Zehntes Kapitel.

Worin sich's zeigt, daß Johnson klug und weise war.

[148] Die Insel San Miguel hat im großen und ganzen die Gestalt einer sehr verlängerten Kürbisflasche. In der Mitte, an den beiden Buchten, die den eingeschnürten Teil der Flasche bespülen, liegen zwei Städte: Ponta-Delgada im Süden und Ribeira-Grande im Norden. Eine gute und bequem fahrbare Straße, die nicht über zweihundert Meter Höhe hinausführt, verbindet die beiden, an Einwohnerzahl fast gleichen Städte, die etwa achtzehn Kilometer weit voneinander entfernt sind.

Der übrige Teil der Insel, rechts und links von dieser Depression, erhebt sich zu höhern Spitzen und Bergkämmen. Nach einer in Ribeira-Grande zu verbringenden Nacht war der zweite Tag zu einem Ausfluge nach Westen bestimmt worden. Die nötigen Reittiere sollten von Ponta-Delgada nach Ribeira-Grande gebracht werden. Der vorhergehende Tag mußte zu einem Besuche der Ostseite ausreichen.

Mit Einrechnung der Biegungen des Weges ergab das für jeden Tag eine zurückzulegende Strecke etwa von vierzig Kilometern, gewiß eine ziemlich beschwerliche Aufgabe. Thompson zog von Morgan und den Treibern hierüber Erkundigungen ein und glaubte danach den im Programm auf acht Uhr festgesetzten Aufbruch auf die sechste Morgenstunde verlegen zu müssen.[148]

Diese Verschiebung brachte ihm einen schrecklichen Auftritt mit Hamilton und Saunders ein. Die beiden Akoluthen beklagten sich nachdrücklichst über die ewigen Änderungen des Programmes, das doch hier als Gesetz dienen sollte.

»Und das eine merken Sie sich, mein Herr, schnarrte Saunders, die Worte zu Einzelsilben zerreißend, ich – wer – de – vor – halb – sie – ben – nicht – auf – bre – chen!

– Und ich ebenfalls nicht, setzte der Baronet hinzu, der es seinem Modell natürlich gleichtun mußte, Lady Hamilton ebensowenig wie ich, und Miß Hamilton nicht früher als ihre Mutter. Wir werden, wie es Ihr Programm verlangt, pünktlich um acht Uhr auf dem Kai sein und rechnen darauf, dort die Transportmittel vorzufinden, die im Reiseprogramme versprochen sind. Lassen Sie sich das ein- für allemal gesagt sein!«

Die Einwendungen der Herren Hamilton und Saunders waren vielleicht nicht unbegründet; trotz seines Wunsches, alle Passagiere nach Möglichkeit zufriedenzustellen, fühlte Thompson doch den Zweien gegenüber seine Geduld zu Ende gehen. Er begnügte sich mit einem trocknen Gruße, ohne sie der geringsten Antwort zu würdigen.

Während die junge Thargela an Bord zurückblieb, trabte die der frühern in Fayal ganz gleiche Kavalkade am Morgen um sieben Uhr auf ein Zeichen Thompsons von dannen.

Freilich zeigte sie manche Lücken. Da fehlte das junge Ehepaar, ebenso wie Johnson, der sich noch immer vor den Erdbeben fürchtete.

»O, die Erde wird sich doch nicht gerade heute auf ihrer Unterlage schaukeln wollen!« erlaubte sich Roger zu bemerken.

Ferner fehlten alle Hamiltons nebst Saunders, und endlich zwei oder drei weibliche Passagiere, deren Jahre ihnen einen so anstrengenden Ausflug verboten.

Die Kolonne zählte im ganzen vierundfünfzig Touristen mit Einschluß Don Hyginos da Vaiga, dessen zwei Brüder es vorgezogen hatten, an Bord zurückzubleiben.

Dank dem Don Hygino befand sich Blockhead mit unter den Ausflüglern. Thompson würde ihn unerbittlich ausgeschlossen haben, wenn der Portugiese sich nicht ins Mittel gelegt und versprochen hätte, den interessanten Kranken an diesem Tage zu kurieren. Daraufhin war der Ehren-Gewürzkrämer mit zugelassen worden, doch nur unter der Bedingung, daß er sich jederzeit hundert[149] Meter hinter dem letzten Gliede der Kolonne hielte. Er ritt also seines Weges allein, nur in Gesellschaft seines Maulesels und dessen Treibers; er schien aber über diese abnorme Lage gar nicht böse zu sein. Blockhead gehörte zu den Leuten, die sich für alles zu interessieren wissen und die die Dinge immer von der besten Seite nehmen. Glückliche Charaktere gegenüber solchen Antipoden wie dem störrischen Hamilton!

Die Touristen, die die Ostgrenze der Stadt bald nach acht Uhr überschritten hatten, kamen nun aufs Land. Sie hätten da glauben können, in die Umgebung von Horta zurückversetzt zu sein. Dieselben Felder mit Getreide und Gemüsen. Im Hintergrund dieselben Baumarten in grünenden Massen. Ein wesentlicher Unterschied zeigte sich aber doch zwischen Fayal und San Miguel, der sehr zugunsten der zweiten Insel ausfiel. Hier gab es zwar mehr öde Flächen, dagegen keinen Zoll breit ertragfähiges Land, der nicht angebaut gewesen wäre; mehr verkrüppeltes Buschholz auf den Höhen, das man von den Talöffnungen aus sehen konnte, aber prächtige Gehölze von Tannen, die Erfolge unablässiger Bemühungen der Lokalregierung, die schon seit fünfzig Jahren tausende und abertausende Quadratmeter neu aufforsten läßt.

Kurz vor Mittag kam die Karawane an den Rand eines großen Tales.

»Das Val das Furnas,« meldete der Führer an der Spitze.

Von einem Gürtel nackter Berge umgeben, bildet das »Tal der Öfenvöllig die Form eines runden Kessels von drei Kilometern Halbmesser. Gegen Süden hin erniedrigt sich die Linie der Berge und läßt einen Fluß durchbrechen, der durch einen schmalen Einschnitt im Nordosten in das Tal eintritt.

Die Touristen folgten diesem Wasserlaufe, der Ribeira-Quente oder dem Warmen Flusse, nach aufwärts, an dessen geheiligten Ufern Frühobst u. dgl. gezogen wird, bis nach den heißen Quellen jenseits eines Dorfes, dessen Hausdächer sie in zwei Kilometer Entfernung von der Sonne vergoldet glänzen sahen.

Dieser Winkel des Landes ist einzig in seiner Art. Überall dringen Quellen, hier heiße, dort kalte, aber alle sehr mineralhaltig, hervor. Einzelne, die nur einen kaum bemerkbaren Wasserfaden darstellen, haben von den Eingebornen den Namen »Olhas« (die Augen) bekommen. Andre sind bedeutender. Eine davon entspringt in einem Becken, das ganz die Form einer künstlichen Schale hat. Unter großem Geräusch sprudelt darin ein Meter hoch eine Säule überhitzten Wassers hervor, das eine Temperatur von 105 Zentigraden hat. Ringsherum ist die Atmosphäre erfüllt von dicken, schwefelhaltigen Dämpfen, die auf[150] die Erde niedersinken und den obern Teil des Grases, der Nutzpflanzen und der Blumen mit einer steinharten Kruste überziehen.

Blockhead mußte sich auf das dringliche Verlangen Thompsons hin diesen Dämpfen aussetzen. Das gehörte zu der von Don Hygino in Aussicht genommenen Kur, der damit übrigens nur ein auf San Miguel sehr volkstümliches Heilmittel anwendete, auf das der Instinkt der von Parasiten belästigten Tiere die Menschen schon vor langer Zeit hingewiesen hat.

Ein kräftig wirkendes Mittel ist es in der Tat. Unter dem Winde von der Quelle konnte man die Hitze kaum noch ertragen. Blockhead hielt das aber nicht zurück: er verschwand mutig in den glühheißen Dampfwolken. Im Grunde war er gar nicht böse darüber, dieses ungewöhnliche Heilmittel zu versuchen.

Als Blockhead aus seinem Dampfbade kam, war er vielleicht nicht geheilt, doch jedenfalls zum mindesten gekocht. Mit zum Kopfe gestiegenem Blute und schwitzend, daß das Wasser wie ein Bach an ihm herunterlief, trat er in kläglicher Verfassung daraus hervor.

Seine Qualen waren damit aber noch nicht zu Ende. Von Don Hygino geführt, fanden sich die Touristen an einer andern, von der ersten sehn Meter entfernten Quelle zusammen. Diese zweite Quelle, die den Namen »Pedro Botelho« erhalten hat, ist womöglich noch »wilder«. Sie strömt siedend aus einer Art Höhle hervor, die die Eingebornen mit felsenfestem Glauben für eine der Mündungen der Hölle halten. Im Hintergrunde der Höhle pfeift nämlich das noch unsichtbare Wasser auf wahrhaft entsetzliche Weise, und gleichzeitig dringt damit eine gewaltige Menge seifigen Schlammes hervor, auf den Don Hygino zur völligen Heilung seines Kranken rechnete.

Auf seine Anordnung wurde Blockhead, nachdem dieser sich seiner Kleidung entledigt hatte, wiederholt in den wenigstens 45 Zentigrade warmen Schlamm getaucht. Der unglückliche Blockhead konnte das buchstäblich nicht mehr aushalten, und er fing an, ein wirkliches Geheul auszustoßen, das von seinen mitleidlosen Gefährten von einem hellen Gelächter begleitet wurde.

Da horch!... Auf das Geheul und das Gelächter antwortet ein erschreckendes Dröhnen. Aus der Höhle wirbelt dichter Rauch hervor, durch den feurige Zungen emporlecken, während eine mächtige Wassergarbe in die Luft emporsteigt und als heißer Regen auf die kühnen Besucher herabfällt.

Erschreckt waren diese geflohen. Um ihnen wieder Mut zu machen, bedurfte es der Versicherung der Treiber, daß diese Erscheinung sich sehr oft zeigte, und[151] zwar desto heftiger, je lauter ein Geräusch in der nächsten Umgebung der Quelle sei, ohne daß jemand dafür hätte eine annehmbare Erklärung geben können.

Blockhead hatte sich die Panik zunutze gemacht, aus seinem Schlammbade zu flüchten. Er rollte sich schon in der Ribeira-Quente umher, deren mehr als warmes Wasser ihm jetzt köstlich kühl erschien.

Ob nun das von Don Hygino verordnete Mittel die ihm von den Eingebornen zugeschriebnen Eigenschaften wirklich bewiesen, oder ob Absyrthus Blockhead nur an einer eingebildeten Krankheit gelitten hatte... diese Fragen mögen unerörtert bleiben. Jedenfalls wurde der Gewürzkrämer von Stund an für geheilt betrachtet und ihm gestattet, sich der Gesellschaft wieder anzuschließen.

Nach einem mit großer Mühe in dem nahen Dorfe aufgetriebenen Frühstück, das, wenn es auch in vielem dem ländlichen Mahle auf Fayal ähnelte, doch etwas weniger phantastisch war, trat die Kolonne um zwei Uhr von neuem zusammen. Schon wollte sie aufbrechen und hatte bereits die ersten Schritte getan, als eine zweite Karawane ins Dorf einschwenkte.

Weit kleiner als die erste, zählte sie nur acht Personen; aber auch welche Personen! Keine geringern als Saunders, Sir, Lady und Miß Hamilton, begleitet von vier Treibern, die zur programmäßigen Zeit, d. h. sechs von ihnen sorgfältig abgewartete Viertelstunden später, aufgebrochen waren.

Feierlich von ihren Maultieren abgestiegen, traten Saunders und Hamilton an Thompson heran, der bruchstückweise eine Melodie durch die Zähne pfiff.

»Können wir darauf hoffen, sagte Saunders, hier noch ein Frühstück zu finden?

– Ja, verehrter Herr, das weiß ich freilich nicht, antwortete Thompson mit liebenswürdiger Offenheit. Wenn Sie sich gefälligst an den wackern Schänkwirt wenden wollen, den Sie dort an seiner Tür stehen sehen, so kann der vielleicht Ihrem Wunsche entsprechen, vorausgesetzt, daß die Damen und Herren hier etwas übrig gelassen haben, was man in den Mund nehmen kann.«

Thompson emanzipierte sich. Er richtete den Kopf hoch auf. Er schüttelte sein Joch ab. Hamilton war fremdartig überrascht von diesen Unabhängigkeitsgelüsten. Welchen Blick warf er ihm zu! Saunders hoffte stark, daß der erzürnte Baronet mangels andrer menschenwürdiger Gerichte seinen Hunger auf Kosten des kühnen Reiseunternehmers stillen würde.

Der aber hatte den beiden schon ganz gelassen den Rücken zugekehrt und gab seinen Getreuen ohne weitre Förmlichkeiten das Zeichen zum Aufbruch.[152]

Vom Val das Furnas aus folgte die Karawane eine Zeitlang dem Ufer des gleichnamigen Sees, der eine ovale Mulde, einen ehemaligen Krater, ausfüllt. Hierauf mußte sie einen im Zickzack angelegten Pfad emporklimmen, der sie allmählich nach einer Hochebene führte. Der Aufstieg war sehr ermüdend. Der Fuß der Tiere sank zuweilen, mit dem Geräusche zerknitterten Leinens, in einen zerreiblichen, trocknen Boden ein, der einzig aus einer Art grauer Asche bestand, die sich unter ihrem hölzernen Hufbeschlag knirschend zerteilte.


Der Erdboden bildete vor ihren Augen eine tiefe Aushöhlung. (S. 158.)
Der Erdboden bildete vor ihren Augen eine tiefe Aushöhlung. (S. 158.)

»La Lagoa secca, erklärte der Treiber an der Spitze.

– Die trockne Lagune, übersetzte Robert Morgan. Wir befinden uns hier an dem Platze eines alten Kraters, an dessen Stelle vor langer Zeit ein zweihundert Hektar großer und dreißig Meter tiefer See getreten war. Dieser See verschwand wieder, und der Krater wurde durch den Ausbruch nivelliert, der fünfzehnhundertdreiundsechzig diesen Teil der Insel erschütterte. Bei Gelegenheit desselben Ausbruches versank auch ein ganzer Berg, der Volcaoberg, in die Eingeweide der Erde. An seiner Stelle liegt heute der Lago do Fogo oder Feuersee. Ich denke, wir müssen ihn gleich zu Gesicht bekommen.«

Das war auch der Fall, man sah sogar noch andre Seen, sah ihrer zu viele. Alle waren nichts andres, als zu Seen verwandelte Krater, von denen die einen hundert bis zweihundert Meter, andre nur zwei bis drei Meter Tiefe hatten. Auf die Länge wurde das eintönig.

Kurz vor Anbruch der Nacht stieg die Gesellschaft über steile Pfade nach der Stadt Ribeira-Grande hinunter. Die stark ermüdeten Touristen nahmen sich kaum die Zeit, in dem elenden Hotel zu Abend zu essen, wo die für den Ausflug des nächsten Tages bestellten Maultiere untergebracht waren. Sofort verlangten sie dann ihre Betten. In Ribeira-Grande kann ein einziges Hotel aber eine so große Zahl Nachtgäste nicht beherbergen. Die Gesellschaft mußte sich verteilen, und es war ein Glück, daß hier wenigstens im voraus für Unterkunft gesorgt worden war.

»Wir treffen Punkt sieben Uhr wieder zum Aufbruch zusammen,« hatte Thompson noch angekündigt.

O, welche Lücken bei diesem Rendezvous! Es mußte Appell geschlagen werden. Thompson einer-und Morgan anderseits galoppierten durch die Stadt, die Säumigen zusammenzutrommeln. Meist eine vergebliche Liebesmühe. Alle erklärten, sie wären noch wie zerschlagen, und beklagten sich bitter, von ganzen Schwadronen blutdürstiger Wanzen belästigt worden zu sein, deren unabweisbare[155] Angriffe jedes Schlafen unmöglich gemacht hätten. Thompson und seinem Leutnant gelang es höchstens ein Drittel der Reisenden zusammenzubringen. Zweiundzwanzig Touristen... das war alles, was von der imposanten Karawane zur Stelle war, und auch von diesen mehr Beherzten machten manche eine recht bittersüße Miene.

Zu den Zweiundzwanzigen gehörte natürlich die Familie Lindsay. So abgehärtete Reisende konnte ein Tagesmarsch von vierzig Kilometern nicht erschöpfen. Und ebensowenig Roger de Sorgues, den ergebnen Ritter der lustigen Dolly.

Selbst Blockhead und seine Familie hatten sich eingefunden. Konnte der Ehren-Gewürzkrämer denn eine Gelegenheit vorübergehen lassen, seine Fähigkeiten, alles zu bewundern, zu üben? Mit oder gegen ihren Willen hatte er seine Frau und seine Töchter mitgeschleppt, die mit etwas ungelenken Schritten nachgezogen kamen, vielleicht nur, weil sie wieder Tigg nachschleppten.

Saunders und das Hamilton-Trio waren gestern Abend korrekt anderthalb Stunden nach den andern in Ribeira-Grande wieder eingetroffen, denen wäre es aber nie möglich gewesen, bei irgendetwas, was im Programm vorgesehen war, zu fehlen. Tot oder lebendig mußten sie den Ausflug mitmachen, und treu ihrem unerschütterlichen Prinzipe würden sie auch nur zur vorher bestimmten Stunde aufbrechen.

Im Programm war dafür die achte Stunde angegeben; erst um acht Uhr nahmen sie denn auch von ihren neuen Reittieren Besitz, und die gestrige Komödie hätte jedenfalls eine zweite Aufführung erlebt, wenn die Säumigkeit der andern Teilnehmer nicht gewesen wäre.

Vom Regiment zum Bataillon, vom Bataillon zur Kompagnie und von der Kompagnie zum einfachen Zuge zusammengeschmolzen, ließ die Kolonne auch die letzten Häuser von Ribeira-Grande bald hinter sich. Spät angekommen, frühzeitig weitergezogen, sollten die unternehmungslustigen Reisenden nichts von der Stadt kennen lernen, die eine Bewohnerzahl von dreizehntausend Seelen hat. Zu bedauern hatten sie das wohl kaum. Außer seinen, denen des Val das Furnas weit nachstehenden Quellen hat das große, aber schlecht gebaute Dorf nichts Interessantes aufzuweisen.

Eine halbe Stunde lang führte der Weg durch flaches, nur von zahlreichen Vulkankegeln unterbrochenes Land. Dann stieg jedoch der Boden an; man kam wieder ins Gebiet der Berge. Die Landschaft bewahrte noch ihren Charakter[156] des Reichtums und der Fruchtbarkeit. Alles verriet eine geduldige menschliche Arbeit. Kein Bergkamm, der nicht bewaldet, kein Stück ertragsfähiger Boden, das nicht angebaut gewesen wäre.

Hier im westlichen Teile schien eine dichtere Bevölkerung zu siedeln. Jeden Augenblick traf man auf Paare von Bauern. Majestätisch ging der Mann allein voraus, zehn Meter hinter ihm her trottete höchst bescheiden seine Frau. Scheu, fast geduckt und verhüllt in ihrem weiten Mantel mit weniger großem, aber mehr verhüllendem Capuchon als in Fayal, gingen diese Frauen, wie Geistererscheinungen und ohne daß man ihr Gesicht erkennen konnte, vorüber. Je weiter man sich von den volkreicheren Punkten entfernte, desto enger schlossen sich die Capuchons um den Kopf. Als die Touristen dann gegen zehn Uhr durch ein Dorf kamen, bemerkten sie sogar mit Erstaunen, daß bei ihrer Annäherung die Frauen das Gesicht bescheiden den Hausmauern zukehrten.

»Die sind natürlich gehörig häßlich?« meinte Dolly, die sich für diese übertriebene Schamhaftigkeit nur eine echt weibliche Ursache denken konnte.

Dicht vor dem Dorfe verwandelte sich dann die Straße zum Fußsteige, während ihre Steigung fühlbar zunahm. Vierhundert Meter über sich unterschieden die Touristen die Spitze eines Berges, dessen Seite ihnen den Horizont verdeckte. Mühsam erklommen sie den Schleifenweg der Anhöhe, auf deren Hälfte angekommen, mußten sich aber alle eine kurze Rast gönnen. Seit dem Morgen waren schon zwanzig Kilometer unter schwierigen Bedingungen zurückgelegt worden. Träger und Getragne fühlten sich am Ende ihrer Kräfte.

Eine Viertelstunde später setzte sich die Kolonne wieder in Bewegung, als vom Gipfel des Berges ein dumpfes, verworrnes Geräusch herabdrang. Gleichzeitig bildete sich eine Staubwolke, die, schnell weiterziehend, dem Zickzack des Pfades zu folgen schien. Das unerklärliche Geräusch nahm von Sekunde zu Sekunde zu. Merkwürdige Töne mischten sich hinein. Blöken? Geheul? Gebell? Die Treiber schienen selbst beunruhigt zu sein.

Schnell wurden die Maultiere in den Schutz eines verlassenen alten Mauerwerks getrieben, und bald waren alle verhältnismäßig in Sicherheit. Dem unglücklichen Blockhead allein gelang das nicht rechtzeitig. Der Hinterteil seines Maultieres schlug noch eben an der Ecke des Bauwerkes aus, als das Staubunwetter wie ein Blitz herankam. Das genügte. In einem Augenblick war der unselige Ehren-Krämer in die Höhe gehoben, niedergeworfen... verschwunden.

Seine Gefährten stießen einen Schreckensschrei aus.[157]

Die Windhose war aber schon vorüber und wütete jetzt mehr und mehr in der Ferne. Blockhead erhob sich; er nieste, hatte aber scheinbar keine Verletzung davongetragen.

Alle eilten auf ihn zu. Er schien gar nicht aufgeregt zu sein. Sein friedliches Gesicht hatte nur den Ausdruck größter Verblüffung. Und als sein verwunderter Blick der Staubwolke folgte, die sich den Abhang hinunterwälzte, kam ein unerwarteter Ausruf über die Lippen des übel zugerichteten Reisenden.

»Welche Schweine!« sagte Blockhead mit einem Tone lebhafter Bewunderung.

Was ihm eben zugestoßen war, war ja gewiß unangenehm; seine Gefährten fanden den Ausdruck aber doch etwas zu stark. Zum Kuckuck, man muß sich doch zu beherrschen wissen! Die Damen wandten sich vor Lachen fast erstickend ab.

Nach einer weitern Erklärung mußte man Blockhead jedoch völlig verzeihen Es waren tatsächlich Schweine, wirkliche Schweine gewesen, deren Ansturm er erlegen war. Was die erste Veranlassung zu dieser Panik, was die Ursache gewesen war, die jene Herde gewöhnlich harmloser Borstentiere zu einem unwiderstehlichen Katapult verwandelt hatte, darüber konnten die Treiber nicht länger im Zweifel sein.

Es war gerade Mittag, als die Touristen den Kamm erreichten. Wie auf dem Gipfel des Kessels von Fayal fesselte sie die Großartigkeit des Bildes vor ihnen.

So wie es keine Phantasie sich hätte ausmalen können, bildete der Erdboden vor ihren Augen eine ungeheure, vierhundert Meter tiefe Aushöhlung von wunderbar regelmäßiger ovaler Form und achtundzwanzig Kilometer Umfang. Jenseits des schmalen Kammes fiel deren Wand an manchen Stellen unmittelbar hinunter. Weiter unten aber führten sanfte, mit üppiger Vegetation bedeckte Abhänge bis zum Grunde des seltsamen Senkungsgebietes, in dessen Mitte sich ein reizendes Dörfchen mit zwei wie der Himmel so blauen Seen friedlich sonnte.

Ging man an den Grenzen dieses Abgrundes hin, so gewann man einen freien Überblick über die ganze Insel. Im Norden ein Chaos von Abhängen, bedeckt mit Orangenhainen, weiterhin Feldstücke und Häuser. Im Osten ein Meer von Berggipfeln, und bald grünende Felder, bald von wilden dunkeln Schluchten zerrissenes Land. Endlich gewahrte man, über der Küste von San Miguel hinaus, wie Flecken auf dem unendlichen Spiegel des Ozeans, als verwaschene Linien Terceira im Nordwesten und Santa Maria im Osten.[158]

Die Zeit gestattete keinen längern Aufenthalt, so stieg man denn sofort nach dem Dorfe hinunter. Je mehr man sich ihm aber näherte, desto mehr verblich sein Reiz und er verschwand gänzlich, als man die Häuser erreichte Das, von ferne betrachtet, im Strahle der Sonne so entzückende Dörfchen war nicht mehr und nicht weniger schmutzig als die andern.

»Die Sieben Städte« hatte es Robert Morgan genannt.

Tatsächlich führt der Haufen elender Häuschen und Hütten diesen pomphaften Namen.

»Na, wenn man nur hier ein Frühstück bekommen kann!« knurrte Roger zwischen den Zähnen.

Die beschränkten Hilfsquellen des Dorfes reichten jedoch für die so verkleinerte Truppe der Touristen aus. Eine Stunde später konnten sie, schlecht und gerecht gestärkt, wieder den Rückweg einschlagen. An eine Besichtigung der Vulkane, der Schluchten, der zahlreichen Abgründe im Tale des Kraters war nicht zu denken, und ebensowenig daran, die malerischen Wasserfälle zu bewundern, die er enthält.

»Wahrhaftig, echt englisch, diese Art zu reisen! sagte Roger heiter zu seinem Landsmann. Etwas sehen? Warum denn? Wenn man nur seine Ration Kilometer abhaspelt!«

Elf Seemeilen ungefähr trennen die Sieben Städte von Ponta-Delgada. Da sie Nachmittag gegen drei Uhr wieder aufbrachen, konnten die Reisenden diese Strecke bequem vor Eintritt der Dunkelheit zurückgelegt haben.

Während sie in das Tal von Norden her eingetreten waren, stiegen sie jetzt an den südlichen Abhängen hinauf und warfen von Zeit zu Zeit einen Blick des Bedauerns zurück auf das Dorf, das wieder immer hübscher aussah, je mehr man sich von ihm entfernte. Auf dem ersten Teil des Weges wurde kein Wort gewechselt. Auf den Hals ihres Maultieres gebeugt und sich am Sattel festhaltend, schwiegen alle angesichts des beschwerlichen Aufstiegs über den steinigen Weg. Erleichtert atmeten sie aber auf, als ihnen, oben angelangt, eine frische Seebrise ins Gesicht wehte und sie die Wogen sechshundert Meter tiefer unten glänzen sahen. Da lösten sich die Zungen. Und wovon hätte man sprechen sollen, wenn nicht von den Bildern, die sie eben betrachtet hatten.

»Können Sie, Herr Professor, fragte Thompson den Dolmetscher, uns vielleicht auch sagen, wie der Abgrund entstanden ist, den wir soeben besucht haben, und woher der Name die »Sieben Städte« gekommen sein mag?[159]

– Du lieber Gott, Herr Thompson, die Entstehung ist immer dieselbe. Es handelt sich dabei stets um erloschene Vulkane, in deren Krater sich der Regen angesammelt hat. Der hier ist größer als die andern alle, das ist der ganze Unterschied. Was den Namen »Sieben Städte« angeht, so ist der wahrscheinlich ein Andenken an sieben Städte, die auf der sagenhaften Insel Antilia angeblich von sieben Bischöfen gegründet worden waren, welche beim Einfalle der Mauren aus Portugal freiwillig ins Exil gingen. Dem Volksglauben nach sollten die sieben von den Bischöfen gegründeten Städte samt der fabelhaften Insel, die sie trug, ins Meer versunken sein. Ohne Zweifel hat dann das Volk die Legende nicht wollen der Vergessenheit anheimfallen lassen und hat deshalb den Namen auf diesen Krater übertragen, der bei dem starken Ausbruch des Jahres 1445 durch ein ähnliches Einsinken des Erdbodens entstanden war.

– Und so in unsrer Nähe! rief Thompson mit einer Art Furcht, die an die Angst Johnsons erinnerte. Ich hoffe doch, daß derartige Vorkommnisse seit langer Zeit aufgehört haben?

– Ja und nein, antwortete Morgan. Andre, sehr heftige Ausbrüche haben 1522 und 1652 stattgefunden. Gerade die Insel San Miguel, und von dieser besonders der westliche Teil, wo wir uns augenblicklich befinden, ist vulkanischen Erschütterungen häufiger ausgesetzt. Die letzte ernsthafte Störung hat sich hier im Jahre 1811 ereignet. Das ist ja nicht gerade lang her.

– Genau neunundneunzig Jahre, wahrhaftig nicht mehr! rief Thompson, der nach kurzem Schweigen, das er einer schnellen – übrigens fehlerhaften – Berechnung widmete, jetzt ernstlich beunruhigt erschien.

– Ja ja, das stimmt,« antwortete Morgan mit philosophischer Ruhe.

Thompson gab sich damit aber noch nicht zufrieden.

»Glauben Sie denn, Herr Professor, fuhr er fort, daß sich ähnliche Katastrophen auch jetzt noch wiederholen könnten?

– Meiner Treu, Herr Thompson, das kann ich doch nicht wissen, erklärte Morgan lächelnd. Es steht zwar fest, daß die vulkanische Tätigkeit auf den Azoren und anderwärts Neigung zeigt, schwächer zu werden, indessen...«

Morgan hatte nicht mehr Zeit, den Satz zu vollenden. Als wenn ihnen der Boden unter den Füßen gefehlt hätte, wurden Menschen und Tiere plötzlich wirr durcheinandergeworfen, glücklicherweise, ohne daß einer dabei Schaden erlitt. In einer Minute waren sie wieder auf den Beinen.

»Da – da haben Sie ja die Antwort,« sagte Morgan zu Thompson.


Ein Stück des Berges spaltete sich ab und stürzte herunter. (S. 163.)
Ein Stück des Berges spaltete sich ab und stürzte herunter. (S. 163.)

Gleich darauf stieß aber einer der Treiber einen schrecklichen Schrei aus, indem er die Arme nach dem Bergkamme hinausstreckte. Dann entfloh der Mann, was er nur laufen konnte, wie wahnsinnig vor Schrecken, nach dem Tale zu.

In der Tat bedrohte die Touristen eine höchst ernste Gefahr. Kaum hundert Meter von und unmittelbar unter ihnen wurde der Erdboden wie in Krämpfen hin-und hergeworfen. Unter Dröhnen und Brüllen, wie in hundert Menagerien mit Raubtieren, erhob er sich gleich dem Meere und wälzte schwere Sandwolken durcheinander. Schon verschwand die Sonne hinter einer dichten Staubwolke.

Die unglücklichen Reisenden befanden sich eben zwischen zwei ungeheuern Felsen, deren lotrechte Wände einen ungefähr fünfhundert Meter breiten und ebenso langen Gang bildeten. Den Treibern nachfolgend, stürmten sie auf den Felsen zur Rechten zu, dessen vorspringende Wand ihnen vielleicht Rettung bieten konnte.

Es war die höchste Zeit.

Unter fürchterlichem Krachen begann das zerrissene Erdreich sich den Abhang hinunterzuwälzen. Ein Stück des Berges spaltete sich ab und stürzte herunter. Anfänglich schwach, steigerte sich die Geschwindigkeit der Lawine von Meter zu Meter und wurde endlich schwindelerregend. Das Getöse war jetzt zum Taubwerden.

Mit Angst im Herzen, festgeschlossenen Lippen und gefalteten Händen starrten die Touristen auf das grausige Schauspiel.

Die Naturerscheinung spielte sich weiter ab.

Vom ersten Stoße wurde jetzt der schützende Felsen weggerissen. In dem riesigen Strudel verloren, wurde er zu einem der Geschosse, womit der Berg das Tal bombardierte. Jetzt schützte die Reisenden nichts mehr, und die abgesprengten Felsstücke flogen, wie vom Sturm gepeitscht, ganz dicht vor ihnen vorüber.

Nach zwanzig Sekunden war alles zu Ende. Die Natur hatte aber längst ihre frühere Ruhe wiedergefunden, ehe nur eine schwache Bewegung die Erstarrung der entsetzten Zuschauer der Katastrophe brach. Die einen lagen noch am übriggebliebenen Fuß der Felsenwand, die andern standen aufrecht, die Arme gekreuzt und mit dem Rücken darangelehnt... Doch aus allen schien das Leben entflohen zu sein.[163]

Die erste, die wieder einigermaßen zum Bewußtsein kam, war Alice Lindsay, die sich plötzlich in einem Felsenwinkel wiederfand. Wie war sie dahin gekommen? Wer hatte sie hierher getragen?... Vielleicht ihr Schwager?... Oder war es nicht Morgan gewesen, der, ohne sich dessen selbst bewußt zu sein, sie noch jetzt mit dem eignen Körper schützte?

»Das ist nun, wenn ich den Auflauf in Terceira rechne, das zweite Mal, daß ich Ihnen Dank schuldig geworden bin,« sagte sie hervortretend.

Robert Morgan sah aus, als ob er sie nicht verstünde.

»O, ich bitte, Madame, mir schulden Sie gewiß nicht mehr als jedem andern, den der Zufall unter solchen Verhältnissen in Ihre Nähe gebracht hätte.«

Alices Bewegung hatte den Bann gebrochen, der ihre Gefährten bisher lähmte. Alle schüttelten sich, niesten wiederholt, und allmählich begannen ihre Herzen wieder regelmäßig zu schlagen.

Für die Rückkehr nach Ponta-Delgada war an die Benützung des frühern Pfades gar nicht zu denken. Durch die abgestürzten Erdmassen und Felsblöcke mehr nivelliert, fiel der Berg jetzt weit sanfter und gleichmäßiger ab, nur überall übersät mit Blöcken und Steinen, die im Sturze aufgehalten worden waren. Von ernsterer Bedeutung war es noch, daß die meisten Maultiere den Tod gefunden hatten. Was von ihnen übrig war, wurde den Frauen überlassen, und dann machte man sich vorsichtig auf den Weg über das zerwühlte Erdreich.

Nach dem Aufbruch hatten sechs oder sieben Treiber, die ihre Stimmen vereinigten, nach ihrem verschwundenen Kameraden gerufen... leider vergeblich. Bei seiner unsinnigen Flucht mochte der Unglückliche jedenfalls von der Erdlawine eingeholt worden sein und schlief nun schon unter dem schweren Leichentuche von zwanzig Meter Erde.

Man zog also, ohne Zeit zu verlieren, weiter; es galt ja, sich zu beeilen, da niemand wissen konnte, was sich hier noch ereignen könnte. In dem aufgewühlten Boden ging es natürlich nur langsam vor wärts, so daß die Straße erst mit Anbruch der Nacht erreicht wurde. Von da aus waren es noch zehn Kilometer bis Ponta-Delgada. Binnen zwei Stunden wurde diese Strecke zurückgelegt, und zwanzig Minuten vor neun Uhr stiegen die Touristen, zum Tode ermüdet, aber heil und gesund, auf die »Seamew« an Bord.

Ihre Reisegefährten, die auf der Straße von Ribeira-Grande zurückgekehrt waren, befanden sich schon lange Zeit hier. Sie beglückwünschten sich nicht wenig wegen ihrer Trägheit, als sie hörten, was sich an diesem Tage ereignet hatte.[164]

Einer war es aber, der noch mehr als sie triumphierte, und das war natürlich Johnson, dessen Entschluß am Ende noch nicht einmal dumm zu nennen war.

»Mir scheint, sagte er ohne jede Bescheidenheit zu Morgan, daß Sie da heute alle hätten umkommen können.

– Ja freilich, so ist es, lieber Herr.

– He! fuhr Johnson fort, und mir wäre es auch nicht besser ergangen, wenn ich die Torheit begangen hätte, Ihnen zu folgen.

– Wohl möglich, Herr Johnson, antwortete Morgan, wollen Sie aber gefälligst bemerken, daß wir alle gesund zurückgekommen sind.

– Nun, bis auf einen Maultiertreiber, wie mir zu Ohren gekommen ist, entgegnete Johnson ruhig. Die andern, na, die kommen ein andermal dran. Nun sagen Sie mir, bitte, Herr Professor, wir gehen doch hier von San Miguel aus nach Madeira, nicht wahr?

– Ja wohl, nach Madeira, antwortete Morgan! ohne zu ahnen, wohin das Original hinaus wollte.

– Und gibt es auf Madeira auch Erdbeben?

– Ich glaube nicht, antwortete Morgan.

– Schön, sagte Johnson. Wir nehmen also an, daß auf jener herrlichen Insel ganz und gar nichts zu fürchten ist.

– Du lieber Gott, antwortete Morgan, ich sehe davon nichts... höchstens vielleicht dann und wann Uberschwemmungen...

– Wie?... Überschwemmungen! unterbrach ihn Johnson. Sie sagen, Überschwemmungen? Solche kommen also doch vor?

– Na ja, zuweilen.

– Sehr gut, schloß Johnson kalt. Dann, Herr Professor, wollen Sie in Ihren Papieren bemerken, fuhr er fort: Ich, ich werde keinen Fuß auf Ihre verdammte Insel Madeira setzen!«

Der unverbesserliche Feigling drehte sich auf den Absätzen herum und verschwand im Kaffeesalon, wo man ihn gleich eine ordentliche Herzstärkung verlangen hörte. Während nun Johnson so triumphierte, erfuhr Thompson eine ihm recht unangenehme Überraschung.

Er war kaum auf dem Schiffe angelangt, als ein großes Boot an der »Seamew« anlegte. Gleich darauf betraten etwa zwanzig Polizisten, von einem höhern Offizier geführt, das Deck des Schiffes.[165]

»Mein Herr, erklärte der Offizier trocknen Tones in leidlichem Englisch, der Dampfaviso »Camoens« ist eben in unserm Hafen eingetroffen. Er bringt Nachricht von den unqualifizierbaren Vorgängen, deren Schauplatz die Reede von Angra gewesen ist. Mit dieser Sache wird sich jedoch unsre Diplomatie zu beschäftigen haben. Mich geht nur ein einziger Punkt an, das ist die Auffindung des Diebes. Ihr Verhalten legt uns die Vermutung nahe, daß Sie ihm Zuflucht gewähren. Betrachten Sie sich also im Hafen von Ponta-Delgada zurückgehalten. Ihren Passagieren und auch Ihnen selbst wird hiermit strengstens untersagt, das Schiff zu verlassen oder irgendwie mit dem Lande in Verbindung zu treten, ehe Ihr Schiff nicht eingehend untersucht worden ist.«

Das wurde in einem so entschiedenen Tone gesprochen, daß es jeden Widerspruch ausschloß. Ein Engländer ist ja nicht selten arrogant; daran war hier nicht zu denken. Thompson gab klein nach.

»Wann wird diese Durchsuchung stattfinden? fragte er nur.

– Morgen, lautete die Anwort.

– Und wie lange wird mein Schiff hier zurückgehalten bleiben?

– Das weiß ich nicht, schloß der Polizeioffizier. Jedenfalls so lange, wie es nötig sein wird, den Schuldigen zu finden und hinter Schloß und Riegel zu bringen. Ihr Diener, meine Herren.«

Bei diesen Worten legte der Offizier zwei Finger an den Rand seiner Mütze und stieg wieder in sein Boot, während Thompson voller Verzweiflung zurückblieb.

Quelle:
Michel Verne: Das Reisebüro Thompson und Comp. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XCI–XCII, Wien, Pest, Leipzig 1909, S. 148-153,155-161,163-166.
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Die Serapionsbrüder

Die Serapionsbrüder

Als Hoffmanns Verleger Reimer ihn 1818 zu einem dritten Erzählzyklus - nach den Fantasie- und den Nachtstücken - animiert, entscheidet sich der Autor, die Sammlung in eine Rahmenhandlung zu kleiden, die seiner Lebenswelt entlehnt ist. In den Jahren von 1814 bis 1818 traf sich E.T.A. Hoffmann regelmäßig mit literarischen Freunden, zu denen u.a. Fouqué und Chamisso gehörten, zu sogenannten Seraphinen-Abenden. Daraus entwickelt er die Serapionsbrüder, die sich gegenseitig als vermeintliche Autoren ihre Erzählungen vortragen und dabei dem serapiontischen Prinzip folgen, jede Form von Nachahmungspoetik und jeden sogenannten Realismus zu unterlassen, sondern allein das im Inneren des Künstlers geschaute Bild durch die Kunst der Poesie der Außenwelt zu zeigen. Der Zyklus enthält unter anderen diese Erzählungen: Rat Krespel, Die Fermate, Der Dichter und der Komponist, Ein Fragment aus dem Leben dreier Freunde, Der Artushof, Die Bergwerke zu Falun, Nußknacker und Mausekönig, Der Kampf der Sänger, Die Automate, Doge und Dogaresse, Meister Martin der Küfner und seine Gesellen, Das fremde Kind, Der unheimliche Gast, Das Fräulein von Scuderi, Spieler-Glück, Der Baron von B., Signor Formica

746 Seiten, 24.80 Euro

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Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

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