Elftes Kapitel.

Eine Hochzeit auf San Miguel.

[166] Am Morgen des 25. Mai erwachten alle Passagiere der »Seamew« in recht verdrießlicher Stimmung. Schon am Tage vorher hätte die Weiterreise erfolgt sein können, ja schon vorgestern, wenn man nicht vor der Landung an Fayal bereits mit einem Tage im Rückstande gewesen wäre.[166]

Niemand hatte die Folgen der Vorgänge in Terceira geahnt. Als die »Seamew« die Reede von Angra verlassen hatte, hatte kein andrer Dampfer auf dieser verankert gelegen. Konnte nun jemand voraussetzen, daß der »Camoens« hier gerade rechtzeitig eintreffen würde, um die Flüchtlinge vor San Miguel noch einzuholen?

Unter den Passagieren nahmen nur wenige dieses neue Hindernis der Reise mit Ruhe auf. Die meisten genierten sich nicht, ihren Unmut laut kundzugeben und die Verantwortlichkeit für die ärgerliche Verzögerung Thompson aufzubürden, der durch sie ja doch am meisten litt. Wie kam er auch dazu, den Behörden von Terceira zu trotzen? Wenn er umsichtiger gehandelt hätte, würde die Geschichte wahrscheinlich eine ganz andre Wendung genommen haben.

Noch mehr! Wenn man der Sache weiter auf den Grund ging, lag es auf der Hand, daß die Agentur entschieden einen Fehler begangen hatte. Wäre das Schiff vor Fayal statt am 17. entgegen der ursprünglichen Bestimmung nicht erst am 18. eingetroffen, so würde es Terceira schon am Abend des 20. Mai wieder verlassen haben, die Reisenden wären dann in keiner Weise in die absurde Diebstahlsangelegenheit verwickelt worden, deren Ausgang auch jetzt noch keiner voraussagen konnte.

Saunders und Hamilton, die beiden stets Unzufriedenen, erörterten – wer hätte wohl etwas andres erwarten können? – am eifrigsten dieses Thema. Was sonst hätte sich auch so vorzüglich dazu eignen können, ihre wahrhaft tückische Pünktlichkeit hervorzuheben? Mit lauter Stimme predigten sie inmitten eines ihnen zustimmenden Kreises, in dem in erster Reihe Van Piperboom aus Rotterdam, seine Pfeife schmauchend, figurierte.

Ob der Holländer die unangenehme Lage, in der er sich befand, wohl ebenso wie alle seine Gefährten begriffen hatte? Jedenfalls war er nicht knauserig mit Zeichen der Zustimmung, als er den Reden der Führer der Opposition gewissenhaft zuhörte, ohne doch ein Wort davon zu verstehen.

Auch Don Hygino zeigte sich als einer der hitzigsten Widersacher und Ankläger. Er konnte sich in heftigen Worten gar nicht genug tun. Er, der Portugiese, drohte seinem Vaterlande mit schweren Repressalien seitens des Kabinetts von Saint-James. Wie kam aber gerade dieser portugiesische Herr dazu, sich über die Verzögerung so zu ereifern? Welche Bedeutung konnte es für einen Mann haben, der seiner eignen Rede nach kaum wußte, was er mit seiner Zeit anfangen sollte?[167]

Wenn Thompson an der feindlichen Gruppe vorüberkam, in der Saunders den störrigen Tyrtäus vorstellte, schlich er sich mit einem Katzenbuckel vorbei. Innerlich mußte er ja die üble Laune seiner Passagiere entschuldigen. Hatte er den Leuten eine angenehme Reise von etwa einmonatlicher Dauer versprochen, ihnen dafür eine immerhin beträchtliche Summe Geldes abgenommen, um sie nachher im Hafen von Ponta-Delgada eingesperrt zu halten, so konnte das wohl die gutmütigsten Seelen in die Wolle bringen. Noch ein wenig mehr, und auch die übrigen hätten ihn verlassen, die ihm bis jetzt treu geblieben waren... Das sah er, das fühlte er. Ohne sich in so maßlosen Klagen zu ergehen wie Saunders, Hamilton und deren Anhänger, hatten sogar schon solche wie der Geistliche Cooley unverkennbar angedeutet, daß sie mit dem San Miguel anlaufenden Postdampfer nach England heimkehren, also auf die fernere Reise verzichten würden, wenn sich die Lage der Dinge hier nicht sehr bald zum Bessern wenden würde. Das war ein ernstes Symptom.

Wer stand nun noch gegenüber dieser mächtigen Opposition auf Thompsons Seite? Einzig und allein die Familie Blockhead, die den Optimismus ihres Oberhauptes getreulich teilte. Der würdige Ehren-Gewürzkrämer machte stets ein höchst zufriedenes Gesicht und erklärte jedem, der ihn hören wollte, er sei alles in allem gar nicht so bös darüber, sich hier in diplomatische Streitigkeiten verwickelt zu sehen.

Was die Lindsays und Roger betrifft, so waren diese neutral, weder Gegner noch Parteigänger des Unternehmers. Sie kümmerten sich nur wenig um die Dinge, über die ihre Gefährten sich so sehr aufregten. In Ponta-Delgada hatten ja Alice und Dolly so gut wie anderswo immer die Genugtuung, beieinander zu sein, und konnten sich der Unterhaltung des schneidigen französischen Offiziers erfreuen.

Unterstützt durch das gewohnte Leben an Bord, hatte dieser leicht genug den von dem unfreundlichen und schweigsamen Jack verlassenen Platz einnehmen können. Schon kurze Zeit nach der Abfahrt sah man die beiden Schwestern und ihn fast stets beisammen, und diese Vertraulichkeit setzte die Zungen ihrer Reisegenossen manchmal mehr als nötig in Bewegung. Roger schien sich aus solchen Klatschereien aber blutwenig zu machen. Ganz offen schüttete er über die beiden Damen die Schätze seines heitern Gemüts aus. Dolly und ihn sah man fast immer herzlich lachen. Selbst der jetzige Zwischenfall gab beiden nur Veranlassung zu endlosen Scherzen, und Roger vorzüglich machte sich über eine so[168] vortrefflich organisierte Reise lustig. Dem vertrauten Kreise der Drei schloß sich auch Morgan nach und nach mehr an. Eine so kluge Zurückhaltung er auch sonst bewahrte, wäre es von ihm doch fast beleidigend erschienen, dem Entgegenkommen seines Landsmannes und der Mrs. Lindsay, die ihn immer etwas neugierig beobachtete, nicht entsprechen zu wollen. Er legte also seine frühere Schüchternheit mehr und mehr ab und fing ebenfalls an, harmlos zu plaudern. Und je mehr sie ihn kennen lernten, destomehr rechtfertigte er das schmeichelhafte Vertrauen der Damen, die ihn ihrer Gesellschaft angliederten. Ohne seine Stellung hier zu vergessen, lüftete er doch einigermaßen die Verkleidung, die er trug, und gewissermaßen wieder er selbst, beteiligte er sich an einem Geplauder, dem er von Tag zu Tag mehr Reiz abgewann. Abgesehen von der Erderschütterung bei den Sieben Städten, hatte er sich nur durch Zufall die Dankbarkeit Alice Lindsays erworben, doch das hatte genügt, ihn häufiger mit den beiden Schwestern zusammenzuführen.

Selbst wenn Thompson aber die Indifferenten seinem ausgesprochnen Anhang zuzählte, mußte er sich gestehen, daß seine Armee stark zusammengeschmolzen war, und er zermarterte sich das Gehirn, um Mittel zu finden, dieser beklagenswerten Lage ein Ende zu machen. Das erste war natürlich eine Anrufung des britischen Konsuls; leider machte eine solche das Verbot, irgendwie mit dem Lande in Verbindung zu treten, von vornherein unmöglich. Thompson versuchte es noch einmal, mit dem Leutnant des Polizeiaufgebots auf der »Seamew« zu verhandeln, vergeblich; erst mußte die weitere Durchsuchung abgewartet werden, vorher war nichts zu machen.

Der Kapitän Pip lauschte von weitem dem Gespräche, das in dieser Weise endete. Ohne die einzelnen Worte zu hören, erriet er doch ihren Sinn und knetete vor Wut die Spitze seiner Nase, während seine Pupillen auseinanderwichen, als ob er stark schielte. Seinen Reeder so erniedrigt zu sehen, daß er sich bittend an einen portugiesischen Polizisten wenden mußte, das ging dem wackern Kapitän über alle Begriffe. Wenn Thompson ihn vorher gefragt hätte, würde der ehrliche Seemann ihm zu einem Staatsstreiche geraten haben, das heißt, stolz am hellen Tage mit flatternden Fahnen unter den Kanonen des Forts davonzufahren.

Thompson fiel es aber gar nicht ein, an die Weisheit seines Kapitäns zu appellieren. Er strebte nur nach Beruhigung und suchte Zeit zu gewinnen, es möglichst allen recht zu machen. Und das ist bekanntlich eine schwere Aufgabe.[169]

Eine der Ungeduldigsten war die arme Thargela. Ohne diesen unseligen Zwischenfall wäre nun die Stunde nicht mehr fern gewesen, wo sie die Frau Joachimos geworden wäre. Sie brannte vor Verlangen, den unbeugsamen Offizier aufzusuchen, der ihr gegenüber doch vielleicht nachgiebiger war.

So zögerte sie auch nicht, den kühnen Versuch zu wagen, als sie Joachimo sah, der sie offenbar sprechen wollte, und ihr aus dem Boote verzweifelt zuwinkte.

Thargela trat entschlossen auf den Offizier zu und erklärte ihm die mißliche Lage, in die sie der Befehl des Gouverneurs versetzt hatte. War es nur die Gerechtigkeit der Klage oder der Widerhall, den diese Geschichte auf der ganzen Insel gefunden hatte, oder war es einfach die Wirkung der schönen Augen der Bittstellerin, jedenfalls ließ der Offizier sich erweichen. Er schickte einen Boten aus Land, der auch bald mit der Weisung zurückkehrte, Thargela unter der Bedingung auszuschiffen, daß sie sich auf dem Lande einer eingehenden Untersuchung ihrer Kleidung und ihrer Person unterzöge. Dieser Vorbehalt hätte, wenn man es nicht schon wußte, bewiesen, wie streng die Blockade gehandhabt wurde.

Die junge Azorerin beeilte sich, von der erlangten Freiheit Gebrauch zu machen. Vorher unterließ sie es jedoch nicht, Thompson und Alice Lindsay, die sich ihr so hilfsbereit erwiesen hatten, herzlich zu danken. Gleichzeitig lud sie die beiden, doch auch alle andern, ein, zu ihrem Hochzeitsballe zu erscheinen.

Thompson antwortete hierauf nur mit einem schwachen Lächeln, während Alice die Einladung annahm, wenn die Umstände es erlaubten, dieser zu folgen.

Dann verließ Thargela in freudiger Erregung den Dampfer. Ungefähr um vier Uhr legte an der Schiffswand ein großes Boot mit drei Herren an, die man an ihren Uniformen als Beamte erkannte, und die von zwei Frauen begleitet waren, deren zukünftige Rolle vorläufig unbekannt war. Thompson erkannte unter den Ankommenden auf den ersten Blick den wortkargen Corregidor, mit dem er am Tage vorher zu tun gehabt hatte. Dieser verkündete seine Absicht hier mit einem einzigen Worte, das Morgan sofort übersetzte. »Schiffsdurchsuchung« sagte er, als er das Deck betrat.

Thompson verbeugte sich stillschweigend, in Erwartung dessen, was die Beamten vornehmen würden, die vor dem Beginn der eigentlichen Durchsuchung kurze Zeit an der Bordwandöffnung stehen geblieben waren und zunächst einen forschenden Blick auf das Schiff im ganzen schweifen ließen.[170]

Als der Corregidor glaubte, daß das hinreichend geschehen sei, verlangte er von Thompson, daß dieser alle Passagiere auf das Spardeck schicken sollte. Da sich diese schon hier befanden, wies Thompson nur mit einer Geste auf den Kreis erwartungsvoller Gesichter, der sich um die beiden Männer gebildet hatte.

»Meine Herren, begann der Corregidor, auf Terceira ist ein Diebstahl im Betrage von zehntausend Contos de reis (6 Millionen Francs) begangen worden. – Eine Belohnung von einem Prozent, das heißt 100 Contos de reis (60.000 Francs) ist demjenigen zugesichert worden, der die Entdeckung des Diebes herbeiführt. Sie erkennen daraus, welche Bedeutung die Regierung dieser Angelegenheit beilegt, die die Entrüstung unsrer frommen Einwohnerschaft hervorgerufen hat. Das auffallende Verhalten Ihres Reeders und Ihres Kapitäns – hier wechselte der Kapitän Pip einen Blick mit Artimon und spuckte von der Kommandobrücke verächtlich ins Meer – hat den Verdacht erweckt, daß der Dieb sich in Ihrer Mitte versteckt hält. Es liegt also in Ihrem eignen Interesse, sich, wenn Sie jedem Mißverständnisse vorbeugen wollen, willig den Instruktionen zu fügen, die ich erhalten habe und im Falle der Not mit Gewalt durchführen müßte.«

Der Corregidor machte eine Pause. Er war bei der offenbar vorbereiteten Ansprache außer Atem gekommen.

»Passagiere nebst Offizieren auf das Spardeck, sagte er, an Thompson gewendet; Mannschaft auf das Vorderkastell. Werden von meinen Leuten bewacht werden, während wir die Durchsuchung des Schiffes vornehmen.«

Entsprechend dem von Morgan übersetzten Befehl traten alle, bis auf den Kapitän, der wütend an seinem Schnurrbarte kaute, zu einer engern Gruppe zusammen, während die Mannschaft sich auf dem Vorderteile sammelte. Nur einer von den Passagieren fehlte darunter und verschwand, ehe es jemand bemerkte, in dem zu den Kabinen führenden Gange. Dieser Passagier war Don Hygino.

Was hatte der im Innern des Schiffes zu tun? Gehorchte er, selbst ein Portugiese, nicht der Anordnung des portugiesischen Beamten? Vielleicht wollte er nur seine beiden Brüder holen, die man seit ihrer Einschiffung überhaupt kaum zu sehen bekommen hatte.

»Sind Ihre Passagiere vollzählig hier? fragte der Corregidor, als sich alle versammelt hatten. Wollen Sie gefälligst die Liste verlesen.«[171]

Thompson kam dem Verlangen sogleich nach. Doch als er die letzten Zeilen ablas, rief er vergeblich nach Don Hygino, Don Jacobo und Don Christopho da Veiga.

Der Corregidor runzelte die Brauen.

»Lassen Sie die Herren kommen,« befahl er barsch.

Ein nach diesen geschickter Diener brachte die drei Brüder bald zur Stelle. Die waren sichtlich nicht in rosiger Stimmung, und so rot und aufgeregt, daß man hätte darauf schwören können, sie hätten sich soeben tüchtig gezankt.

»Wie kommt es, meine Herren, meinte der Corregidor sehr ernsten Tones, daß Sie sich nicht hier unter den andern Passagieren befinden?«

Wie gewöhnlich antwortete Don Hygino darauf in seiner Brüder und im eignen Namen.

»Meine Brüder und ich, mein Herr, sagte er gelassen, haben von Ihrer Gegenwart an Bord nichts gewußt.

– Hm!« brummte der Corregidor.

Morgan sagte nichts. Er hätte aber einen Eid darauf leisten mögen, daß er den edeln Portugiesen noch eben unter den andern Passagieren gesehen hatte.

Diese Beobachtung behielt er aber weislich für sich.

Der Corregidor hatte aber an die Gebrüder da Veiga noch weitere Fragen zu richten.

»Sie sind, wie ich glaube, Portugiesen, meine Herren? fragte er.

– So ist es, antwortete Don Hygino.

– Und haben sich in London auf diesem Dampfer eingeschifft?

– Um Verzeihung, erst in Terceira, erwiderte Don Hygino.

– Hm! Ach so! brummte der Corregidor zum zweiten Male, indem er Don Hygino einen durchdringenden Blick zuwarf. Auf dem Schiffe hier haben Sie wohl keine persönlichen Beziehungen oder vielleicht Verwandte?«

Hamilton kochte innerlich, als er die ihm unglaublich erscheinende Befragung hörte. Sprach man denn so mit vornehmen Herren? Er konnte nicht mehr an sich halten.

»Bitte um Verzeihung, mein Herr, fiel er ein, die Herren da Veiga sind hier nicht ohne alle Verbindung und würden keineswegs Mühe haben, Bürgen zu finden.

– Mit wem habe ich die Ehre...?« fragte der Corregidor spitzig.

Hamilton richtete sich so steif auf, als ob er an Hexenschuß litte.[172]

»Mit dem Baronet Sir Georges Hamilton,« sagte dieser protzig.

Dem Corregidor schien das nicht besonders zu imponieren.

»Gut, gut, mein Herr!« antwortete er kalt höflich.

Nachdem er dann noch einmal alle Passagiere gewarnt hatte, das Spardeck unter irgendwelchem Vorwande zu verlassen, verschwand er unter einer Treppenkappe, während Don Hygino mit Hamilton einen warmen Händedruck wechselte.

Die Durchsuchung nahm nun ihren Anfang. Nacheinander begaben sich die Späher der Polizei in die Kohlenbunker, in den Lastraum, nach den Maschinen und ins Volkslogis, um zuletzt die Kabinen der Passagiere zu durchsuchen. Bei dieser Tätigkeit, die unter der Leitung eines Beamten vor sich ging, dem man den Spürsinn im Gesichte ansah, blieb gewiß kein Winkel, so versteckt er auch sein mochte, undurchwühlt.

Die Passagiere mußten sehr lange warten. Zwei Stunden vergingen, ehe der Corregidor wieder aufs Deck kam. Einige Minuten nach sechs Uhr erschien er endlich. Der verdrießliche Ausdruck seines Gesichtes bewies, daß er nichts gefunden hatte.

»Beeilen wir uns ein wenig, meine Herren, mahnte er, als er das Spardeck betrat. Wir wollen jetzt das Verdeck und die Takelage durchsuchen. Inzwischen werden diese Herren und diese Damen sich einer persönlichen Untersuchung zu unterziehen haben.«

Das rief eine laute Entrüstung bei den Passagieren hervor. Die Polizeieskorte schloß eine Kette um die Murrenden.

»Schön, schön! sagte der Corregidor. Sie sind ja Ihre eignen Herren. Ich für meinen Teil werde mich auch begnügen, die Widerspenstigen verhaften und einsperren zu lassen, bis die Entscheidung des Gouverneurs in dieser Sache vorliegt. Leute, tut eure Schuldigkeit!« rief er noch einigen Polizisten zu.

Da war nun jeder Widerstand unmöglich. Einer nach dem andern begaben sich die Passagiere, von je einem Beamten begleitet, nach ihrer Kabine. Jetzt zeigte sich auch, warum der Corregidor die zwei Frauen mit hergebracht hatte.

Dieser selbst setzte noch die Absuchung des Schiffes fort. Überall wurden die Taurollen aufgehoben und einzelne Leute auf die Marsen und bis nach den Masttoppen hinausgeschickt. Kein verborgner Winkel blieb undurchstöbert bei dieser Nachsuchung, die nach bewundernswerter Methode durchgeführt wurde.

Die beste Spürnase kann aber nichts finden, wo nichts ist, und es stand hier einmal geschrieben, daß der Corregidor von dieser eifrigen Jagd als[173] Schneider zurückkehren sollte. Um sieben war alles gesehen und nochmals durchgesehen.

»Sie können sich nun wieder frei bewegen, sagte der Beamte sauersüß zu Thompson, während er schon auf die Bordwandöffnung zuging.

– Wir können also ans Land gehen?

– Ganz nach Belieben.

– Und jedenfalls auch die Insel verlassen?

– Ja, was das betrifft, mein Herr, antwortete der Corregidor trocken, so werden Sie schon warten müssen bis zum Eintreffen der Antwort auf unsern Bericht, den wir unverzüglich nach Terceira absenden werden.«

Und während Thompson noch wie vor den Kopf gestoßen auf der Stelle stehen blieb, verschwand der Corregidor mit seiner Rotte Agenten und den Männern und Frauen, die die Leibesvisitation vorgenommen hatten. Nur zehn Polizisten blieben unter der Führung eines Leutnants auf dem Dampfer zurück, um das mit Arrest belegte Fahrzeug zu überwachen.

Beim Essen ging es nun sehr lebhaft her. Alle verurteilten streng die Maßnahme der portugiesischen Behörden. Die »Seamew« bis nach strenger Durchsuchung zurückzuhalten, das mochte ja hingehen; aber nach dieser...!

Man wird jedoch alles überdrüssig, den Unwillen ebenso wie alles andre Bald konnte es denn auch unter verhältnismäßiger Ruhe Alice Lindsay wagen, ihren Gefährten die Einladung der hübschen Thargela mitzuteilen. Die wurde besser aufgenommen, als man es von den immerhin noch gereizten Touristen erwartet hätte. Da sie gezwungen gewesen waren, den ganzen langen Tag an Bord zu bleiben, ergriffen sie mit Freuden die Gelegenheit zu einem Abendspaziergange und zu einem originellen Schauspiele. Fast vollzählig betraten sie gegen neun Uhr den Saal, worin Thargela ihre Verbindung mit dem geliebten Joachimo durch einen Ball feierte, bei dem Männer und Frauen nach den Klängen einer wahrhaft wütenden Musik in tollem Wirbel tanzten.

Die Engländer wurden mit Jubelrufen begrüßt, sie waren ja eigentlich die Glücksschmiede für die jungen Leute gewesen. Ohne ihre Gegenwart wäre die Hochzeitsgesellschaft nicht vollzählig gewesen. So wurden sie mit aufrichtiger Freude von allen Anwesenden willkommen geheißen.

Der eine Zeitlang unterbrochene Tanz wurde dann fortgesetzt. Quadrillen folgten den Polkas und Walzer den Mazurkas. Gegen elf Uhr aber riefen alle:

»Den Landun! Den Landun!«[174]

Schnell bildeten die Anwesenden einen Kreis, und Thargela und Joachimo ließen sich nicht weiter nötigen, ihre Freunde zu befriedigen, indem sie diesen Nationaltanz aufführten, für den die Azorer aller Klassen eine wahre Leidenschaft haben.

Der Landun ist der Zwillingsbruder des spanischen Bolero. Beiden gleich ist das Trippeln der Füße, das geschmeidige Biegen des Körpers und das halb zürnende, halb anlockende Mienenspiel. Jedenfalls hatte Thargela den schwierigen Charaktertanz sehr geschickt ausgeführt, denn als die Kastagnetten schwiegen, wurde das junge Paar mit anhaltendem Beifall überschüttet.

Gegen Mitternacht ging das Fest zu Ende. Der Wein von Fayal hatte die Ausgelassenheit der Tänzer bis aufs höchste gesteigert. Die Passagiere der »Seamew« bereiteten sich zum Aufbruche.

Nach kurzer Besprechung mit ihren Gefährten entschloß sich Alice Lindsay aber, erst noch einen Gedanken, der ihr gekommen war, zu verwirklichen. Da der Zufall sie mit dem Schicksale der jungen Leute verknüpft hatte, warum sollten sie, einer Regung des Herzens folgend, nicht auch vollenden, was sie begonnen hatten? Thargela, die ihren Schutz so geschickt in Anspruch genommen hatte, war dieser zuteil geworden. Nun erhob sich die Frage, wovon das Pärchen leben wollte. Mit einem so tüchtigen Burschen wie Joachimo würde es der jungen Ehe am notwendigsten ja nicht mangeln. Eine kleine Geldsumme aber, die die Touristen ohne Mühe unter sich aufbringen konnten, mußte jedenfalls die Zukunft des neuen Hausstandes wesentlich erleichtern. Das sollte Thargelas Mitgift sein, und Joachimo, der jetzt ein glücklicher Ehemann geworden war, machte mit demselben Schlage auch noch ein gutes Geschäft. Thargela geheiratet zu haben das war gut. Seine Zukunft sichergestellt zu wissen, das war noch besser.

Alice ging also für ihren jungen Schützling einsammeln, und es verdient bemerkt zu werden, daß da keiner der Passagiere wegen seines Obolus feilschte.

Blockhead, als der erste, schröpfte sich um zwei Pfund Sterling (40 M. = 50 Frcs.), für einen Ehren-Gewürzkrämer gewiß recht anerkennenswert, und Saunders, Thompson und Tigg glaubten da nicht weniger beisteuern zu dürfen.

Johnson hätte sicherlich ebensoviel gegeben, wenn er nicht, treu seinem Eide, auf der »Seamew« geblieben wäre.

Roger ließ in die Hand der graziösen Samariterin galant fünf Louisdor in französischem Golde gleiten.[175]

Hamilton, der trotz seines unliebenswürdigen Charakters im Grunde gutherzig war, verminderte bei dieser Gelegenheit seine Kapitalien um eine schöne Banknote im Werte von vier Pfund (80 M. = 100 Frcs.), die er wirklich gern zu spenden schien.

Alice sprach dem freigebigen Baronet ihren wärmsten Dank aus, doch als sie dann ihr wohltätiges Werk fortsetzte, fühlte sie sich etwas betroffen, als sie sich Morgan gegenübersah.

Ohne ein Wort zu sagen oder wegen der Bescheidenheit seiner Gabe in Verlegenheit zu kommen, übergab Morgan in edelstolzer Haltung der schönen barmherzigen Schwester ein portugiesisches Milreis (4,8 M. = 6 Frcs.), wobei Alice plötzlich fühlte, daß sie wider Willen über und über errötete.

Erregt über diesen Anfall von Schwäche, für den sie sich keinen Grund anzugeben wußte, dankte Alice mit einem Kopfnicken und legte, sich schnell umwendend, ihre Bitte dem nächsten Passagier vor.

Dieser nächste war kein andrer als der edle Don Hygino. Wenn aber Hamilton sich fürstlich abgefunden hatte, tat Don Hygino das wahrhaft königlich. Eine Banknote von vierzig Pfund (800 M. = 1000 Frcs.), das war das ansehnliche Geschenk, das er der Mrs. Lindsay einhändigte. Vielleicht tat er das etwas zu ostensiv, vielleicht faltete er die Banknote mit Vorbedacht so auseinander, daß jedermann ihren Wert erkennen konnte, mit einer Langsamkeit, die etwas unangenehm berührte. Doch das lag wohl daran, daß er ein Südländer war, und Alice hielt sich bei solchen Lappalien nicht weiter auf.

Angeregt durch dieses Beispiel, öffneten die meisten übrigen Passagiere ihre Geldbeutel besonders weit. Keiner verweigerte seinen Beitrag, wenn der auch je nach den Vermögensverhältnissen des Gebers hier größer, dort kleiner ausfiel.

Nach Beendigung ihres Bittganges kündigte Alice freudig an, daß sie zweihundert Pfund (4000 M. = 5000 Frcs.) einbekommen habe. Das war ja ein sehr gutes Ergebnis. Um es ganz zu erreichen und die Summe abzurunden, hatte Alice selbst noch einen beträchtlichen Betrag beisteuern müssen. Sie hütete sich aber, die lächerlich eitle Weise Don Hyginos nachzuahmen, und was sie gab, das erfuhr niemand.

Aus angeborner Bescheidenheit wollte sie aber freilich darauf verzichten, der jungen Frau diese unerwartete Morgengabe selbst zu übergeben. Sie betraute damit das junge, menschenscheue Ehepaar, das auf der »Seamew« eine so merkwürdige Reise machte. Diesen Abend waren sie rein zufällig hier anwesend, und der schöne Auftrag kam ihnen ja wohl mit Recht zu.


Gegen Mitternacht ging das Fest zu Ende. (S. 175.)
Gegen Mitternacht ging das Fest zu Ende. (S. 175.)

Die junge Engländerin überlieferte also ihrer portugiesischen Schwester die Mitgift, die eben aufgebracht worden war und die sie mit einem herzlichen Kusse begleitete. Sie wollte aber doch nicht den[176] Namen der barmherzigen Reisenden verschweigen, der Thargela eigentlich Dank schuldig war. Alice mußte also die überquellenden Dankesbezeigungen Thargelas und ihres Gatten über sich ergehen lassen. Fünftausend Francs, das war für die beiden schon ein Vermögen, und niemals würden sie die gütige Fee vergessen, die ihr zukünftiges Glück gesichert hatte.[177]

Auch die andern Passagiere erhielten ihren Teil von dieser Explosion der Dankbarkeit. Thargela ging, mit Freudentränen in den Augen, von dem einen zum andern und drückte allen immer und immer wieder die Hände.

Es galt indes nun aufzubrechen.

Mit großer Mühe beruhigte man einigermaßen die freudige Aufregung des neuen Ehepaares, und dann wandten sich die Touristen, von begeisterten Rufen begleitet, der Türe des Saales zu.

Bis zuletzt blieben Thargela und Joachimo an ihrer Seite und vergalten durch ihre fast überschwengliche, aber aufrichtige Freude hundertfach die empfangene Wohltat. Und als die Touristen endlich hinausgekommen waren, da standen Thargela und Joachimo noch Hand in Hand auf der Türschwelle und sahen in die Nacht hinaus, wo die Eintagsgäste allmählich im Dunkel verschwanden, die Reisenden, die bald ihre Reise fortsetzen würden, die schon keine nutzlose sein konnte wegen der einen gutherzigen Handlung, die sie in diesem Winkel der weiten Welt verrichtet hatten.

Quelle:
Michel Verne: Das Reisebüro Thompson und Comp. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XCI–XCII, Wien, Pest, Leipzig 1909, S. 166-178.
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