Achtzehntes Capitel.
Verschiedene Vorkommnisse.

[428] Acht Tage lang schwamm das Fahrzeug, allein von der Strömung getrieben, unter den beschriebenen Verhältnissen den Fluß hinab, ohne daß sich irgend ein erwähnenswerther Zwischenfall ereignete. Auf eine Strecke von mehreren Meilen badete der Wasserlauf den Saum der prächtigsten Wälder. Weiterhin verbreiteten sich auf dem baumlosen Lande gefährliche Dschungeln bis zum fernen Horizonte.

Zeigten sich in diesem ganzen Gebiete auch keine Eingebornen – worüber Dick Sand sich natürlich am wenigsten beklagte – so besaß jenes doch einen wahren Ueberfluß an Thieren. Da spielten am Ufer Zebras, Elennthiere, »Caamas«, d.i. eine Art höchst graziöser Antilopen, welche während der Nacht verschwanden, um Leoparden, deren durchdringendes[428] Heulen man hörte, oder Löwen Platz zu machen, welche durch die hohen Gräser sprangen. Bisher hatten die Flüchtlinge noch in keiner Weise, weder von den Raubthieren des Waldes, noch von denen des Stromes zu leiden gehabt.

Tagtäglich, meist im Laufe des Nachmittags, lief Dick Sand das eine oder das andere Ufer an, stieg daselbst aus und durchsuchte die Umgebung.

Die Nahrungsvorräthe mußten ja immer erneuert werden. In diesen, aller Cultur entbehrenden Ländereien durfte man Manioc, Sorgho, Mais, d.s. die Früchte, von denen sich die Eingebornen vorwiegend nähren, nicht zu finden hoffen. Die genannten Pflanzen wuchsen hier nur wild und waren nicht eßbar. Dick Sand sah sich deshalb auf die Jagd angewiesen, obwohl der Knall seines Gewehres leicht eine unangenehme Begegnung zur Folge haben konnte.

Feuer bereitete man sich durch schnelle Umdrehung eines Stückchen härteren Holzes in einem etwas ausgehöhlten Stück Feigenbaumholze, ganz wie es die Eingebornen thun und wie es selbst Affen thun sollen, da man wenigstens behauptet, daß die Gorillas sich auf diese Weise Feuer zu verschaffen wissen. Dann kochte man gleich für mehrere Tage den nöthigen Bedarf an Elenn- oder Antilopenfleisch. Im Laufe des 4. Juli glückte es Dick Sand, mit einer einzigen Kugel einen »Poku« zu erlegen, der einen ansehnlichen Vorrath an Wildpret lieferte. Es war das ein 1∙5 Meter langes Thier, mit langen, ringförmig verdickten Hörnern, gelbrothem Fell, das auf dem Rücken und an den Seiten mit hellglänzenden Punkten übersäet, am Bauche aber ganz weiß war, und dessen Fleisch für sehr schmackhaft befunden wurde.

Bringt man die Zeit in Anschlag, welche das fast tägliche Landen beanspruchte, und zieht man auch die Ruhestunden während der Nacht ab, so durfte man die am 8. Juli weiter zurückgelegte Strecke höchstens auf hundert Meilen abschätzen. Immerhin war das beträchtlich zu nennen, und Dick Sand fragte sich, bis wohin ihn dieser scheinbar endlose Fluß wohl tragen werde, der bisher nur unbedeutende Nebenarme aufnahm, ohne sich dadurch sehr merkbar zu verbreitern. Nachdem derselbe übrigens lange Zeit die Hauptrichtung nach Norden eingehalten, wandte er sich jetzt nach Nordwesten.[429]

Nebenbei lieferte auch der Fluß selbst einen Theil der nöthigen Nahrung. An langen, mit Dornen in Form von Angelhaken besetzten Lianen fingen sich zuweilen sehr schmackhafte »Sandjikas«, welche, auf Indianer-Weise gedörrt, weithin mitgeführt werden konnten; schwarze, sehr geschätzte »Usakas«, ferner breitköpfige »Monndes«, deren Kiefern mit Borsten an Stelle der Zähne besetzt sind, und kleine »Dagalas«, welche schnellfließendes Wasser lieben, zum Geschlecht der Strömlinge gehören und lebhaft an die »Whitebails« der Themse erinnern.

Am 9. Juli ward Dick Sand's bewährte Kaltblütigkeit auf eine harte Probe gestellt. Er befand sich allein am Lande, auf dem Anstand nach einem Caama, dessen Hörner über ein Gebüsch hinausragten, und hatte eben auf dieses Feuer gegeben, als in dreißig Schritt Entfernung ein furchtbarer Jäger aufsprang, der jeden falls die ihm gebührende Beute in Anspruch nehmen wollte und wenig geneigt schien, dieselbe aufzugeben. Es war das ein hochgewachsener Löwe von der Art, welche die Landesbewohner »Karamos« nennen, und nicht von der mähnenlosen Abart, die als »Löwen des Nyassi« bekannt sind. Das Exemplar, von dem hier die Rede ist, maß 11/2 Meter in der Höhe – wirklich ein furchtbares Thier.

Mit gewaltigem Sprunge hatte der Löwe sich auf das Caama gestürzt, welches Dick Sand's Kugel niederstreckte, und das, weil es noch lebte, sich schreiend unter der mächtigen Tatze des schrecklichen Raubthieres wand.

Dick Sand hatte nicht Zeit gehabt, sein Gewehr noch einmal zu laden.

Der Löwe selbst wurde seiner auch im ersten Moment gewahr, begnügte sich aber zunächst, ihn anzusehen.

Dick Sand blieb seiner so weit Herr, keine Bewegung zu machen. Er erinnerte sich, daß unter ähnlichen Umständen in der Unbeweglichkeit allein Rettung zu finden sei. Er versuchte gar nicht, seine Waffe noch einmal zu laden oder gar zu entfliehen.

Noch immer starrte ihn der König der Thiere mit den rothen, leuchtenden Katzenaugen an. Er schien zwischen zwei Beuten, der zappelnden und der bewegungslosen zu schwanken. Hätte sich das Caama nicht unter den Klauen des Löwen bewegt, so wäre Dick Sand verloren gewesen.

So schlichen zwei angstvolle Minuten hin. Der Löwe sah Dick Sand, Dick Sand den Löwen an, ohne nur mit einem Lide zu zucken.[430]

Da peitschte der Löwe den Boden mit dem stolzen Schweife, nahm das zuckende Caama auf und trug es im Rachen fort wie ein Hund den Hafen. Schnell brach das Raubthier durch die Gebüsche und verschwand im hohen Gehölz.

Dick Sand blieb noch immer einige Augenblicke regungslos stehen, dann verließ er die Stelle und suchte seine Gefährten wieder auf, ohne diesen auch nur ein Wort von der Gefahr zu erzählen, der er nur durch seine muthige Kaltblütigkeit entronnen war. Mußten die Flüchtlinge freilich, statt auf dem raschen Strome, durch die von ähnlichen Raubthieren wimmelnden Ebenen und Wälder ziehen, so wäre heute Niemand mehr von den Ueberlebenden des »Pilgrim« übrig gewesen.

Wenn sich das Land indeß jetzt unbewohnt erwies, so war das doch nicht immer so gewesen. Da und dort, meist in Niederungen, hätte man wohl die Spuren früherer Ansiedelungen nachzuweisen vermocht. Ein mit diesen Verhältnissen vertrauter Reisender, wie etwa David Livingstone, hätte sich in dieser Hinsicht nicht täuschen können. Die Erscheinung hoher Palissaden von Euphorbien, welche die einst von ihnen umschlossenen Strohhütten überdauerten, oder eines geheiligten Feigenbaumes, der sich isolirt innerhalb einer solchen Einfriedigung erhob, verrieth, daß sich an solchen Stellen einmal ein Dorf befunden habe. Nach der Sitte der Eingebornen genügte indeß schon das Ableben eines Häuptlings, um die Einwohner zum Verlassen ihrer Wohnungen und zur Verlegung derselben nach einem anderen Orte zu zwingen.

Vielleicht lebten auch die Stämme dieser Gegend, welche der Fluß durchschnitt, unter der Erdoberfläche, wie in manchen anderen Theilen Afrikas. Diese auf der untersten Stufe der Menschheit stehenden Wilden kommen nur während der Nacht aus ihren Löchern, wie die Raubthiere aus ihren Höhlen, und eine Begegnung mit den ersteren oder letzteren möchte wohl eine gleich große Gefahr darbieten.

Daß er sich hier in der Heimat von Menschenfressern befinde, darüber konnte Dick Sand nicht in Zweifel sein. Wiederholt fand er an lichteren Stellen des Waldes, mitten in kaum erkalteter Asche, halb verbrannte menschliche Gebeine als Ueberbleibsel irgend eines entsetzlichen Mahles. Ein übler Zufall konnte recht wohl solche Kannibalen von Ober-Kazonnde nach dem Flußufer führen, wenn Dick Sand eben am Lande war. Er blieb also[431] niemals ohne Noth längere Zeit aus, und ohne Herkules das Versprechen abzunehmen, daß er das Boot beim geringsten Alarmruf vom Lande abstoßen werde.


Der Löwe wurde Dick Sand gewahr. (S. 430.)
Der Löwe wurde Dick Sand gewahr. (S. 430.)

Der wackere Neger hatte ihm das zugesagt, doch nur mit Mühe verbarg er vor Mrs. Weldon seine tödtliche Unruhe, wenn Dick Sand an's Land gegangen war.

Am Abend des 10. Juli mußte doppelte Vorsicht gebraucht werden. Auf dem rechten Flußufer erhob sich eine Art Wasser Dorf.


Hastig holten die Eingebornen ihre Netze heraus. (S. 434.)
Hastig holten die Eingebornen ihre Netze heraus. (S. 434.)

Das verbreiterte Strombett bildete nämlich eine Art Lagune, deren Gewässer etwa dreißig auf Pfählen errichtete Hütten bespülte. Die Strömung führte unter diesen Hütten hin und das Boot mußte ihr folgen, denn nach links hin war der Fluß wegen eingelagerter[432] Felsmassen nicht fahrbar.

Das erwähnte Dorf erwies sich auch bewohnt Da und dort erglänzte der Schein von Feuer unter den Wohnungen. Man hörte auch Stimmen, welche mehr einem wilden Heulen ähnelten Wenn unglücklicher Weise[433] zwischen den Pfählen, wie das häufiger vorkommt, Seile und Netze ausgespannt waren, so konnte die Pirogue, während sie einen Durchgang suchte, ihre Anwesenheit leicht selbst verrathen.

Mit gedämpfter Stimme ertheilte Dick Sand vom vorderen Ende aus seine Anweisungen, um jeden Anprall gegen die wurmstichigen Unterbauten zu vermeiden. Die Nacht war sternenklar. Man sah dabei genug, um sich zurechtzufinden, freilich auch, um selbst gesehen zu werden.

Nun kamen einige schreckliche Minuten. Zwei Eingeborne saßen laut sprechend nahe der Wasserfläche auf Pfählen, zwischen welchen die Strömung das Boot hindurchtreiben mußte, dessen Richtung bei diesem schmalen Wege in keiner Weise verändert werden durfte. Sollten sie dasselbe nicht erkennen und war nicht auf ihren Weckruf die Zusammenströmung aller Bewohner dieser Ansiedlung zu befürchten?

Noch war eine Strecke von etwa hundert Schritt Länge zurückzulegen, als Dick Sand hörte, wie sich die Eingebornen einige lebhaftere Worte zuriefen. Der Eine zeigte dem Anderen den herangleitenden Gras- und Reisighaufen, der die Lianen-Netze, welche sie eben auszulegen beschäftigt waren, zu zerreißen drohte.

Dann hoben sie dieselben und riefen laut nach Anderen um Unterstützung.

Bald kletterten fünf oder sechs andere Neger längs der Grundpfähle herab und setzten sich unter wildem Geschrei, von dem man sich kaum eine Vorstellung machen kann, auf die Querbalken, welche die Pfeiler verbanden.

In der Pirogue dagegen herrschte Todtenstille, die höchstens durch einige mit gedämpfter Stimme ertheilte Befehle Dick Sand's unterbrochen wurde; nichts regte sich, außer etwa Herkules' rechter Arm, der den Bootsriemen regierte; manchmal knurrte Dingo leise, doch Jack hielt ihm mit den kleinen Händchen die Kinnladen zusammen; draußen murmelte das strömende Wasser, das sich an den Grundpfählen brach; darüber aber ertönte das thierische Gebrüll der Kannibalen.

Hastig holten die Eingebornen ihre Netze heraus. Gelang ihnen das rechtzeitig, so war Aussicht vorhanden, daß das Boot hindurchkommen werde; im anderen Falle mußte es sich in jenen fangen und dann drohte ein gewisser Untergang Allen, die es mit sich führte.[434]

Binnen einer halben Minute schon schwankte das Boot zwischen die Pfähle hinein. Unerwartet glücklicher Weise gelang es der äußersten Anstrengung jener Wilden, die Netze vollends emporzuziehen.

Im Vorüberstreifen aber geschah, was Dick Sand befürchtet hatte – die rechte Seite des Fahrzeuges wurde durch Losreißung einigen Laubwerkes stellenweise bloßgelegt.

Einer der Eingebornen stieß einen Schrei aus. Hatte er zu erkennen vermocht, was diese Laubhütte verdeckte, und wollte er die Anderen darauf aufmerksam machen? Wahrscheinlich.

Schon waren Dick Sand und die Seinen aber ein gutes Stück weg und in wenig Augenblicken trug sie der Fluß, der hier mehr eine Stromschnelle bildete, so weit, daß sie jenes Pfahldorf ganz aus dem Gesichte verloren.

»Nach dem linken Ufer! commandirte Dick Sand aus Vorsorge. Das Wasser ist dort wieder schiffbar!

– Beidrehen nach links!« wiederholte Herkules, indem er mit dem Bootsriemen kräftig einlenkte.

Dick Sand nahm neben ihm Platz und lugte scharf nach der vom Monde hell erleuchteten Wasserfläche hinaus, doch konnte er nichts Verdächtiges wahrnehmen. Keine Pirogue erschien zu ihrer Verfolgung. Vielleicht besaßen die Wilden eine solche nicht, und auch bei Anbruch des Tages zeigte sich kein Eingeborner weder am Flusse noch an dessen Ufern. Um je doch ganz sicher zu gehen, hielt sich das Boot beständig nahe dem linken Ufer.

Während der nächsten vier Tage, vom 11. bis 14. Juli, drängte sich Mrs. Weldon und ihren Gefährten die Beobachtung auf, daß sich der allgemeine Charakter des Landes auffallend verändert hatte. Hier befand man sich nicht mehr in einem öden Lande, sondern mehr in einer eigentlichen Wüste, vergleichbar der von Kalahari, welche Livingstone bei seiner ersten Reise untersuchte. Der dürre Erdboden erinnerte in keiner Weise mehr an die fruchtbaren Landschaften seines höheren Hinterlandes.

Nur der scheinbar endlose Fluß, der eigentlich den Namen eines Stromes verdiente, da er unmittelbar in den Atlantischen Ocean zu münden schien, setzte seinen Lauf noch fort.

Die Beschaffung der Nahrung machte in diesem unfruchtbaren Lande besondere Schwierigkeiten. Von den früheren Vorräthen war nichts mehr übrig. Der Fischfang lieferte nur einen geringen, die Jagd fast gar keinen[435] Ertrag. Elennthiere, Antilopen, Pokus und andere Thiere hätten in dieser Wilstenei kein Futter gefunden, und mit ihnen waren gleichzeitig auch die Raubthiere verschwunden.

Während der Nacht ließ sich jetzt niemals mehr das gewohnte Brüllen hören. Nur das Concert der Frösche unterbrach ihre Stille, ein Concert, das Cameron mit dem Geräusch vergleicht, das etwa bei gleichzeitigem Kalfatern von Schiffen, Festhämmern von Nieten und Bohren von Metallplatten eines Schiffbodens entstände.

An beiden Ufern erschien die Umgegend flach und baumlos bis zu den entfernten Hügeln, die sie im Osten und Westen begrenzten. Nur Euphorbien gediehen hier noch in Menge, doch keine von den Arten, welche das Cassave- oder Maniocmehl liefern, sondern von jenen, aus denen man nur ein als Nahrungsmittel untaugliches Oel gewinnt.

Auf jeden Fall mußte indeß für die Ernährung der kleinen Gesellschaft Sorge getragen werden. Dick Sand wußte keinen Rath mehr, als ihn Herkules recht zur gelegenen Zeit daran erinnerte, daß die Eingebornen häufig die zarten Sprossen der Farren und das Mark der Papyrusstengel verzehren. Er selbst war, während er Ibn Hamis' Karawane durch die Wälder folgte, mehr als einmal auf dieses Auskunftsmittel beschränkt gewesen, um seinen Hunger zu stillen. Zum Glück wucherten Farren und Papyrusstauden längs der Ufergelände und fand vorzüglich das Mark der letzteren seines angenehm süßen Saftes wegen bei Allen – beim kleinen Jack natürlich ganz besonders – den ungetheiltesten Beifall.

Immerhin bot dasselbe nur eine unzulängliche Nahrung, doch sollte man sich am nächsten Tage, Dank Vetter Benedict, dafür entschädigen.

Seit der Auffindung des Hexapodus Benedictus, der seinen Namen verewigen sollte, hatte der würdige Gelehrte die früheren kleinen Streifzüge wieder begonnen. Nachdem das Insect sicher verwahrt, d.h. am Hute sorgfältig angespießt war, ging Vetter Benedict, wenn das Boot anlegte, wieder »auf die Suche«. Da, als er genannten Tages durch das hohe Gras watete, flog ein Vogel auf, dessen Gezwitscher seine Aufmerksamkeit erregte.

Schon wollte Dick Sand auf denselben feuern, als Vetter Benedict ausrief:

»Nicht schießen, Dick, nicht schießen! Ein Vogel für Fünf wäre doch zu wenig![436]

– Für Jack reicht er doch, antwortete Dick Sand, indem er nochmals auf den Vogel anlegte, der gar nicht an's Entfliehen dachte.

– Nein, nein! wiederholte Vetter Benedict. Schießt nicht! Das ist ein Wegweiser; durch ihn werden wir Honig in Ueberfluß finden!«

Dick Sand senkte das Gewehr, da ihm auch nur wenige Pfunde Honig werthvoller erschienen als ein Vogel, und bereitete sich, nebst Vetter Benedict, dem Wegweiser zu folgen, der, von Zeit zu Zeit fortfliegend und anhaltend, sie einzuladen schien, ihn zu begleiten.

Sie hatten nicht weit zu gehen, denn schon nach wenig Minuten sahen sie, von Euphorbien versteckt und von Millionen Bienen umsummt, einige alte Baumstümpfe vor sich.

Vetter Benedict hätte diesen fleißigen Hymenopteren »die Frucht ihrer Arbeit« – wie er sich ausdrückte – am liebsten gar nicht geraubt. Dick Sand war freilich anderer Meinung. Er räucherte die Bienen durch Entzündung trockener Kräuter aus und bemächtigte sich einer gehörigen Menge vorzüglichen Honigs. Die Wachszellen wurden dem Wegweiser als ihm gebührender Beuteantheil überlassen, dann kehrten Beide eiligst nach ihrer schwimmenden Wohnung zurück.

Der Honig wurde mit Freuden empfangen; bei seiner für fünf Personen aber immerhin nicht übermäßigen Menge hätten doch Alle bald grausamen Hunger leiden müssen, wenn die Pirogue am 12. Juli nicht in einer kleinen Bucht gehalten hätte, neben der es von Heuschrecken geradezu wimmelte. Myriadenweise bedeckten sie in doppelter und dreifacher Lage den Boden wie die Gebüsche. Da nun Vetter Benedict schon früher mitgetheilt hatte, daß die Eingebornen sich nicht selten allein von diesen Orthopteren sättigen – was auch in der That der Fall ist – so griff man herzhaft zu. Wohl zehnmal hätte man das Boot mit Heuschrecken beladen können, die, bei mäßigem Feuer geröstet, auch minder hungrigen Leuten noch gut gemundet hätten. Vetter Benedict seinerseits verzehrte eine erstaunliche Menge; er seufzte zwar dabei – aber er aß sie doch.

Nichtsdestoweniger wurde es nun hohe Zeit, daß diese lange Reihe moralischer und physischer Prüfungen ein Ende nahm. Obwohl das Hinabfahren auf dem schnellen Flusse nicht im Mindesten so ermüdend war, als die erste Wanderung durch die Wälder, so machten doch die unausstehliche Hitze des Tages, die feuchten Dünste der Nacht und die unaufhörlichen[437] Belästigungen durch Muskitos die Fahrt auf dem Wasser zu einer sehr aufreibenden Reise. Nun mußte man bald ankommen, doch konnte Dick Sand unmöglich den Zeitpunkt angeben, wann das nächste Ziel erreicht sein würde. Bei strenger Richtung des Flusses nach Westen mußte die Gesellschaft sich jetzt wohl schon an der Nordküste Angolas befinden, da er aber im Ganzen mehr nach Norden strömte, konnte es lange dauern, bevor er das Meer erreichte.

Dick Sand's Unruhe nahm immer mehr zu, als er plötzlich, am Morgen des 14. Juli, sah, daß sich die Stromrichtung änderte.

Der kleine Jack stand im Vordertheil des Bootes und guckte durch die Zweigwand, wobei er am Horizonte eine ausgedehnte Wasserfläche entdeckte.

»Das Meer, das Meer!« rief er.

Wie klopfte Dick Sand bei diesen Worten das Herz, während er auf den Knaben zuging.

»Das Meer! sagte er, leider noch nicht, wohl aber ein Strom, der nach Westen zu fließt und von dem dieser Fluß nur einen Nebenarm darstellt. Vielleicht ist es der Zaïre selbst!

– Gott geb' es!« seufzte Mrs. Weldon.

Ja, wenn das der Zaire oder Congo war, den Stanley wenige Jahre später näher erforschte, so brauchte man nur noch seinen Lauf hinabzufahren, um die portugiesischen Ansiedelungen an dessen Mündung zu erreichen. Dick Sand hoffte, daß es so sei, und hatte verschiedene Gründe für diese Annahme.

Während des 15., 16., 17. und 18. Juli glitt das Fahrzeug durch die jetzt minder unfruchtbare Landschaft auf den silbernen Wellen des Stromes hinab. Immer beobachtete man die nämlichen Vorsichtsmaßregeln und immer erschien das nur wie ein Haufen Gezweig und Laubwerk, was die Strömung mit sich zum Meere führte.

Nach wenig Tagen sollten die Ueberlebenden des »Pilgrim« allem Anscheine nach das Ende ihrer Leiden begrüßen. Dann konnte eines Jeden Antheil an der Rettung beurtheilt werden, und wenn der junge Leichtmatrose gewiß für sich nicht selbst den größten Antheil beanspruchte, so war doch Mrs. Weldon da, die denselben für ihn in Anspruch nahm.

Da ereignete sich aber in der Nacht des 18. Juli ein Zwischenfall, der die Rettung Aller in Frage stellte.[438]

Gegen drei Uhr Morgens ließ sich im Westen ein entferntes, anfangs nur sehr dumpfes Geräusch vernehmen. Dick Sand wünschte aus ängstlicher Vorsicht die Ursache desselben zu erfahren. Während Mrs. Weldon, Jack und Vetter Benedict ruhig in der Mitte des Bootes schlummerten, rief er Herkules herzu und empfahl ihm, mit größter Aufmerksamkeit zu horchen.

Die Nacht war still. Kein Hauch bewegte die Atmosphäre.

»Das ist das Rauschen des Meeres! meinte Herkules, dessen Augen vor Freude glänzten.

– Nein, das nicht, antwortete Dick Sand kopfschüttelnd.

– Und was wäre es sonst? fragte Herkules.

– Warten wir den Tag ab, aber laßt uns strengstens wachen!«

Herkules kehrte wieder auf seinen Posten zurück.

Dick Sand blieb am Vordertheile. Er lauschte noch immer. Das Geräusch nahm zu. Bald nahm es den Charakter eines fernen Rauschens an.

Der Tag erschien, fast ohne vermittelnde Dämmerung. Nach vorwärts und scheinbar unterhalb des Flusses schwebte eine Art Wolke in der Luft. Daß dieselbe nicht aus wirklichen Dünsten bestand, wurde durch das Auftreten eines von einem Ufer zum anderen reichenden, farbenschillernden Regenbogens bewiesen, sobald die ersten Sonnenstrahlen durch die Wolken blitzten.

»An's Ufer! rief Dick Sand, dessen Stimme auch Mrs. Weldon erweckte. Dort ist ein Wasserfall! Jene Wolken bestehen nur aus zerstäubtem Wasser. An's Ufer, Herkules!«

Dick Sand irrte nicht. Vor ihnen bildete das Flußbett einen über 30 Meter hohen Abhang, in den sich das Wasser mit majestätischer, aber unwiderstehlicher Gewalt hinunterstürzte.

Noch eine halbe Meile, und das Boot wäre rettungslos in den tosenden Schlund hineingezogen worden.[439]

Quelle:
Jules Verne: Ein Kapitän von fünfzehn Jahren. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XXVII–XXVIII, Wien, Pest, Leipzig 1879, S. 428-440.
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