benedictus« sein!«

Der enthusiastische Gelehrte vergaß, da er sein Steckenpferd tummelte, so schnell alles überstandene Leid, daß Mrs. Weldon und Dick Sand ihm ihre herzlichen Glückwünsche nicht vorenthalten konnten.[427]

Indeß trieb die Pirogue auf den dunklen Wellen des Flusses hin. Nur das Klappern der Schuppen von Krokodilen unterbrach das Schweigen der Nacht, oder das Schnaufen der Flußpferde, die sich schwerfällig am Ufer wälzten.

Durch das Gezweig des Daches sendete der Mond, der hinter den Gipfeln der Bäume aufstieg, einige sanfte Strahlen bis in's Innere des Fahrzeugs.

Plötzlich entstand am rechten Flußufer ein entferntes Geräusch, so als ob riesige Pumpen im Dunklen thätig wären.

Es rührte das von mehreren hundert Elefanten her, die, nachdem sie sich den Tag über an Wurzeln gesättigt, nun ihren Durst löschen wollten, bevor sie der Ruhe pflegten. Man hätte wirklich fürchten können, daß die Rüssel alle, welche sich gleichzeitig wie durch automatische Bewegung hoben und senkten, den großen Fluß trocken legen würden.

Quelle:
Jules Verne: Ein Kapitän von fünfzehn Jahren. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XXVII–XXVIII, Wien, Pest, Leipzig 1879, S. 417-428.
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