Siebenundzwanzigstes Capitel.
Schluß.

[516] Warum sollte ich bei den Leiden, welche unablässig die Ueberlebenden der Expedition trafen, lange verweilen? Sie selbst vermochten niemals sich an alles Einzelne wieder zu erinnern, was sie in den acht Tagen nach der[516] gräßzlichen Entdeckung der Reste der Mannschaft zu erleben hatten. Indessen gelangten sie am 9. September durch wunderhafte Energie zum Cap Horsburg, am Ende von Nord-Devon.


27. Capitel

Sie waren ausgehungert bis zur Erschöpfung: seit achtundvierzig Stunden waren sie ohne Nahrung und ihre letzte Mahlzeit hatte aus dem letzten Stück Fleisch ihrer Eskimohunde bestanden. Bell konnte nicht weiter, und der alte Johnson fühlte sich dem Tode nahe.

Sie befanden sich am Ufer des Bassins-Meeres, das zum Theil fest gefroren war, also auf dem Wege nach Europa. Drei Meilen von der Küste ab brandeten die eisfreien Wogen mit Getöse an den Spitzen des Eisfeldes.

Man mußte auf das zufällige Vorüberkommen eines Wallfischfahrers warten, und wie lange konnte dies dauern? ...

Aber der Himmel erbarmte sich der Unglücklichen, denn am folgenden Tage gewahrte Altamont deutlich ein Segel am Horizont.

Man weiß, welche angstvolle Spannung herrscht, wenn ein Schiff sich zeigt, welche Furcht vor einer Täuschung dieser Hoffnung! Das Fahrzeug scheint bald näher zu kommen, bald sich wieder zu entfernen, in schrecklichem Wechsel von Hoffnung und Verzweiflung, und es geschieht nicht selten, daß ein am Horizont erblicktes Schiff wieder in der Ferne verschwindet.

Der Doctor und seine Gefährten hatten alle diese Prüfungen zu bestehen; sie waren, indem sie sich einander trugen und schoben, am westlichen Ende[517] des Eisfeldes angelangt, und sahen allmälig das Schiff wieder verschwinden, ohne daß es ihre Anwesenheit gewahrt hatte. Sie riefen es an, doch vergebens!

Da kam dem Doctor zum letzten Mal ein sinnreicher Gedanke, wie sie diesem erfinderischen Kopf bisher so oft zu Statten kamen.

Ein Eisblock, der in der Strömung trieb, stieß wider das Eisfeld.

»Dieser Eisblock!« rief er, und wies mit der Hand darauf hin.

Man verstand ihn nicht.

»Fahren wir auf ihm! Fahren wir mit!« rief der Doctor.

Es war ein Hoffnungsstrahl für Alle.

»Ach! Herr Clawbonny, Herr Clawbonny!« rief Johnson, und drückte dem Doctor die Hände.

Bell eilte mit Hilfe Altamont's zum Schlitten, holte daraus einen Pfosten, steckte ihn wie einen Mast auf den Eisblock und band ihn mit Stricken fest; aus dem abgerissenen Zeltdach machte man wohl oder übel ein Segel. Der Wind war günstig; die armen Verlassenen stürzten sich auf das zerbrechliche Fahrzeug und fuhren in's weite Meer hinaus.

Schon nach zwei Stunden unerhörter Anstrengungen wurden die letzten der Mannschaft des Forward an Bord des dänischen Wallfischfahrers Hans Christian, welcher nach der Davis-Straße zurückkehrte, aufgenommen.

Der Kapitän empfing diese Gespenster, welche kaum noch wie Menschen aussahen, als ein Mensch von Gemüth; beim Anblick ihrer Leiden begriff er ihre Geschichte; durch die sorgfältigste Pflege gelang es ihm, sie am Leben zu erhalten.

Zehn Tage darauf stiegen Clawbonny, Johnson, Bell, Altamont und der Kapitän Hatteras zu Korsör, auf Seeland, in Dänemark, an's Land; ein Dampfboot brachte sie weiter nach Kiel; von hier begaben sie sich über Altona und Hamburg nach London, wo sie am 13. desselben Monats ankamen, nachdem sie sich kaum von ihren langen Prüfungen erholt hatten.

Vor allen Dingen erbat sich der Doctor von der königlich Geographischen Gesellschaft zu London die Erlaubniß, ihr eine Mittheilung zu machen; in der Sitzung des 15. Juli wurde ihm diese Gelegenheit zu Theil.

Man denke sich das Erstaunen dieser gelehrten Gesellschaft, welche nach Verlesung der Urkunde Hatteras' enthusiastischen Beifall spendete.

Diese Reise, einzig in ihrer Art, die in den Annalen der Geschichte ihres[518] Gleichen nicht hatte, begriff alle früheren, in den Polarregionen gemachten Entdeckungen in sich; sie verband miteinander die Expeditionen von Parry, Roß, Franklin, Mac Clure; sie vervollständigte zwischen dem hundertsten und hundertfünfzehnten Meridian die Karte der hohen Nordlande, und endlich, sie führte bis zu dem bisher unzugänglichen Punkte des Erdballs, dem Pol selbst.

Niemals, noch niemals hat eine so unerwartete Neuigkeit das staunende England überrascht.

Die Engländer haben eine leidenschaftliche Empfänglichkeit für so große geographische Thatsachen; man begrüßte sie mit Theilnahme und Stolz, vom Lord bis zum Cockney, vom größten Kaufmann bis zum Arbeiter der Docks.

Blitzschnell verbreitete sich die große Entdeckung mittels der Telegraphendrähte durch das Vereinigte Königreich; die Journale verehrten an der Spitze ihrer Spalten den Namen Hatteras' als eines Märtyrers, und England erhob ihn mit gerechtem Stolz.

Der Doctor und seine Gefährten wurden mit öffentlichen Festen geehrt, und sie wurden vom Lord-Kanzler in feierlicher Audienz Ihrer Königlichen Majestät vorgestellt.

Die Regierung bestätigte die Benennungen: Königin-Insel für den Felsen des Nordpols, Hatteras-Berg für den Vulkan, und Altamont-Hafen für den Hafen Neu-Amerikas.

Altamont trennte sich nicht mehr von den Genossen seines Elends und Ruhmes, welche seine Freunde geworden; er begleitete den Doctor, Bell und Johnson nach Liverpool, wo sie bei ihrer Rückkehr mit jubelndem Beifall begrüßt wurden, nachdem man sie längst für todt und im ewigen Eisgrabe bestattet glaubte.


Ein dänischer Wallfischfahrer nimmt die Reisenden auf. (S. 518.)
Ein dänischer Wallfischfahrer nimmt die Reisenden auf. (S. 518.)

Aber der Doctor Clawbonny wies diesen Ruhm beständig dem zu, welcher ihn überall verdiente. In seinem Reisebericht: »Die Engländer und der Nordpol«, welcher im folgenden Jahre von der königlich Geographischen Gesellschaft herausgegeben wurde, führte er John Hatteras unter den größten Reisenden auf, als Nacheiferer der kühnen Männer, welche sich ganz dem Fortschritt der Wissenschaft als Opfer hingaben.

Indessen lebte dieses traurige Opfer einer erhabenen Leidenschaft friedlich im Genesungshause zu Sten-Cottage, nächst Liverpool, wohin sein Freund, der Doctor, ihn selbst gebracht hatte. Sein Irrsinn war von milder Art,[519] aber er sprach nicht, es mangelten die Begriffe, und mit der Vernunft schien ihm auch die Fähigkeit zu reden geschwunden zu sein. Ein einziges Gefühl knüpfte ihn noch an die Außenwelt, seine Freundschaft für Duk, der ihm ein treuer Gesellschafter war.

Diese Krankheit nahm dann ihren ruhigen Verlauf, ohne irgend ein besonderes Symptom, als dem Doctor Clawbonny, der seinen armen Kranken oft besuchte, sein Benehmen auffiel.

Seit einiger Zeit machte der Kapitän Hatteras in Begleitung seines[520] treuen Hundes, der ihn mit sanftem und traurigem Blick ansah, täglich stundenlang Spaziergänge, aber diese Gänge hatten unabänderlich dieselbe Richtung in einer gewissen Allee zu Sten-Cottage. War er am Ende der Allee angekommen, so kehrte er rücklings zurück. Wollte ihn Jemand anhalten, in wies er mit dem Finger auf einen bestimmten Punkt am Himmel. Wollte man ihn nöthigen umzukehren, so wurde er zornig, und Duk, der seine Gefühle theilte, bellte wüthend.


Auf der Heimfahrt durch den Belt. (S. 518.)
Auf der Heimfahrt durch den Belt. (S. 518.)

Der Doctor beobachtete achtsam diese bizarre Manie, und der Grund[521] dieser sonderbaren Hartnäckigkeit ward ihm klar; er errieth, weshalb dieser Spaziergang sich standhaft in derselben Richtung, so zu sagen, unter Einwirkung einer magnetischen Kraft er hielt:

Der Kapitän John Hatteras bewegte sich unabänderlich in nördlicher Richtung.

Quelle:
Jules Verne: Reisen und Abenteuer des Kapitän Hatteras. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band VII–VIII, Wien, Pest, Leipzig 1875, S. 516-522.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Reisen und Abenteuer des Kapitän Hatteras
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