Drittes Capitel.
Unterwegs.

[250] Afrika! Dieser unter den gegebenen Umständen so entsetzliche Name, der von nun an an die Stelle des Namens Amerika zu treten hatte, verschwand keinen Augenblick aus den Augen Dick Sand's. Versetzte sich der junge Leichtmatrose im Geiste um einige Wochen zurück, so legte er sich nur die Frage vor, wie der »Pilgrim« habe dazu gelangen können, diese gefährliche Küste anzulaufen, wie er das Cap Horn umsegelt und von einem Ocean in den anderen gerathen sei? Jetzt freilich erklärte er sich wenigstens den Umstand, daß sich trotz der Schnelligkeit seines Schiffes immer kein Land habe zeigen wollen, da sich die Wegeslänge bis zur Küste Amerikas ohne sein Wissen nahezu verdoppelt hatte.

»Afrika! Afrika!« wiederholte Dick Sand noch immer.

Da kam ihm plötzlich, während er mit zäher Willenskraft die Ereignisse dieser unerklärlichen Ueberfahrt an seinem inneren Auge vorüberziehen ließ, der Gedanke, daß sein Compaß falsch gewiesen haben müsse. Er erinnerte sich auch, daß der eine Compaß zerbrach, daß die Logleine zerriß und ihm die Möglichkeit genommen wurde, die Schnelligkeit des Schiffes zu beurtheilen.

»Ja, ja! dachte er, es blieb nur noch ein Compaß übrig, dessen Angaben ich nicht zu controliren vermochte!.. Und in einer Nacht ward ich durch einen Schrei des alten Tom erweckt... Negoro befand sich gleichzeitig auf dem[250] Hinterdeck... er war auf das Compaßhäuschen gefallen... konnte dadurch nicht eine Störung hervorgerufen werden?...«

In Dick Sand's Geiste dämmerte es allmälig. Die Wahrheit lag für ihn auf der Hand. Er begriff endlich die ganze Zweideutigkeit in Negoro's Benehmen; er erkannte seine Hand in jener ganzen Reihe von Unfällen, welche den Verlust des »Pilgrim« herbeigeführt, und Die, welche er trug, in so gefährliche Lage geführt hatten.

Für was aber sollte er jenen elenden Wicht halten? War er ein Seemann, was er doch stets zu verheimlichen suchte? War er wirklich im Stande, die fluchwürdigen Maßnahmen zu berechnen und auszuführen, welche das Schiff nach der Küste Afrikas treiben mußten?

Verhüllte die Vergangenheit aber auch noch einige dunkle Punkte, bezüglich der Gegenwart konnte davon gewiß keine Rede sein. Der junge Leichtmatrose wußte nur zu gut, daß er sich in Afrika befinde und höchst wahrscheinlich in der gefährlichen Provinz Angola, mehr als hundert Meilen weit von der Küste. Auch daß Harris die Rolle des Verräthers gespielt, unterlag bei ihm keinem Zweifel. Dann führte aber auch die einfache Logik zu der weiteren Schlußfolgerung, daß der Amerikaner und der Portugiese sich längst schon kannten, daß sie ein unseliger Zufall hier an der Küste zusammengeführt, und daß zwischen ihnen ein Plan verabredet worden sei, der für die Schiffbrüchigen des »Pilgrim« offenbar von den verderblichsten Folgen sein mußte.

Welches Motiv jedoch lag dieser häßlichen Handlungsweise zu Grunde? Daß Negoro sich mit List oder Gewalt Tom's und seiner Genossen bemächtigen wollte, um diese als Sklaven zu verkaufen, konnte man wohl annehmen. Daß der Portugiese, von dem Gefühle des Hasses getrieben, sich an ihm, Dick Sand, der ihn nach Verdienst behandelt hatte, rächen wollte, war vielleicht auch zu begreifen. Was beabsichtigte der Elende aber mit Mrs. Weldon, mit der Mutter und deren unschuldigem Kinder

Hätte Dick Sand jenem Gespräche zwischen Harris und Negoro lauschen können, er würde gewußt haben, was jetzt drohte, welchen Gefahren Mrs. Weldon, die Neger und er selbst entgegengingen!

Gewiß, die Lage war entsetzlich, den jungen Leichtmatrosen lähmte sie nicht. Kapitän an Bord, wollte er auch Kapitän am Lande bleiben. Ihm lag die Pflicht ob, Mrs. Weldon, den kleinen Jack, alle Diejenigen,[251] deren Loos der Himmel in seine Hand gegeben, zu erretten. Jetzt fing seine schwerere Aufgabe wirklich erst an. Er wollte und mußte sie zu Ende führen!

Nach zwei oder drei Stunden, während welchen er die guten und die schlechten Aussichten der Gegenwart und Zukunft gegen einander abwog – wobei freilich die schlechten ein großes Uebergewicht zeigten – erhob sich Dick Sand fest und entschlossen.

Die ersten Morgenstrahlen vergoldeten eben die hohen Gipfel der Bäume. Mit Ausnahme Tom's und des Leichtmatrosen lagen Alle noch in tiefem Schlafe.

Dick Sand näherte sich dem alten Neger.

»Tom, begann er mit leiser Stimme, Ihr habt das Brüllen des Löwen gehört, habt die Werkzeuge eines Sklavenhändlers gefunden und erkannt, Ihr wißt, daß wir in Afrika sind?

– Ja, Herr Dick, das weiß ich.

– Nun gut, Tom; kein Wort hierüber! – weder gegen Mistreß Weldon noch gegen Eure Gefährten. Wir wollen diese Kenntniß für uns allein behalten, allein fürchten, was zu fürchten ist!...

– Allein... freilich... das ist nothwendig!... antwortete Tom.

– Tom, fuhr der Leichtmatrose fort, wir haben nun strenger zu wachen denn je. Wir sind im feindlichen Lande – und welche Feinde, welches Land! Es genügt, unseren Begleitern mitzutheilen, daß wir von Harris verrathen wurden, um sie zu warnen, auf ihrer Hut zu sein. Sie werden glauben, es drohe uns ein Angriff nomadisirender Indianer, das wird genügen.

– Sie können unbedingt auf ihren Muth und ihre Ergebenheit zählen, Herr Dick.

– Ich weiß es, ebenso wie ich auf Euren gesunden Verstand und Eure Erfahrung rechne. Ihr werdet mich doch unterstützen, mein alter Tom?

– Stets und in Allem, Herr Dick«'

Dick Sand's Entschluß war gefaßt und fand die Zustimmung des alten Negers. Da Harris' Verrath sofort, bevor noch die Stunde des Handelns gekommen, entdeckt wurde, so bedrohte den jungen Leichtmatrosen und seine Begleiter wenigstens keine augenblickliche Gefahr. Allem Anscheine nach hatte[252] die Auffindung der von einigen Sklaven zurückgelassenen Eisen, sowie das unerwartete Gebrüll des Löwen das plötzliche Verschwinden des Amerikaners veranlaßt. Er hatte sich entdeckt gefühlt und war entflohen, wahrscheinlich bevor die kleine Gesellschaft, welche er in die Wildniß führte, die Stelle erreicht hatte, wo man sich ihrer bemächtigen wollte. Negoro, dessen Nähe Dingo während der letzten Reisetage offenbar gewittert hatte, mochte nun wohl mit Harris zur Berathschlagung weiterer Maßregeln zusammengetroffen sein. Jedenfalls vergingen einige Stunden, ehe Dick Sand und die Seinen eine Ueberrumpelung zu befürchten hatten, und diese galt es zu benutzen.

Der einzig in Frage kommende Plan lief darauf hinaus, so schnell als möglich die Küste wieder zu erreichen. Der junge Mann hatte allen Grund, anzunehmen, daß diese Küste die von Angola sei. Nach Erreichung derselben wollte Dick Sand nach Norden oder Süden ziehen, um eine portugiesische Ansiedlung zu treffen, in der seine Begleiter irgend eine Gelegenheit zur Rückkehr nach der Heimat in Ruhe und Sicherheit abwarten könnten.

Sollte man aber zur Rückreise nach der Küste den auf dem Herwege benutzten Weg einschlagen? Dick Sand dachte daran gar nicht, und hierin begegnete er Harris' Muthmaßungen, der recht wohl vorausgesehen hatte, daß die Verhältnisse den jungen Leichtmatrosen nöthigen mußten, die kürzeste Route zu wählen.

In der That wäre es unvortheilhaft, um nicht zu sagen unklug gewesen, die beschwerliche Wanderung rückwärts durch den Wald zu wagen, welche im glücklichen Falle am ersten Ausgangspunkte endigen mußte. Dabei wäre es Negoro's Spießgesellen auch geboten gewesen, ihnen auf sicherer Fährte nachzufolgen. Um ohne Hinterlassung sichtbarer Spuren davon zu kommen, blieb ihnen nur die Aufsuchung eines Wasserlaufes übrig, den sie geeigneten Falles zur Rückfahrt benutzen konnten. Gleichzeitig verminderten sich damit auch die Gefahren des Angriffs wilder Thiere, welche sich bis jetzt durch einen glücklichen Zufall noch in beruhigender Ferne gehalten hatten. Auch ein etwaiger Angriff von Seiten Eingeborner hatte unter diesen Umständen weniger Bedeutung. Einmal auf einem solid gebauten Flosse eingeschifft, befanden sich Dick Sand und seine Gefährten unter Berücksichtigung ihrer ausgezeichneten und hinreichenden Bewaffnung in der erwünschtesten Lage, sich[253] wirksam zu vertheidigen. Alles kam nur darauf an, den ersehnten Wasserlauf zu finden.

Hierzu kommt noch, daß sich diese Art zu reisen für Mrs. Weldon und deren kleinen Jack unter den thatsächlichen Verhältnissen als die geeignetste empfahl. Das kränkliche Kind zu tragen, konnte es an willigen Armen nicht fehlen. In Ermangelung von Harris' Pferde konnte ja im Nothfall eine Tragbahre aus Zweigen hergestellt werden, auf welcher Mrs. Weldon Platz fand. Freilich wurden zwei von den fünf Negern in Anspruch genommen und Dick Sand hielt mit Recht darauf, seine Gefährten im Falle eines plötzlichen Angriffes in ihrer Bewegung möglichst unbeschränkt zu wissen.

Kam man aber erst dahin, auf einem Strom flußabwärts zu fahren, so befand sich der junge Leichtmatrose wieder in seinem Elemente.

Die nächstliegende Frage zielte also dahin, zu wissen, ob sich in der Nachbarschaft ein geeigneter Wasserlauf vorfinde. Dick Sand setzte das, und zwar aus folgenden Gründen voraus:

Der am Orte des Schiffbruches ihres »Pilgrim« in den Atlantischen Ocean ausmündende Fluß konnte weder nach Norden, noch nach Osten weit in's Land hineinreichen, da eine nicht allzu entfernte Bergkette – dieselbe, welche man früher irrthümlicher Weise für die Cordilleren hielt – den Horizont nach jenen beiden Richtungen zu abschloß. Jener Fluß strömte also offenbar direct von diesen Höhen hinab oder er wendete sich nach Süden; in beiden Fällen konnte Dick Sand nicht fehlgehen, dessen Bett anzutreffen. Vielleicht fanden sie auch noch vor jenem Flusse – denn es hatte den Anschein, als bilde er einen directen Küstenstrom des Oceans – einen seiner Nebenarme, welcher zur Fortschaffung der kleinen Gesellschaft schon wasserreich genug wäre. Auf jeden Fall jedoch konnte irgend ein Wasserlauf von hier nicht fern sein.

Während der letztzurückgelegten Meilen ihrer Reise hatte sich die Bodenbeschaffenheit merklich geändert. Das Land war niedriger und feuchter. Da und dort schlängelten sich schmale Bäche dahin, welche den Beweis lieferten, daß der Untergrund ein ganzes Netz von Wasseradern bergen mochte. Am letzten Reisetage noch war die Gesellschaft an einem jener Bäche hingezogen, dessen von Eisenoxyd geröthetes Wasser seine Farbe dem abgenagten Ufer entnahm. Es konnte weder allzu lange dauern, noch allzu schwierig sein, diesen wieder aufzufinden. Gewiß konnte man auf seinem wenigen schäumenden[254] Wasser noch nicht stromabwärts fahren, recht wohl aber ihm bis zu seiner Mündung in einen größeren Nebenfluß folgen, der dann schiffbar zu sein versprach.

Diesen einfachen Plan hatte Dick Sand nach einer kurzen Unterredung mit Tom festgesetzt.

Nach Tagesanbruch erwachten alle Reisegefährten allmälig. Mrs. Weldon legte den noch schlummernden kleinen Jack in die Arme Nan's nieder. Das in der Periode des aussetzenden Fiebers todtenblasse Kind bot einen wirklich schmerzlichen Anblick.

Mrs. Weldon ging auf Dick Sand zu.

»Dick, begann sie nach einigem Umherblicken, wo ist Harris? Ich finde ihn nicht!«

Der junge Leichtmatrose war der Ansicht, daß er die Verrätherei des Amerikaners seinen Gefährten nicht wohl verheimlichen dürfe, wenn er sie auch in dem Glauben ließe, auf dem Boden von Bolivia zu sein.

»Harris ist nicht mehr da, antwortete er ohne Zögern.

– Er ist also wohl vorausgegangen? fragte Mrs. Weldon.

– Er ist entflohen, Mistreß Weldon, erklärte Dick Sand. Dieser Harris ist ein Verräther und hat uns in Uebereinstimmung mit Negoro hierher in die Irre geführt!

– Was kann er damit wollen? fragte Mistreß Weldon lebhaft.

– Das weiß ich nicht, erwiderte Dick Sand möglichst ruhig, aber das Eine weiß ich, daß wir schnellstmöglich nach der Küste zurückkehren müssen.

– Dieser Mann... ein Verräther! rief Mrs. Weldon. O, meine böse Ahnung! Und Du glaubst, Dick, daß er im Einvernehmen mit Negoro handelte?

– Das muß so sein, Mistreß Weldon. Dieser Bösewicht folgte unserer Spur. Der Zufall hat zwei Schurken zusammengeführt und...

– Und ich hoffe, daß sie noch beisammen sind, wenn wir sie wieder finden, sagte Herkules. Ich zerschmettere dem Einen den Schädel mit dem Kopfe des Anderen! fügte der Riese hinzu, indem er seine gewaltigen Fäuste drohend ausstreckte.

– Aber mein armes Kind! schluchzte Mrs. Weldon, wo bleibt die Pflege, die ich für Jack in der Hacienda de San Felipe zu finden hoffte?...[255]

– Jack wird sich erholen, suchte sie der alte Tom zu trösten, wenn er wieder in die gesundere Küstengegend kommt.

– Du bist Deiner Sache sicher, Dick, fragte Mrs. Weldon noch einmal, daß dieser Harris uns betrogen hat?

– Ganz sicher, Mistreß Weldon!« bekräftigte der Leichtmatrose, der jede Erörterung hierüber zu vermeiden suchte.

Mit einem Seitenblick auf den alten Neger fügte er auch noch schnell hinzu:

»Diese Nacht schon haben Tom und ich seine Verrätherei entdeckt, und hätte er nicht sein Pferd zur Flucht gehabt, ich hätte ihn niedergeschossen!

– Jene Farm also?...

– Hier giebt es weder Farm, noch Dorf, noch Flecken in der Nähe, antwortete Dick Sand, ich wiederhole Ihnen, Mistreß Weldon, wir müssen eiligst zur Küste zurückkehren.

– Auf dem nämlichen Wege, Dick?...

– Nein, Mistreß Weldon, wir wollen einen Wasserlauf benutzen, der uns ohne Anstrengung und Gefahr zum Meere hinab befördern wird.

– O, ich bin stark genug! antwortete Mistreß Weldon, die sich gegen ihre eigene Schwäche sträubte. Ich werde marschiren! Ich werde mein Kind tragen!

– Wir sind auch noch da, meinte Bat, wir werden Sie gleich selbst tragen!

– Ja, freilich!... stimmte Austin ein, zwei Baumäste, einige Zweige mit Blättern dazwischen...

– Ich danke Euch, meine Freunde, lehnte Mrs. Weldon dieses Anerbieten ab, ich werde zu Fuß mitkommen.... ich werde gehen. Vorwärts nur!

– Vorwärts denn! befahl der junge Leichtmatrose.

– Geben Sie Jack mir! sagte Herkules, indem er das Kind aus Nan's Armen nahm, wenn ich nichts zu tragen habe, werde ich davon müde!«


Die kleine Gesellschaft hatte noch keine fünfzig Schritte zurückgelegt. (S. 258)
Die kleine Gesellschaft hatte noch keine fünfzig Schritte zurückgelegt. (S. 258)

Zärtlich nahm der wackere Neger den schlafenden Knaben, der dabei nicht einmal erwachte, in seine kräftigen Arme.

Die Waffen wurden sorgfältig untersucht. Den Rest der Lebensmittel vereinigte man zu einem kleinen Ballen, so daß ihn ein einziger Mann tragen[256] konnte. Acteon warf diesen auf den Rücken, während seine Gefährten in ihrer freien Bewegung ziemlich unbehindert blieben.

Vetter Benedict, dessen lange stählerne Beine keine Ermüdung kannten, war zum Aufbrechen bereit. Hatte er Harris' Verschwinden bemerkt? Es wäre voreilig, das behaupten zu wollen. Ihm ging es überhaupt wenig zu Herzen; er litt nämlich gleichzeitig unter den Schlägen des herbsten Mißgeschickes, das ihn nur treffen konnte.[257]

Vetter Benedict hatte – o, welches Unglück! – seine Loupe und seine Brille verloren!

Zum Glück, aber ohne daß jener es wußte, hatte Bat die beiden kostbaren Instrumente im hohen Grase der letzten Lagerstätte gefunden, aber auf Dick Sand's Anrathen für sich behalten. Auf diese Weise konnte man wenigstens sicher sein, daß das große Kind sich unterwegs ruhig verhalten werde, weil der arme Gelehrte, wie erwähnt, nicht weiter als bis zu seiner Nasenspitze sehen konnte.

Zwischen Acteon und Austin mit der bestimmten Weisung gestellt, diese auf keinen Fall zu verlassen, ließ der beklagenswerthe Benedict niemals ein Wort des Widerspruches hören und folgte wie ein Blinder, den man an der Leine mitführt.

Noch keine fünfzig Schritte hatte die kleine Gesellschaft aber zurückgelegt, als der alte Tom sie plötzlich durch ein einziges Wort zum Stehen brachte.

»Und Dingo? sagte er.

– Wahrhaftig, Dingo ist nicht da!« antwortete Herkules.

Mit seiner weithin schallenden Stimme rief er den Hund mehrere Male.

Kein Gebell ertönte als Antwort.

Dick Sand verhielt sich still. Der Verlust des Hundes erschien sehr bedauerlich, denn jener hätte die kleine Gesellschaft vor jeder Ueberrumpelung gehütet.

»Sollte Dingo Harris nachgelaufen sein? fragte Tom.

– Harris – nein, entgegnete Dick Sand. Wohl aber könnte er Negoro's Spur verfolgen; er witterte jenen uns auf dem Fuße.

– Dieser unselige Koch wird nichts Eiligeres zu thun haben, als ihn mit einer Kugel zu begrüßen!...

– Wenn ihm Dingo nicht vorher an der Kehle sitzt, warf Bat ein.

– Vielleicht, antwortete der junge Leichtmatrose. Doch wir können Dingo's Rückkunft hier nicht ab warten; ist er noch am Leben, so ist er auch klug genug, uns wieder aufzufinden. Vorwärts also!«

Die Witterung war ziemlich schwül. Seit Tagesanbruch lagerten schwere Wolkenmassen am Horizonte, ein Gewitter schien in der Luft zu liegen.[258]

Voraussichtlich endete der Tag nicht ohne einige Donnerschläge. Glücklicher Weise bewahrte der Wald, wenn er auch minder dicht war, dem Erdboden noch eine gewisse Frische. Da und dort rahmte ein hochstämmiger Wald offene Wiesenflächen, mit hohen, dichten Gräsern ein. An manchen Stellen lagen ungeheure, schon versteinerte Baumstämme am Boden – ein Anzeichen kohlenführenden Untergrundes, dem man auf dem Festlande Afrikas sehr häufig begegnet. An den lichteren Stellen, deren grüner Unterteppich auch mit einzelnen röthlichen Büschen besetzt war, leuchteten Blumen in den verschiedensten Farben, wie gelber oder blauer Ingwer, zartblasse Lobelien oder brennendrothe Orchideen, alle von ganzen Schwärmen Insecten besucht, welche sie gegenseitig befruchteten.

Die Bäume bildeten letzt nicht mehr undurchdringliche Gehölze, dagegen zeigten sie mehr Wechsel der Arten. Hier erhoben sich Palmen, welche ein in Afrika sehr gesuchtes Oel liefern, dort Baumwollenstauden von acht bis zehn Fuß Höhe, aus deren holzigen Stengeln ein der Baumwolle von Fernambuco ähnliches, langfaseriges Product erzeugt wird. Wieder an anderen Stellen ließen Copalbäume aus kleinen, von dem Rüssel gewisser Insecten gebohrten Oeffnungen ihr wohlriechendes Harz ausschwitzen, das bis zum Erdboden herablief und sich daselbst für die Bedürfnisse der Eingebornen ansammelte. Hier standen Citronenbäume, wilde Granaten und zwanzig andere Baumspecies zerstreut umher, ein schönes Zeugniß für die Fruchtbarkeit der innerafrikanischen Niederungen. Gleichzeitig ward auch der Geruchsinn durch einen zarten Vanilleduft angenehm erregt, ohne daß man die Pflanze, welche ihn ausströmte, hätte nachweisen können.

Alle diese Bäume und Sträucher grünten üppig trotz der eben herrschenden trockenen Saison, während der nur vereinzelte Gewitter diese reichen ergiebigen Gegenden benetzen. Jetzt war auch die Zeit der Fieber; von diesen kann man sich jedoch, wie Livingstone bemerkt, meistens befreien, indem man die Orte, wo jene erworben wurden, schleunig verläßt. Dick Sand kannte diese Beobachtung des berühmten Reisenden und hoffte, daß sie sich auch bei dem kleinen Jack bewähren würde. Er sprach davon gegen Mrs. Weldon, nachdem er sich überzeugt, daß der erwartete periodische Fieberanfall ausgeblieben war und das Kind friedlich in Herkules' Armen ruhte.

Man wanderte also vorsichtig und schnell weiter. Manchmal zeigten sich neuere Spuren von vorübergekommenen Menschen und Thieren. Die[259] zurückgebogenen oder abgebrochenen Aeste der Gebüsche gestatteten dann ein ungehindertes Vordringen. Den größten Theil der Zeit aber hielten allerlei erst zu besiegende Hemmnisse die kleine Gesellschaft zu Dick Sand's großem Leidwesen auf. Hier waren es verschlungene Lianen, welche man treffend mit der in Unordnung gerathenen Takelage eines Schiffes verglichen hat, oder Reben, ähnlich etwa gezogenem Damascenerstahle, dessen Fasern mit Stacheln besetzt wären; fünfzig bis sechzig Fuß lange Schlangengewächse mit der unangenehmen Eigenschaft, daß sie sich erst zurückbiegen und dann den Vorübergehenden mit ihren spitzen Dornen verletzen. Mit mächtigen Beilhieben erzwangen die Neger wohl einen Durchgang, doch immer und immer wieder standen sie vor solchen Schlingpflanzen, welche die höchsten Bäume von der Wurzel bis zum Gipfel umrankten.

Auch das Thierreich dieser Provinz war nicht minder merkwürdig. In großer Anzahl flatterten die Vögel unter diesem mächtigen Laubdache umher, hatten aber erklärlicher Weise keinen Flintenschuß von Leuten zu fürchten, denen selbst daran lag, unbemerkt und schnell vorwärts zu kommen. Hier gab es Perlhühner in ganzen Schwärmen, sehr flüchtige und schöne Haselhühner verschiedener Art, sowie auch einzelne jener Vögel, welche die Nordamerikaner durch Onomapoetikon »Whip-poor-will« genannt haben, drei Silben, welche ihr Geschrei sehr bezeichnend wiedergeben. Dick Sand und Tom hätten hier fast glauben können, in irgend einer Provinz der Neuen Welt dahin zu wandern – leider wußten sie, daß das nicht der Fall war.

Bis jetzt waren reißende Thiere, welche in Afrika so gefährlich sind, der kleinen Gesellschaft noch nicht zu nahe gekommen. Im Verlaufe des ersten Tages bekam man noch einmal Giraffen zu Gesicht, welche Harris ohne Zweifel – aber diesmal gänzlich ohne Erfolg – für Strauße ausgegeben hätte. Diese leichtfüßigen Thiere entflohen eiligst, offenbar erschreckt durch die Erscheinung einer Karawane in diesen sonst nur wenig besuchten Wäldern. In der Ferne, am Rande der Wiesen, wirbelte manchmal eine dichte Staubwolke auf, welche von einer Büffelheerde ausging, die mit dem Geräusche schwer belasteter Wagen dahingaloppirte.

Zwei Meilen weit ging Dick Sand so dem Laufe des Baches nach, der in irgend einen bedeutenderen Fluß ausmünden sollte. Ihm lag es am Herzen, seine Begleiter erst der raschen Strömung eines Küstenflusses anvertraut[260] zu haben. Er rechnete stark darauf, daß Gefahren und Anstrengungen sich dann vermindern würden.

Gegen Mittag waren drei Meilen ohne schlimmeren Zwischenfall zurückgelegt. Von Harris und Negoro keine Spur. Dingo war noch immer nicht wiedergekommen.

Man mußte jetzt Halt machen, um auszuruhen und etwas Nahrung zu nehmen.

In einem Bambusdickicht, das die kleine Gesellschaft vollständig verbarg, wurde das Lager aufgeschlagen.

Man sprach nur wenig während der Mahlzeit. Mrs. Weldon hatte ihren kleinen Knaben wieder im Arme und blickte ihn unverwandt sorgenvoll an; sie konnte nichts genießen.

»Sie müssen aber ein wenig essen, Mistreß Weldon, drängte sie Dick Sand wiederholt. Was soll aus Ihnen werden, wenn die Kräfte Sie verlassen? Essen Sie, ich bitte! Wir müssen uns bald wieder auf den Weg machen und später trägt eine freundliche Strömung uns mühelos bis zur Küste!«

Mistreß Weldon sah Dick Sand gerade in's Gesicht, als er so zu ihr sprach. Die feurigen Augen des jungen Leichtmatrosen bezeugten den guten Muth, der ihn belebte. Als sie ihn so sah, als ihre Blicke auf die braven, so treu ergebenen Neger fielen, da wollte auch sie als Frau und Mutter nicht mehr verzweifeln. Und weshalb sollte sie auch so niedergeschlagen sein? Glaubte sie nicht, in einem gastlichen Lande zu reisen? In ihren Augen konnte ja Harris' Verrath so gar schwere Folgen nicht nach sich ziehen Dick Sand errieth wohl den Gang ihrer Gedanken, und er, er war eher versucht entmuthigt den Kopf zu senken.[261]

Quelle:
Jules Verne: Ein Kapitän von fünfzehn Jahren. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XXVII–XXVIII, Wien, Pest, Leipzig 1879, S. 250-262.
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