Siebentes Capitel.
Ein Lager am Ufer der Coanza.

[299] Nach der Ueberschwemmung, welche einen See gemacht hatte aus dieser Ebene, aus der sich die Termiten-Ansiedelung erhob, bot das Land einen völlig veränderten Anblick. Etwa zwanzig Ameisenbauten tauchten daraus mit ihrer Spitze empor und bildeten die einzigen hervorragenden Punkte dieser breiten Mulde.

Die Coanza war es, welche über Nacht in Folge der Zuströmung ihrer, durch den Gewitterregen geschwellten Nebenflüsse übergetreten war.

Diese Coanza, einer der Ströme von Angola, mündet in den Atlantischen Ocean etwa hundert Meilen von dem Punkte, wo der »Pilgrim« gescheitert war. Es ist das derselbe Fluß, den Lieutenant Cameron einige Jahre später überschreiten mußte, bevor er Benguela erreichte.

Die Coanza ist bestimmt, einst die Ader des Binnenverkehrs dieses Theiles der portugiesischen Kolonie zu bilden. Schon befahren Dampfer ihren Unterlauf, und es werden keine zehn Jahre vergehen, bis sie auch den oberen Lauf dem Verkehre dienstbar machen. Dick Sand hatte also ganz recht daran gethan, nach Norden zu einen schiffbaren Fluß zu suchen. Der kleine Bach, dem er nachgegangen war, floß auch selbst in die Coanza. Ohne jenen plötzlichen Ueberfall, vor dem ihn ja nichts zu warnen im Stande gewesen war, hätte er jenen eine Meile von hier gefunden; seine Gefährten und er hätten sich auf einem leicht herzustellenden Flosse eingeschifft und die beste Aussicht gehabt, auf der Coanza hinab bis zu den portugiesischen Flecken zu schwimmen, wo die Steamer Halt machen. Dort aber war ihre Rettung gesichert.

Es sollte anders kommen.

Das von Dick Sand bemerkte Lager war auf einer dem Termitenhügel benachbarten Höhe errichtet, in welchen sein Unstern ihn wie in eine Falle verlockt hatte. Auf dem Gipfel jener Anhöhe strebte eine gewaltige Sykomore[299] empor, welche unter ihrem Blätterdache wohl fünfhundert Menschen Schutz gewährt hätte. Wer diese Baumriesen Central-Afrikas nicht selbst gesehen hat, vermag sich kaum eine richtige Vorstellung von denselben zu machen. Ihre Aeste bilden einen ganzen Wald, in dem man sich verirren könnte. Weiterhin vervollständigten sehr große Bananen, von der Gattung, deren Samenkörner sich nicht zu Früchten ausbilden, den grünen Rahmen der ausgedehnten Umgebung.

Unter dem Schutze jener Sykomore hatte, wie verborgen in geheimnißvollem Obdach, eine ganze Karawane – deren Eintreffen Harris schon Negoro meldete – Halt gemacht.

Der große Zug von Eingebornen, welche die Agenten des Sklavenhändlers Alvez aus ihrer Heimat entführt hatten, bewegte sich nach dem Markte in Kazonnde hin. Von dort aus sollten die Sklaven, je nach Bedarf, entweder in die Baracken an der Westküste übergeführt oder nach N'yangwe, in die Gegend der großen Seen, gebracht werden, um sie endlich entweder nach Ober-Egypten oder nach den Factoreien von Zanzibar zu vertheilen.

Gleich nach ihrer Ankunft im Lager erfuhren Dick Sand und seine Gefährten ganz die Behandlung wie Sklaven. Der alte Tom aber, ebenso wie sein Sohn, Austin, Acteon und die arme Nan, obgleich Neger von Ursprung, doch keine Zugehörigen der afrikanischen Race, mußten gar die gewöhnliche Behandlung kriegsgefangener Eingeborner erdulden. Nachdem man sie trotz lebhaften Widerstandes entwaffnet, wurden sie je Zwei und Zwei am Halse mittelst einer 2 bis 21/2 Meter langen, an beiden Enden gabelförmigen und daselbst mit einem Quereisen geschlossenen Stange gefesselt. So waren sie genöthigt, in gerader Linie, Einer hinter dem Anderen, zu marschiren, ohne weder nach rechts, noch nach links abweichen zu können. Aus übertriebener Vorsicht verband sie auch noch eine schwere Kette am Gürtel. Die Arme behielten sie dabei frei, um noch Lasten zu tragen, die Füße, um zu marschiren, ohne daß ihnen eine Flucht möglich gewesen wäre. Auf diese Weise sollten sie nun, unter den Peitschenhieben eines rohen Havlidars, Hunderte von Meilen zurücklegen! Erschlafft von der Anspannung, welche den ersten Minuten ihres Kampfes gegen die Neger folgte, versuchten sie gar keine Bewegung. O, warum hatten sie Herkules auf seiner Flucht nicht folgen können! Und doch, was war für den Flüchtling wohl zu hoffen?[300]

Was konnte trotz seiner außerordentlich kräftigen Constitution aus ihm werden in diesem ungastlichen Lande, wo der Hunger, die Verlassenheit, die wilden Thiere und die Eingebornen ihm gleichmäßig feindlich waren? Würde er sich nicht bald ebenfalls das Loos seiner Gefährten wünschen? Und doch hatten diese kein Erbarmen zu erwarten von den arabischen oder portugiesischen Führern der Karawane, deren Sprache sie nicht verstanden und welche ihre Befehle nur durch Blicke und drohende Bewegungen kundgaben.

Dick Sand selbst war leicht mit einem anderen Sklaven zusammengekoppelt worden. Als einen Weißen hatte man nicht gewagt, ihn der gebräuchlichen Be- oder vielmehr Mißhandlung zu unterwerfen. Man begnügte sich, ihn zu entwaffnen, ließ ihm jedoch Hände und Füße frei, während ein Havildar ihn besonders überwachte. Ringsum durchspähte er das Lager, in der Erwartung, Harris und Negoro erscheinen zu sehen..... Vergeblich! Nichtsdestoweniger zweifelte er keinen Augenblick daran, daß der Angriff auf den Termitenhügel von diesen zwei Schurken in's Werk gesetzt worden sei.

Auch der Gedanke kam ihm, daß Mrs. Weldon, der kleine Jack und Vetter Benedict nur auf Befehl des Amerikaners oder des Portugiesen getrennt für sich weggeschleppt wurden; da er Niemanden von diesen sah, so schloß er daraus, daß jedenfalls die beiden Spießgesellen ihre Opfer selbst geleiten möchten. Wohin aber führte man sie? Was beabsichtigte man mit ihnen? das war seine peinlichste Sorge. Dick Sand vergaß gänzlich seiner selbst, nur um an Mrs. Weldon und die Ihrigen zu denken.

Die unter der ungeheuren Sykomore gelagerte Karawane zählte nicht weniger als 800 Köpfe, nämlich 600 Sklaven und etwa 200 Krieger, Lastträger und anderes verdächtiges Gesindel, Wächter, Havlidars und Agenten oder Chefs.

Diese Chefs waren arabischen oder portugiesischen Ursprungs. Nur schwer vermag man sich eine Vorstellung von den Grausamkeiten zu machen, mit welcher die entmenschten Wesen ihre Gefangenen quälten. Sie schlagen diese unaufhörlich, und Denjenigen, welche erschöpft zusammenbrechen und nicht mehr verkäuflich erscheinen, wird durch einen Flintenschuß oder einen Messerstich einfach der Garaus gemacht. Man sucht auf diese Weise jede Auflehnung im Voraus durch den Schrecken zu ersticken; als Resultat dieses Systems ergiebt sich aber, daß dem Händler beim Eintreffen einer solchen[301] Karawane von hundert Sklaven fünfzig fehlen, wobei nur von wenigen derselben anzunehmen ist, daß es ihnen gelang, unterwegs zu entwischen, während die Gebeine der meisten längs der Wege vom Innern nach der Küste hin im Sonnenbrande bleichen.

Selbstverständlich recrutiren sich die Agenten europäischer Herkunft, meist Portugiesen, aus Taugenichtsen, welche von der eigenen Heimat verstoßen wurden, aus Verurtheilten, entsprungenen Sträflingen, vormaligen Sklavenschiff-Führern, die mit genauer Noth dem Stricke entgingen, mit einem Wort, aus dem Auswurfe der Menschheit. Zu dieser Sorte gehörten auch Harris und Negoro, jetzt Beide im Dienste eines der bedeutendsten Sklavenhändler Central-Afrikas, des Jose-Antonio Alvez, der unter allen Händlern wohl bekannt war und über den Lieutenant Cameron sehr merkwürdige Aufschlüsse gegeben hat.

Die Begleitmannschaften der Gefangenen sind gewöhnlich eingeborne, im Solde der Händler stehende Soldaten. Die Händler besitzen gleichwohl nicht das ausschließliche Monopol auf jene Razzias, die ihnen die Sklaven liefern. Auch die Negerkönige führen zu demselben Zwecke furchtbare Kriege mit einander; die besiegten Erwachsenen, die Frauen und Kinder, Alle verfallen dem Sklavenjoche und werden von den Siegern an die Sklavenhändler für einige Yards Calicot, für Pulver, Schießwaffen, rosenrothe oder brennendrothe Perlen und, wie Livingstone erzählt, in Zeiten von Hungersnoth für einige Körnchen Mais verkauft.

Die Soldaten, welche des alten Alvez Karawanen escortirten, konnten eine richtige Vorstellung von dem geben, was man sich unter afrikanischen Kriegern zu denken hat. Sie bildeten einen Haufen schwarzer, kaum bekleideter Banditen, welche lange, am Laufe von vielen Kupferringen fest umschlossene Feuerschloß-Gewehre schwangen. Mit einer solchen Escorte, zu denen noch die Marodeurs kommen, welche ebenso wenig werth sind, haben die Agenten häufig ihre liebe Noth. Man bekrittelt ihre Befehle, schreibt Ort und Dauer des Anhaltens vor, droht, sie im Stich zu lassen u.s.w., und nicht selten müssen jene sich den Anforderungen dieser undisciplinirten Soldateska fügen.

Obwohl die Sklaven, Männer und Frauen, gewöhnlich selbst Bündel und Lasten schleppen müssen, während die Karawane auf der Reise ist, begleiten letztere doch auch noch eine große Anzahl »Träger«. Man nennt sie specieller »Pagazis«, und ihnen liegt es ob, das werthvollere Gepäck,[302] vorzüglich das Elfenbein, zu transportiren. Diese Elefantenzähne erreichen zuweilen eine solche Größe, daß sie, bei einem Gewichte von 169 Pfund, von zwei Pagazis nach den Factoreien getragen werden, von wo aus diese kostbare Waare nach den Märkten von Chartum, Zanzibar und Natal übergeführt wird. Bei der Ankunft erhalten die Pagazis ihren bedungenen Lohn, der in einigen zwanzig Yards Baumwollenstoff oder von dem Gewebe, das den Namen »Merikani« führt, ein wenig Pulver, einer handvoll Cauris,1 einigen Perlen oder auch aus solchen Sklaven besteht, welche schwerer verkäuflich erscheinen, wenn der Händler eben kein anderes Geld hat.

Unter den 500 Sklaven, welche die Karawane zählte, bemerkte man nur wenig reifere Männer. Es kam das davon her, daß nach Beendigung der Razzia und Niederbrennung der betreffenden Ansiedelung alle Eingebornen über vierzig Jahre erbarmungslos niedergemetzelt oder an den Bäumen der Umgebung aufgeknüpft worden waren. Nur die männliche und weibliche Jugend wird nach den Märkten geliefert. Nach solchen Menschenhetzen ist oft kaum noch der zehnte Theil der Besiegten am Leben. Auf diese Weise erklärt sich jene erschreckende Entvölkerung, welche die ungeheuren Gebiete Central-Afrikas in Wüsten verwandelt.

Die Kinder, wie die Erwachsenen, waren hier kaum mit einem Fetzen jenes Rindenstoffes bekleidet, den gewisse Baumarten liefern und der im Lande »Mbuzu« heißt. Der Gesammtzustand dieser Heerde menschlicher Wesen, die Weiber bedeckt mit Wunden von den Peitschen der Havlidars; die Kinder – welche die Mütter außer ihren anderen Lasten noch zu tragen suchten – elend, abgemagert und blutend an den Füßen; die jungen Männer eng geschlossen mit dem erwähnten Gabelholze, das noch schmerzlicher zu tragen ist als die Kette des Bagno, war ein über alle Beschreibung jämmerlicher. Der Anblick dieser Unglücklichen, halbtodten Geschöpfe mit tonloser Stimme, dieser »Ebenholz-Skelete«, wie Livingstone sagte, hätte wohl das Herz wilder Thiere zu rühren vermocht; nicht aber jener verhärteten Araber oder Portugiesen, welch' letztere, wenn man Lieutenant Cameron glauben darf, noch grausamer sein sollen.2[303]

Es versteht sich von selbst, daß die Gefangenen während des Marsches und während des Ausruhens gleichmäßig streng bewacht wurden. Dick Sand überzeugte sich bald, daß ein Fluchtversuch nicht einmal zu wagen wäre. Wie aber sollte er dann Mrs. Weldon wiederfinden? Daß sie nebst ihrem Kinde von Negoro entführt seien, schien nur zu gewiß. Der Portugiese hatte es offenbar veranlaßt, sie von ihren Gefährten zu trennen; aus Gründen freilich, welche der junge Leichtmatrose bisher noch nicht errieth; immerhin stand für ihn das außer Zweifel, daß Negoro seine Hand bei Allem im Spiele habe, und sein Herz brach bei dem Gedanken an die Gefahren aller Art, welche Mrs. Weldon bedrohten.

»O, sprach er leise für sich hin, wenn ich bedenke, daß ich diese beiden Schurken vor meinem Flintenlauf hatte und ihnen nicht das Lebenslicht ausblies!...«

Dieser Gedanke war es, der in Dick Sand's Kopfe immer und immer wieder aufstieg. Wie viel Unglück hätte der Tod, der wohlverdiente Tod Harris und Negoro's verhütet! Wie viel Elend Denen erspart, welche diese Schacherer mit Menschenfleisch jetzt als Sklaven mißhandelten!

Das Furchtbare der Lage Mrs. Weldon's und des kleinen Jack trat deutlich vor seine Augen. Weder die Mutter noch das Kind durften auf Vetter Benedict rechnen. Der arme Mann konnte sich vielleicht kaum selber helfen. Jedenfalls schleppte man alle Drei nach irgend einem entlegenen Districte von Angola. Wer trug dann aber das noch kränkelnde Kind?

»Seine Mutter, gewiß, seine Mutter! wiederholte sich Dick Sand. Für ihr Söhnchen wird sie die nöthigen Kräfte wiedergefunden, dasselbe gethan haben, wie jene unglücklichen Sklaven... und sie wird endlich umsinken wie[304] jene. Ach, daß Gott mich doch zusammenführen möchte mit ihren Henkern, wie wollte ich...«


Das Zeichen zum Aufbruch ward gegeben. (S. 309.)
Das Zeichen zum Aufbruch ward gegeben. (S. 309.)

Er war ja Gefangener! Er zählte nur als Kopf in der Heerde, welche Havildars in das Innere von Afrika trieben. Er wußte ja nicht einmal, ob Negoro und Harris persönlich jene Zugsabtheilung führten, zu welcher die[305] Opfer ihrer Schandthaten gehörten. Dingo fehlte ja auch, um die Spur des Portugiesen aufzufinden und seine Annäherung zu melden. Herkules allein konnte der unglücklichen Mrs. Weldon zu Hilfe kommen. War auf solch' ein Wunder aber zu hoffen?

Immerhin klammerte sich Dick Sand an diesen Gedanken, da er den kräftigen Neger frei wußte. An seinem guten Willen zu zweifeln, kam ihm gar nicht in den Sinn. Gewiß würde Herkules für Mrs. Weldon Alles thun, was nur in der Macht eines Einzelnen lag. Er versuchte jedenfalls, ihre Spuren zu entdecken und sich mit ihr in Verbindung zu setzen, oder er bestrebte sich, wenn ihm jenes nicht gelang, mit Dick Sand in Einvernehmen zu kommen, ihn vielleicht zu entführen und durch einen Gewaltstreich zu befreien. Konnte er sich nicht auf einem nächtlichen Halteplatze unbemerkt unter die Neger, mit denen er ja die gleiche Hautfarbe hatte, mengen, bis zu ihm heranschleichen, die Wachsamkeit der Soldaten überlisten, seine Fesseln sprengen und ihn nach dem Walde bringen; und was würden sie Beide im Vollgenuß der Freiheit für Mrs. Weldon Alles thun? Ein Wasserlauf würde ihnen gewiß die Möglichkeit bieten, bis zur Küste hinab zu gelangen, und Dick Sand wollte dann den früheren, durch den Ueberfall seitens der Eingebornen so traurig unterbrochenen Plan mit besserer Aussicht auf Gelingen und größerer Kenntniß seiner Schwierigkeiten jedenfalls wieder aufnehmen.

So schwankte der junge Leichtmatrose immer zwischen Furcht und Hoffnung. Dank seiner energischen Natur, widerstand er dabei jedoch einer vollständigen Erschlaffung und hielt sich bereit, die erste sich darbietende günstige Gelegenheit zu benutzen.

Zunächst kam es vorzüglich darauf an, zu erfahren, nach welchem Markte die Agenten ihren Sklaven-Transport leiteten. War dieser Platz eine der Factoreien von Angola, so handelte es sich nur um einen Marsch von wenigen Tagen, oder sollte der Zug viele Hunderte von Meilen durch das Innere von Afrika gehen? Der Haupt-Sklavenmarkt nämlich ist der von N'yangwe, in Manyema, unter dem Meridiane, der Afrika nahezu in zwei Hälften theilt, da, wo sich das Gebiet der großen Seen weithin ausdehnt, das Livingstone dereinst bereiste. Von dem Lager der Coanza war es aber sehr weit bis nach jener Ansiedelung und es bedurfte wohl mehrerer Monate, um dieselbe zu erreichen.[306]

Diese Frage verursachte Dick Sand die meiste Sorge, denn wenn sie einmal in N'yangwe waren, wie schwer, selbst wenn Mrs. Weldon, Herkules und den anderen Negern die Flucht dort glückte, wenn nicht gar unmöglich, mußte es ihnen werden, ringsum von Gefahren bedroht die Küste wieder zu erreichen.

Dick Sand überzeugte sich indeß bald, daß der Zug seinen Bestimmungsort in kurzer Zeit erreichen werde. Verstand er auch die Worte der Karawanen- Führer, welche bald arabisch, bald das afrikanische Idiom sprachen, gar nicht, so fiel ihm doch die häufig wiederholte Erwähnung des Haupt-Sklavenmarktes dieser Gegend besonders auf. Es war das der Name Kazonnde, und er wußte recht gut, daß dort ein lebhafter Negerhandel getrieben wurde. Das führte ihn natürlich zu dem Schlusse, daß sich dort das Schicksal der Gefangenen entscheiden müßte, und diese entweder für Rechnung eines Stammeshäuptlings des Districtes oder für die eines reichen Sklavenhändlers zum Verkauf gestellt würden. Wir wissen, daß er sich hierin nicht täuschte.

Dick Sand kannte bei seinem Vertrautsein mit den Ergebnissen der neuesten Geographie schon Alles, was man von Kazonnde wußte. Die Entfernung zwischen San Pablo de Loanda und diesem Orte überstieg nicht 400 Meilen, und folglich lagen höchstens 250 Meilen zwischen demselben und dem Lager an der Coanza. Dick Sand stellte seine Wahrscheinlichkeitsrechnung auf mit Zugrundelegung der von der kleinen Gesellschaft unter Harris' Führung zurückgelegten Wegstrecke. Unter gewöhnlichen Verhältnissen konnte der Marsch dorthin also nur zehn bis zwölf Tage in Anspruch nehmen. Verdoppelte er diese Zeit im Hinblick auf eine schon durch weite Wege erschöpfte Karawane, so schätzte er die Dauer der Reise von der Coanza bis Kazonnde auf höchstens drei Wochen. Gern hätte Dick Sand von dem, was er wußte, auch Tom und den Uebrigen Mittheilung gemacht. Es mußte ja eine Art Trost für sie darin liegen, zu wissen, daß sie nicht bis in das Herz Afrikas, in jene verderbenschwangeren Gegenden geschleppt würden, aus denen eine Rückkehr unmöglich erscheint. Einige im Vorübergehen ihnen zugeflüsterte Worte hätten ja hingereicht, sie davon in Kenntniß zu setzen. Sollte es ihm gelingen, diese kurze Mittheilung zu machen?

Tom und Bat – der Zufall hatte Vater und Sohn vereinigt – sowie Acteon und Austin befanden sich, zu Zwei und Zwei aneinander gefesselt, an[307] der rechten Seite des Lagers, wo ein Havildar und ein Dutzend Soldaten sie bewachten.

Da sich Dick Sand freier zu bewegen vermochte, beschloß er, die Entfernung, welche ihn von der etwa fünfzig Schritt entfernten Gruppe mit seinen Gefährten trennte, allmälig und scheinbar ohne Absicht zu verringern.

Wahrscheinlich errieth der alte Tom Dick Sand's Gedanken. Ein leise gesprochenes Wort genügte, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Sie verstummten, lauschten aber gespannt mit Augen und Ohren.

Ohne seine Absicht zu verrathen, hatte Dick Sand weiter fünfzig Schritt zurückgelegt. Er befand sich den Anderen jetzt so nahe, daß er sich Tom durch lautes Sprechen wohl hätte verständlich machen, ihm den Namen Kazonnde zurufen und die wahrscheinliche Dauer des Marsches mittheilen können; doch erschien es ihm rathsamer, womöglich noch weitere Aufklärung zu erlangen und sich nach deren Ausfall mit ihnen über die während der Reise zu beobachtende Haltung zu verständigen. Er näherte sich jenen nach und nach weiter. Schon klopfte das Herz ihm lauter, er befand sich nur noch wenige Schritte von dem erwünschten Ziele, als der Havildar, dem über seine Absichten offenbar ein Licht aufgegangen war, auf ihn zustürzte. Der Ruf des Wüthenden zog schnell zehn Soldaten herbei, welche Dick Sand mit roher Faust zurückführten, während Tom und die Seinigen nach der anderen Seite des Lagers getrieben wurden.

Dick Sand hatte sich erbittert auf den Havildar geworfen und es gelang ihm, dessen Gewehr, das er ihm fast entrissen hätte, wenigstens untauglich zu machen, als ihn sechs oder sieben Soldaten mit einem Male überfielen und ihn nöthigten, seine Beute wieder aufzugeben. In ihrer Wuth hätten ihn diese sicherlich umgebracht, wenn nicht einer der Karawanen-Führer, ein hochgewachsener, wildblickender Araber, dazwischen getreten wäre. Dieser Araber war niemand Anderer als der von Harris erwähnte Chef Ibn Hamis selbst. Er sprach nur wenige, Dick Sand völlig unverständliche Worte, welche die Soldaten veranlaßten, ihren Gefangenen frei zu geben und sich zu entfernen.

Dieser Zwischenfall lieferte einerseits den Beweis, daß ein bestimmter Befehl vorliegen müsse, Dick Sand jede Verbindung mit den Seinigen abzuschneiden, und andererseits den, daß sein Leben unbedingt geschont werden[308] solle. Von wem Anderen konnten diese Anordnungen aber herrühren, wenn nicht von Harris oder Negoro?

Eben jetzt – am 19. April, neun Uhr des Morgens – erklangen die dumpfen Töne der »Kudu«-Hörner3 und schlugen die Tambours einen Wirbel. Die Rast ging zu Ende.

Chefs, Soldaten, Träger, Sklaven, Alle waren sofort auf den Füßen. Mit Gepäck beladen, bildeten sich einzelne Gruppen Gefangener je unter einem Havildar, der eine Art grellfarbiger Fahne entrollte.

Das Zeichen zum Aufbruch ward gegeben.

Bald erklang ein monotoner Gesang, doch es waren die Besiegten, nicht die Sieger, welche ihn anstimmten.

Der Inhalt dieser Gesänge lief auf eine Drohung hinaus, in welcher der naive Sklaven-Glaube sich widerspiegelte.

»Ihr habt mich zur Küste hinabgeschleppt – das war etwa der Sinn des Textes – doch wenn ich einst todt bin, werd' ich kein Joch mehr tragen und wiederkommen, Euch zu tödten!«

Fußnoten

1 Eine dortzulande sehr häufige Art kleiner, als Münze dienender Muscheln.


2 Cameron berichtet wie folgt: »Zur Erlangung jener fünfzig Frauen, deren Eigenthümer Alvez sich nannte, wurden nicht weniger als zehn Dörfer zerstört, zehn Dörfer mit je 100 bis 200 Seelen, in Summa 1500 Eingeborne umgebracht; Einzelnen mag es wohl gelungen sein, zu flüchten; die Mehrzahl aber – ja, fast Alle – waren entweder in den Flammen umgekommen, bei Vertheidigung ihrer Angehörigen getödtet worden, oder in den Dschungeln langsam durch Hunger gestorben, wenn nicht wilde Thiere ihren Leiden ein schnelles Ziel setzten.... Diese Gräuelthaten, im Innern von Afrika begangen von Menschen, welche sich damit brüsten, Christen zu sein und sich noch immer Portugiesen nennen, dürften den Bewohnern civilisirter Länder geradezu unglaublich erscheinen. Unmöglich kann die Regierung von Lissabon Kenntniß haben von den Grausamkeiten jener Leute, welche ihre Flagge führen und sich rühmen, ihre Staatsangehörigen zu sein,«

(Tour de mondes.)

NB. In Portugal hat man allerdings gegen obige Behauptungen Cameron's protestirt.


3 »Kudu«, der Name eines in Afrika heimischen Wiederkäuers.


Quelle:
Jules Verne: Ein Kapitän von fünfzehn Jahren. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XXVII–XXVIII, Wien, Pest, Leipzig 1879, S. 309.
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