Achtes Capitel.
Einige Anmerkungen Dick Sand's.

[309] Obwohl das Gewitter des vergangenen Tages ausgetobt hatte, blieb die Witterung doch stets sehr trübe. Es war jetzt nämlich die Zeit der »Masika«, d.i. die zweite Periode der Regenzeit unter dieser Zone des afrikanischen Himmels. Noch eine, zwei oder drei Wochen drohte Regen mindestens während der Nächte, ein Umstand, der die Mühsale der Karawane nur zu steigern geeignet schien.[309]

Sie brach an diesem Tage bei bedecktem Himmel auf und wandte sich von dem Ufer der Coanza ziemlich genau nach Osten.

Etwa fünfzig Soldaten marschirten an der Spitze, je hundert an den beiden Seiten des Zuges, die übrigen als Nachtrab hinter diesem. Eine Flucht wäre für die Gefangenen, selbst ohne ihre Fesseln, gewiß sehr schwierig gewesen. Männer, Frauen und Kinder wanderten bunt durcheinander und die Havlidars trieben sie mit Peitschenhieben zur Eile an. Unter jenen schleppten sich unglückliche Mütter dahin, die, während sie ein kleines Kind nährten, mit dem freibleibenden Arme noch ein zweites trugen. Andere zogen die kleinen nackten und barfüßigen Wesen über das spitze Gras des Bodens hinter sich her.

Der Chef der ganzen Karawane, jener wilde Ibn Hamis, der bei Dick Sand's Streite mit seinem Havildar intervenirte, überwachte die ganze Menschenheerde und war bald an der Spitze, bald am Ende des langen Zuges. Kümmerten sich seine Agenten, wie er selbst, auch blutwenig um die Leiden ihrer Gefangenen, so mußten sie doch auf die Soldaten, welche eine Lohnzutage verlangten, oder auf die Pagazis, wenn diese ausruhen wollten, entschieden mehr Rücksicht nehmen. Dadurch entstanden wiederholt Zänkereien, welche nicht selten zu brutalen Thätlichkeiten ausarteten. Die Sklaven aber hatten unter dieser stets gereizten Stimmung der Havlidars nur doppelt zu leiden. Man hörte nichts Anderes mehr als Drohungen von der einen und Klagerufe von der anderen Seite, und Diejenigen, welche in den letzten Reihen marschirten, gingen über einen Erdboden, den das Blut ihrer Vordermänner röthete.

Die Gefährten Dick Sand's, welche stets sorgfältig in der ersten Abtheilung des Zuges gehalten wurden, konnten mit diesem unmöglich in Verbindung treten. Sie gingen reihenweise, eingeklemmt in die beschriebene schwere Holzgabel, welche jede Bewegung des Kopfes verhinderte. Die Peitschen schonten sie nicht weniger als ihre anderen bedauernswerthen Schicksalsgenossen.

In einer Koppel mit seinem Vater ging Bat vor diesem her, bemühte sich nach Kräften, die Gabel vor Stößen zu bewahren, und wählte sorgsam die besten Wege aus, die der alte Tom ja nach ihm gehen mußte. Von Zeit zu Zeit, wenn der Havildar ein wenig zurückblieb, flüsterte er einige ermuthigende Worte, welche Tom doch theilweise hörte. Er versuchte sogar[310] seinen Schritt zu verlangsamen, wenn er bemerkte, daß Tom ermüdete. Es war eine schwere Strafe für den braven Sohn, nicht einmal den Kopf nach dem geliebten Vater umwenden zu können. Tom hatte wohl die Befriedigung, seinen Sohn zu sehen, er bezahlte diese aber sehr theuer. Wie oft stürzten schwere Thränen aus seinen Augen, wenn Bat die Peitsche des Havlidars traf. Es war ihm schmerzlicher, als hätte sie seinen eigenen Rücken getroffen.

Austin und Acteon marschirten einige Schritte hinter ihnen; auch sie waren zusammengefesselt und jeden Augenblick der rohesten Behandlung ausgesetzt. O, wie beneideten sie Herkules' Loos! Welche Gefahren jenen auch in diesem entsetzlichen Lande bedrohen mochten, er konnte doch seine Kräfte gebrauchen und sein Leben vertheidigen.

Während der ersten Minuten ihrer Gefangenschaft hatte der alte Tom seinen Gefährten endlich auch die Wahrheit in ihrem vollen Umfange mitgetheilt. Zum größten Erstaunen erfuhren sie von ihm, daß sie in Afrika seien, daß der doppelte Verrath Negoro's und Harris' sie erst hierher verschlagen und dann erst landeinwärts geschleppt habe, und daß sie seitens ihrer jetzigen Herren auf Erbarmen bestimmt nicht rechnen durften.

Auch Nan traf keine bessere Behandlung. Sie war einer Gruppe Frauen zugetheilt, welche die Mitte des Zuges einnahmen, und zusammengefesselt mit einer jungen Mutter von zwei Kindern, deren eines diese noch an der Brust hatte, während das andere, im Alter von drei Jahren, kaum mitlaufen konnte. Von Mitleid bewegt, hatte Nan sich des kleinen Wesens angenommen und die arme Sklavin ihr durch eine Thräne gedankt. Nan trug also das Kind und ersparte diesem damit nicht nur die Strapazen, denen es unterlegen wäre, sondern auch die sonst gewiß nicht ausgebliebenen Peitschenstreiche des Havildars. Eine schwere Last war es aber für die alte Nan; sie fürchtete, daß ihre Kräfte bald schwinden würden und gedachte dabei des kleinen Jack. Sie stellte sich ihn vor in den Armen seiner Mutter. Wohl hatte die Krankheit ihn abgemagert, doch für die geschwächten Arme der Mrs. Weldon mochte er immer noch zu schwer sein. Wo aber befand sich jene? Was wurde aus ihr? Sollte ihre alte Dienerin sie jemals wiedersehen?

Dick Sand hatte seinen Platz fast am Ende des Zuges angewiesen erhalten, so daß er weder Tom und dessen Gefährten, noch Nan sehen konnte.


In einer Koppel mit seinem Vater ging Bat vor diesem her. (S. 310.)
In einer Koppel mit seinem Vater ging Bat vor diesem her. (S. 310.)

Die Spitze der langen Karawane ward für ihn überhaupt nur sichtbar, wenn diese eine größere Ebene überschritt. Er marschirte stumm dahin, versunken in seine traurigen Gedanken, aus denen ihn die Rufe und das Geschrei der Agenten kaum zu erwecken vermochten. Er dachte dabei weder an sich selbst oder an[311] die Strapazen, welche ihm noch bevorständen, noch an die Qualen, die Negoro ihm vielleicht für später aufgespart hatte. Er dachte nur an Mrs. Weldon.


Frauen und Kinder wurden von den Krokodilen erhascht. (S. 316.)
Frauen und Kinder wurden von den Krokodilen erhascht. (S. 316.)

Vergeblich suchte er auf der Erde, an den Dornen neben den Fußpfaden, am niedrigen Gezweig irgend eine Spur von ihr zu entdecken. Wenn man auch sie,[312] wie er annehmen zu dürfen glaubte, nach Kazonnde führte, konnte sie einen anderen Weg nicht gehen. Was hätte er nicht dafür gegeben, eine Andeutung dafür zu finden, daß die Dame sich unfreiwillig nach demselben Ziele begab, wohin auch sie befördert wurden![313]

Das war also körperlich und geistig die dermalige Lage Dick Sand's und seiner Gefährten. So sehr sie aber auch Ursache hatten, für sich selbst zu fürchten, so groß auch ihre eigenen Leiden waren, das Mitleid gewann in ihnen doch die Oberhand, wenn sie das entsetzliche Elend dieser traurigen Heerde von Gefangenen und die empörende Brutalität ihrer Führer mit ansahen. Ach, sie vermochten ja nichts zu thun, um den Einen zu helfen, nichts um den Anderen zu steuern!

Auf einige zwanzig Meilen östlich der Coanza bestand das Land aus einem ununterbrochenen Walde, doch waren die Bäume, ob sie nun durch die Angriffe der unzähligen Insecten jener Gegenden zu Grunde gingen oder die Elefantenheerden dieselben, wenn sie noch kleiner waren, umknickten und zertraten, minder zahlreich als in dem Küstengebiete. Dieses Gehölz bot der Karawane also weniger Hindernisse als verschiedenes Buschwerk, unter dem man 2∙3 bis 2∙5 Meter hohen Baumwollenstauden begegnete, welche das Rohmaterial zu den im Innern der Provinz sehr beliebten, schwarz und weiß gestreiften Stoffen liefern.

Manchmal erschien das Land auch zu wirklichen Dschungeln verwandelt, in denen der Zug vollkommen verschwand. Von allen hier heimischen Thieren hätten nur Elefanten und Giraffen mit den Köpfen dieses Schilfrohr überragt, das schon mehr Bambusstengeln ähnelte und wohl fünf Centimeter im Durchmesser hatte. Die Agenten mußten nothwendiger Weise eine sehr genaue Kenntniß des Landes besitzen, um sich hier nicht zu verirren.

Jeden Tag brach die Karawane mit Tagesanbruch auf und machte erst zu Mittag eine Stunde Halt. Dann öffnete man einige Ballen mit Manioc und vertheilte dieses Nahrungsmittel sehr sparsam unter die Sklaven. Dazu kamen einige Pataten, oder Ziegen- und Hammelfleisch, wenn die Soldaten im Vorüberziehen ein Dorf geplündert hatten. Die Erschöpfung Aller war aber so groß, die Rast so unzureichend, ja während der regnerischen Nächte sogar unmöglich, daß die Gefangenen, wenn die karge Nahrung ausgetheilt wurde, kaum etwas zu sich nehmen konnten. Acht Tage nach der Abreise von der Coanza waren auch schon zwanzig derselben zusammengebrochen, eine erwünschte Beute für die Raubthiere, welche hinter dem Zuge umherschwärmten. Löwen, Panther und Leoparden lauerten nur auf die unglücklichen Opfer, welche ihnen ja nicht entgehen konnten, und jeden Abend[314] hörte man nach Sonnenuntergang ihr Gebrüll so nahe, als ob man einen directen Angriff von ihnen fürchten sollte.

Bei diesem Brüllen, das in der Dunkelheit nur noch drohender klang, gedachte Dick Sand erschreckt der Hindernisse, welche ähnliche Begegnungen jedem Unternehmen Herkules' in den Weg legen müßten, der Gefahren, welche bei jedem Schritte auf ihn lauerten. Und doch hätte auch er nicht gezaudert, zu entfliehen, wenn sich ihm eine Gelegenheit dazu geboten hätte.

Wir lassen hier einige Notizen Dick Sand's aus den Tagen der Reise von der Coanza bis Kazonnde folgen. Dieser Zug von 250 Meilen erforderte 25 »Märsche«, da man einen »Marsch« (nach der Ausdrucksweise der Agenten) täglich zu je 10 Meilen bemaß.

– Vom 25 bis 27. April. – Ein von 21/2, bis 23/4 Meter hohem Schilfrohr umgebenes Dorf gesehen. Die Felder bestellt mit Mais, Bohnen, Sorgho und verschiedenen Arachiden (Erdnußbäumen). Zwei Neger eingefangen. Fünfzehn getödtet, die Bewohner auf der Flucht.

Am anderen Tage über einen 150 Yards breiten, rauschenden Fluß gesetzt. Baumstämme mit Lianen verbunden, dienten als Flöße. Eines derselben zerriß. Zwei mit einem Gabelholz gefesselte Weiber, deren eines sein Kind trug, in's Wasser gestürzt. Das Wasser wird unruhiger und röthet sich von Blut. Krokodile gleiten unter die verbundenen Stämme. Man kommt in Gefahr, den Fuß in ihren geöffneten Rachen zu setzen.

– Am 28. April. – Einen Bauhinienwald passirt. Hochstämmige Bäume, die den Portugiesen das Eisenholz liefern.

Starker Regen. Boden erweicht. Gehen sehr beschwerlich.

In der Mitte des Zuges die arme Nan gesehen, die noch einen kleinen Negerknaben trägt. Sie schleppt sich nur mühsam fort. Die mit ihr zusammengefesselte Sklavin hinkt und von ihren Schultern tröpfelt das Blut in Folge der grausamen Peitschenschläge.

Abends gerastet unter einem enormen Affenbrotbaum mit weißen Blüthen und zartgrünem Laube.

In der Nacht Gebrüll von Löwen und Leoparden. Ein Eingeborner giebt einen Schuß auf einen Panther ab. Was macht Herkules?

– Am 29. und 30. April. – Die erste Kälte des sogenannten afrikanischen Winters. Sehr reichlicher Thau. Ende der mit November[315] beginnenden Regenzeit gegen Ausgang April. Die Ebenen noch vielfach überschwemmt. Ostwind, der die Transpiration aufhebt, aber die Empfänglichkeit für Sumpffieber steigert.

Keine Spur von Mistreß Weldon oder Herrn Benedict. Wohin führt man wohl diese, wenn nicht nach Kazonnde? Sie werden denselben Weg, wie die Karawane, aber vor uns eingeschlagen haben. Die Unruhe verzehrt mich. Der kleine Jack wird in dieser ungesunden Gegend das Fieber wieder bekommen haben. Ist er überhaupt noch am Leben?...

– Vom 1. bis 6. Mai. – Während mehrerer Tagemärsche durch weite Ebenen gezogen, welche die starke Verdunstung noch immer nicht trocken zu legen vermochte. Das Wasser reicht uns manchmal bis zum halben Leibe. Unzählige Blutegel saugen sich an die Haut an. Dennoch muß Alles ohne Erbarmen weiter. Auf vereinzelt hervorspringenden Höhen Lotospflanzen und Papyrusstauden. Unter dem Wasser eine Menge kohlartiger Pflanzen, über welche der Fuß stolpert, so daß Viele dabei umfallen.

In dem Gewässer tummelt sich eine beträchtliche Menge kleiner, dem Geschlechte der Welse zugehöriger Fische, welche die Eingebornen zu Milliarden zwischen Flechtwänden aufbewahren und an die Karawanen verkaufen.

Es ist unmöglich, für die Nacht einen Lagerplatz zu finden. Man sieht noch kein Ende der überflutheten Fläche. Nun muß auch während der Nacht marschirt werden. Morgen werden nicht wenig Sklaven aus dem Zuge fehlen. Welch' ein Elend! Wer da fällt, warum sollte er aufstehen? Einige Minuten länger unter dem Wasser und Alles ist vorüber. Dann trifft der Stock des Havildars Niemanden mehr!

Ja – aber Mistreß Weldon und ihr Sohn! Ich habe nicht das Recht, sie zu verlassen! Ich werde ausharren bis an's Ende, das ist meine Pflicht!

Ein schreckliches Geschrei gellt durch die Nacht.

Zwanzig Soldaten haben Zweige der harzreichen, aus dem Wasser emporragenden Bäume abgerissen. Durch die Finsterniß glimmt ein unbestimmbares Leuchten.

Ein Angriff von Krokodilen war die Ursache jenes plötzlichen Lärmens. Zwölf bis fünfzehn dieser Ungeheuer stürzten sich in der Dunkelheit auf die eine Seite der Karawane. Frauen und Kinder wurden von ihnen erhascht und nach ihren »Weideplätzen« geschleppt. So bezeichnete Livingstone die[316] tieferen Löcher, in welchen diese Amphibien ihre vorher ertränkte Beute niederlegen, denn sie verzehren dieselbe nur, nachdem sie bis zu gewissem Grade zersetzt ist.

Ich selbst ward von dem Panzer eines solchen Krokodills hart gestreift. Ein erwachsener Sklave in meiner Nähe wurde erfaßt und von dem Gabelholze, das ihn am Halse fesselte, losgerissen. Die Gabel zerbrach dabei. Noch höre ich sein verzweifeltes Geschrei, sein Heulen vor wüthendem Schmerze!

– Am 7. und 8. Mai. – Tags darauf forschte man nach den Opfern. Zwanzig Sklaven waren verschwunden.

Mit Tagesanbruch suche ich nach Tom und seinen Gefährten. Gelobt sei Gott, sie leben noch! Doch ach, soll man Gott dafür dankbar sein? Ist nicht Der glücklicher zu preisen, der all' diesem Jammer entgangen ist?

Tom befindet sich an der Spitze des Zuges. Als sein Sohn Bat sich einmal bückte, stellte sich die Gabel schräg und jener konnte meiner ansichtig werden.

Die alte Nan hab' ich vergeblich gesucht. Befindet sie sich unter dem Menschenknäuel in der Mitte, oder ist sie in jener Schreckensnacht mit umgekommen?

Am nächsten Tag die Grenze des überschwemmten Gebietes erreicht nach vierundzwanzigstündigem Waten durch das Wasser. Auf einem Hügel Halt gemacht. Die Sonne trocknet uns nothdürftig. Es wird gegessen doch welch' erbärmliche Nahrung! Etwas Manioc, einige Hände voll Mais! Zum Trinken nur schlammiges Wasser. Wie viele der auf der Erde hingestreckten Gefangenen werden nicht wieder aufstehen?

Nein, unmöglich haben Mrs. Weldon und ihr Sohn solche Strapazen überstehen können! Gott wird ihnen wenigstens die eine Gnade erwiesen haben, sie auf besserem Wege nach Kazonnde führen zu lassen. Die unglückliche Mutter wäre hier zu Grunde gegangen!

In der Karawane neue Fälle von Spitzpocken, »Ndue«, wie sie sagen. Die Kranken werden nicht weit gehen können. Wird man sie einfach ihrem Schicksale überlassen?

– Am 9. Mai. – Mit dem Morgenrothe weiter gezogen. Keine Nachzügler. Die Peitsche des Havlidars hat Alle fortgetrieben, welche vor Anstrengung oder Krankheit erschlafften. Sklaven haben ja einen Werth. Sie entsprechen[317] einer Münze. Die Agenten werden keinen zurücklassen, so lange er noch ein Restchen von Kraft besitzt.

Ich bin von lebenden Skeleten umgeben. Es fehlt ihnen sogar schon die Stimme, um sich zu beklagen.

Endlich hab ich auch die alte Nan entdeckt. Es ist ein Jammer, sie zu sehen. Das Kind, welches sie früher trug, ruht nicht mehr in ihrem Arme. Sie hat jetzt wenigstens nur für sich allein zu sorgen. Das ist doch eine Erleichterung; aber die Kette, deren Ende sie über die Schulter geworfen trägt, hängt noch an ihrem Gürtel.

Ich verdoppelte meine Schritte und es gelang mir, mich ihr zu nähern. Es schien, als erkenne sie mich nicht wieder. Sollte ich mich so sehr verändert haben?

»Nan!« rief ich sie an.

Die alte, brave Dienerin starrte mich lange an; endlich sagte sie:

»Sie, Herr Dick! Ich... ich... ich werde bald todt sein!

– Nein, nein, nur Muth! antwortete ich, während ich die Augen niederschlug, um die Jammergestalt der Unglücklichen nicht zu sehen.

– Todt! wiederholte sie; nun werd' ich meine gute Herrin und meinen kleinen Jack nicht wiedersehen! Gott, ach Gott, hab' Erbarmen mit mir!«

Ich wollte die alte Nan unterstützen, da sie in ihren zerfetzten Kleidern vor Schwäche zitterte. Wie dankbar hätte ich es empfunden, mit ihr zusammengefesselt zu werden und die Kette mit zu tragen, deren Last seit dem Tode der Gefährtin sie allein bedrückte.

Da stößt mich ein kräftiger Arm zurück, ein Peitschenhieb saust auf die arme Nan herab und treibt sie wieder mitten in den Haufen der Sklaven. Ich will mich auf den rohen Menschen stürzen... es erscheint der arabische Chef, er ergreift mich am Arme und hält mich zurück, bis die letzten Reihen der Karawane an uns heran kommen.

Dann ruft er mir nur ganz kurz zu:

»Negoro!«

Negoro! Auf Anordnung des Portugiesen handelt er also wirklich und benimmt sich mir gegenüber anders als gegen die anderen Unglücklichen.

Welches Schicksal mag mich noch erwarten?[318]

– Am 10. Mai. – An zwei brennenden Dörfern vorübergekommen. Die Hütten alle in Flammen. An den noch nicht verkohlten Bäumen hängen Leichen. Alle sonstigen Bewohner entflohen. Die Felder verwüstet. Hier hat eine Razzia stattgefunden. Zweihundert ermordet, um vielleicht ein Dutzend Sklaven zu fangen.

Der Abend ist da. Es wird Halt gemacht. Nachtlager unter großen Bäumen. Am Waldsaume bilden hohe Gräser wirkliche Gebüsche.

Tags vorher entwischten einige Gefangene, denen es gelungen war, ihre Gabelsessel zu zerbrechen. Man fing sie wieder ein und bestrafte sie mit unerhörter Grausamkeit. Die Havildars und die Soldaten verdoppeln ihre Wachsamkeit.

Die Nacht sank herab. Gebrüll von Löwen und Bellen von Hyänen. In der Ferne Schnauben von Hyppopotamus. Gewiß ist ein See oder Wasserlauf in der Nähe.

Trotz aller Ermüdung kann ich nicht schlafen. Ich denke an so Vieles.

Jetzt scheint es mir, als hörte ich etwas durch das hohe Gras schleichen. Vielleicht ein Raubthier? Sollte es einen Angriff wagen?

Ich horche. Nichts! Doch, irgend ein Thier schlüpft durch das Schilf. Ich habe keine Waffe. Ich will mich dennoch vertheidigen. Ich werde rufen. Mein Leben kann Mrs. Weldon und meinen Gefährten wohl noch von Nutzen sein.

Ich bemühe mich, in der tiefen Finsterniß zu sehen. Kein Mond am Himmel. Die Nacht ist außerordentlich dunkel.

Da... da glühen zwei Augen im Schatten, zwischen den Papyrus, die Augen einer Hyäne oder eines Leoparden! Sie verschwinden... kommen wieder zum Vorschein...

Endlich... es knackt im Röhricht. Ein Thier springt auf mich zu!...


Es enthält ein Billet... (S. 321.)
Es enthält ein Billet... (S. 321.)

Schon wollt' ich einen Schrei ausstoßen, Alarm schlagen...

Zum Glück vermochte ich mich noch zu beherrschen!


Man hatte sie einfach Hungers sterben lassen. (S. 323)
Man hatte sie einfach Hungers sterben lassen. (S. 323)

Noch wage ich nicht, meinen Augen zu trauen... es ist Dingo, Dingo; der bei mir ist!... Braver Dingo!... Welch' gutes Schicksal giebt ihn mir wieder? Wie konnte er mich wieder auffinden? O, der Instinct! Sollte der Instinct wirklich solche Wunder von treuer Anhänglichkeit schon allein erklären?[319]

Er leckt mir die Hände. Ach, du guter Hund, jetzt mein einziger Freund! Sie haben dich also nicht getödtet!...

Ich erwidere seine Liebkosungen. Er versteht mich. Er möchte bellen vor Freude...

Ich beruhige ihn. Besser, es hört ihn Keiner. Möchte er der Karawane unbemerkt nachfolgen und vielleicht... Doch wie?... er reibt seinen Hals[320] beständig an meinen Händen. Er sieht aus, als wolle er sagen: »Suche doch!«... Ich suche und finde wirklich etwas an seinem Halse... ein Stück Rohr steckt quer unter dem Halsband mit den eingravirten Buchstaben S. V., welche uns noch immer ein unaufgeklärtes Geheimniß blieben.

Da... ich zog das Rohrstück hervor... ich zerbrach es. Richtig, es enthält ein Billet...[321]

Leider vermag ich letzteres jetzt nicht zu lesen und muß dazu erst den Tag abwarten... den Tag... ich möchte ja Dingo gern zurückbehalten, das gute Thier scheint aber, obwohl es mir immer die Hände leckt, große Eile zu haben, mich zu verlassen. Dingo weiß offenbar, daß er seinen Auftrag ausgerichtet hat. Mit einem Seitensprunge verschwindet er geräuschlos in dem Schilfe. Gott bewahre ihn vor dem Zahne der Löwen oder Hyänen!

Der Hund kehrte unzweifelhaft zu Dem zurück, der ihn zu mir sendete.

Dieser Zettel, den ich jetzt nicht lesen kann, brennt mir ordentlich in den Händen! Wer mag ihn geschrieben haben? Sollte er von Mrs. Weldon kommen? Oder von Herkules? Wie vermochte das treue, schon für todt gehaltene Thier die Eine oder den Anderen aufzufinden? Was werden mir diese Zeilen sagen? Deuten sie mir vielleicht einen Plan zur Entweichung an, oder bringen sie nur Nachricht von Denen, die mir theuer sind? Wie dem auch sei, die Sache erregt mich außerordentlich und hat die Empfindung meines eigenen Elendes gänzlich unterdrückt.

O, wie lange zögert heute die Sonne!

Ich harre dem ersten Morgenscheine am Horizont entgegen. Ich vermag kein Auge zu schließen. Noch höre ich das Brüllen der Raubthiere. Mein armer Dingo, mögest du ihnen glücklich entgehen!

Endlich, endlich kommt der Tag, und unter dieser Tropenzone fast ohne vermittelnde Dämmerung. Ich gebe mir Mühe, unbeobachtet zu sein.

Ich versuche zu lesen... ich kann es noch nicht.

Jetzt, jetzt endlich war es möglich, die Schrift zu erkennen. Das Billet rührt von Herkules her.

Es ist mit Bleistift auf ein abgerissenes Stück Papier geschrieben...

Sein Inhalt lautet:

»Mrs. Weldon ist mit dem kleinen Jack in einer Kitanda weggeführt worden. Harris und Negoro begleiten dieselbe. Sie sind mit dem Vetter Benedict der Karawane um drei bis vier Tagemärsche voraus. Ich fand Dingo wieder, der durch einen Flintenschuß verwundet schien, aber wieder hergestellt ist. Guten Muth, Herr Dick. Ich denke an Sie Alle und bin nur entwichen, um Ihnen mehr nützen zu können.

Herkules.«[322]

Ach, Mistreß Weldon und ihr Söhnchen sind noch am Leben! Gott sei gelobt! Sie haben nicht so wie wir von den Strapazen dieser Reise zu leiden. Eine Kitanda ist, so viel ich weiß, eine mit dürrem Laube bedeckte, an langen Bambusstengeln befestigte Tragbahre, welche zwei Männer auf den Schultern tragen. Sie hat wohl auch ein Verdeck, wie ein Planwagen. Mistreß Weldon und mein kleiner Jack sitzen in einer solchen Kitanda. Was mögen Harris und Negoro mit ihnen vorhaben? Offenbar schleppen diese Bösewichte sie nach Kazonnde... ja, gewiß... ich werde sie dort wieder treffen. Ach, inmitten dieses Elends ist es doch eine frohe Botschaft, welche Dingo mir da brachte.

– Vom 11. bis 15. Mai. – Die Karawane setzt ihren Weg fort. Die Gefangenen schleichen von Tag zu Tag nur mühsamer weiter. Die Fußspuren der meisten sind durch Blut befleckt. Ich rechne, daß wir noch zehn Tage bis Kazonnde brauchen, wie Viele werden bis dahin am Ende ihrer Leiden sein? Doch ich, ich muß ankommen, ich werde mit ankommen.

Abscheulich! In dem Zuge giebt es nicht wenige Unglückliche, deren Körper nur eine einzige Wunde ist! Die Stricke, mit denen sie gebunden sind, dringen ihnen in's Fleisch ein!...

Schon seit gestern trägt eine Mutter ihr vor Hunger umgekommenes Kind auf den Armen weiter; sie will sich nicht von der kleinen Leiche trennen!...

Unser Weg bedeckt sich allmälig mit Todten. Die Spitzpocken wüthen mit sonst unbekannter Heftigkeit.

Wir kommen an einem Baume vorbei, an welchen Sklaven mit dem Halse festgebunden waren, die man einfach hatte Hungers sterben lassen.

– Vom 16. bis 24. Mai. – Fast bin ich am Ende meiner Kräfte, und doch habe ich nicht das Recht, zu erlahmen. Die Regen haben völlig aufgehört. Wir haben jetzt Tage »harten Marsches«. So nennen die Agenten die »Terikosa«, d.i. die Reise des Nachmittags. Wir müssen noch schneller gehen; der Boden zeigt wiederholt ziemlich steile Erhebungen.

Der Zug bewegt sich durch hohes, sehr hartes Schilf. Es besteht aus dem »Nyassi«, dessen Stengel mich im Gesichte verwunden, während dessen spitze Samen durch meine defecte Kleidung bis auf die Haut eindringen. Mein starkes Schuhwerk hat zum Glück bis jetzt ausgehalten.[323]

Die Agenten lassen die Sklaven, welche zu krank sind, um dem Zuge folgen zu können, jetzt einfach liegen. Uebrigens droht der Mundvorrath zu Ende zu gehen; Soldaten und Pagazis murren und kündigen ihre Dienste, wenn ihre Rationen verringert würden. Man wagt nicht, ihnen etwas abzuschlagen, weshalb sich die Lage der Sklaven nur noch mehr verschlimmert.

»Sie mögen einander selbst verzehren!« hat der Chef gesagt.

Die Folge dieser Zustände ist daß junge, noch kräftige Sklaven nicht selten ohne ein eigentliches Zeichen von Krankheit dahinsterben. Es fällt mir da ein, was Livingstone hierüber äußerte: »Diese Unglücklichen klagen über Beschwerden vom Herzen; sie legen ihre Hände über dasselbe und brechen zusammen. Es bricht ihnen auch buchstäblich das Herz. Diese Erscheinung ist besonders freien, unerwartet zur Sklaverei verdammten Menschen eigenthümlich.«

Heute wurden zwanzig Gefangene, welche sich nicht mehr weiterzuschleppen vermochten, von den Havlidars durch Axtschläge getödtet. Der arabische Chef kümmert sich um dieses Blutbad nicht im Mindesten.

O, es war ein schreckliches Schauspiel!

Die arme alte Nan ist bei dieser entsetzlichen Schlächterei durch das Messer umgekommen... ich stoße im Vorbeigehen auf ihren Leichnam. Nicht einmal ein christliches Begräbniß kann ich ihr vermitteln!...

Das ist also die Erste von den Ueberbleibenden des »Pilgrim«, welche Gott zu sich abberufen hat. Du armes, gutes Wesen! Du arme Nan!

Jede Nacht spähe ich nach Dingo aus. Er ist bis jetzt nicht wiedergekommen. Sollte ihm oder Herkules ein Unfall zugestoßen sein? Nein, nein! Ich kann, ich mag das nicht glauben!... Dieses mir so lang erscheinende Schweigen beweist nur, daß Herkules mir zunächst weitere Neuigkeiten nicht mitzutheilen hat. Er muß ja auch mit aller Klugheit handeln und immer wohl auf der Hut sein![324]

Quelle:
Jules Verne: Ein Kapitän von fünfzehn Jahren. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XXVII–XXVIII, Wien, Pest, Leipzig 1879, S. 309-325.
Lizenz:

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