Zwölftes Kapitel.

Eigentümliche Wirkungen der Seekrankheit.

[178] Als die Passagiere, nach ihrem Abschiede von Thargela und Joachimo, an Bord zurückgekehrt waren, hatten sie fünf von den Polizisten, die zu ihrer Bewachung beordert waren, auf dem Deck umherspazierend angetroffen, während deren fünf Kameraden im Volkslogis und ihr Offizier in der ihm eingeräumten Koje in süßem Schlummer lagen. Doch trotz der strengen Überwachung schwamm die »Seamew« am 26. Mai bei Sonnenaufgang schon mehr als dreißig Seemeilen von San Miguel auf dem offnen Meere.

Dergleichen schien ihr zur Gewohnheit zu werden.[178]

Diesmal hatte sie sich, um zu entfliehen, keinen portugiesischen Geschossen auszusetzen brauchen. Das war einfach infolge eines dicken Nebels gelungen, der gegen zwei Uhr morgens alles mit einem undurchdringlichen Schleier verhüllt hatte. Der im Schlafe liegende Leutnant war nebst seinen fünf Leuten eingeschlossen worden, die fünf Wachthabenden hatte man im Handumdrehen gefesselt, und die »Seamew« war ruhig abgedampft, als ob gar kein Arrestbefehl des Gouverneurs vorgelegen hätte.

Der Leutnant, der eine Stunde später herausgelassen wurde, sah sich gezwungen, sich den Vorschriften des Siegers zu unterwerfen und auf eine unselige Kapitulation einzugehen. Seine Mannschaft war entwaffnet worden, und die »Seamew« trug sie letzt mit fort, um sie erst in Madeira in der Minute abzusetzen, wo das Schiff diese Besitzung Portugals verließ.

Durch die plötzliche Wendung der Dinge niedergeschmettert, ging der unglückliche Leutnant mit düsterm Gesichte auf dem Schiffe umher. Wenn er daran dachte, wie sehr dieses Abenteuer seinem Avancement schaden würde, machte er eine recht klägliche Miene, während er beim Hellerwerden des Himmels das vor ihm liegende weite Meer betrachtete.

Auch der Kapitän Pip hatte bis jetzt der wohlverdienten Ruhe nicht gepflogen. Abgesehen von der Gefahr, die von einer Gruppe – »die Ameisen« genannter – Klippen drohte, hatte auch das Wetter sein Wachbleiben nötig gemacht. Wenn auch kein Anzeichen für einen Sturm vorhanden war, zeigte das Meer doch eine abnorm starke Bewegung. Die gegen die Wellen ankämpfende »Seamew« kam kaum vorwärts und stampfte sehr heftig.

Wenn der Kapitän so alle Sorgen für den Dampfer auf sich nahm, geschah das offenbar zugunsten aller übrigen. Das war wenigstens Thompsons Ansicht, der schon seit der Abfahrt fest geschlafen hatte, bis er eine Hand auf seiner Schulter fühlte, die ihn plötzlich weckte.

»Was gibt es denn? Wieviel Uhr ist es?« fragte er, sich die Augen reibend.

Da erkannte er das ebenholzfarbene Gesicht des zweiten Tafelmeisters Master Sandweach.

»Es ist um sechs, Herr Thompson, antwortete dieser respektvoll.

– Und warum weckt Ihr mich da? knurrte Thompson unwillig.

– Ja, einer der Passagieraufwärter schickt mich, Ihnen mitzuteilen, daß man aus der Kabine, die der portugiesische Herr und seine Brüder innehaben,[179] sehr klägliche Töne hört. Er fürchtet, die Drei wären schwer krank, und er weiß nicht, was er tun soll.«

Thompson überlegte sich, daß die Sache tatsächlich schlimm stehen müßte, da man sich entschlossen hatte, ihn deshalb zu wecken.

»Es ist gut; ich werde nachsehen,« antwortete er gelassen.

Beim Betreten der Kabine der portugiesischen Herren bedauerte er gleich auf den ersten Blick nicht, dahin gekommen zu sein. Don Hygino und seine beiden Brüder erschienen ihm wirklich schwer krank. Leichenblaß, mit geschlossenen Augen und das Gesicht mit kaltem Schweiß bedeckt, lagen sie regungslos auf dem Rücken, stießen aber ununterbrochen herzzerreißende Schreie aus. Sie mußten wohl an unerträglichen Schmerzen leiden.

»Da ist ja ein verteufeltes Konzert!« murmelte Thompson.

Er war von Anfang an überzeugt, daß es sich hier, hervorgerufen durch den schweren Wogengang, um einen Anfall von Seekrankheit handelte. Wenn auch etwas heftiger als gewöhnlich, wurde diese Krankheit doch niemals eigentlich gefährlich.

Immerhin erforderte es die Humanität, den armen Leuten zu helfen, und Thompson – das Lob verdiente er – entzog sich dieser Menschenpflicht keinen Augenblick. Eine Stunde lang widmete er ihnen die rührendste Sorgfalt, und seine Schuld war es nicht, wenn sich diese vergeblich erwies.

Im Gegenteil schien sich der Zustand der drei Brüder sogar noch verschlimmern. Thompson bemerkte bestürzt Symptome, die man bei der Seekrankheit gewöhnlich nicht beobachtet. Von Zeit zu Zeit veränderte sich die Farbe der Kranken von blassem Grau zu brennendem Rot Sie schienen dann übermenschliche Anstrengungen zu machen, sich emporzurichten, sanken aber bald wieder mit pfeifendem Atem, eiskalter Haut und totenblassem Gesichte kraftlos zurück.

Um sieben Uhr erschien Thompson die Lage so kritisch, daß er Morgan wecken ließ; er bedurfte dringend des Rates.

Morgan konnte seinem Chef einen solchen unglücklicherweise auch nicht geben, und beide mußten also ihre Ohnmacht einsehen, den Leidenden, die schon fast mehr den Namen Sterbende verdienten, irgendwie zu helfen.

»Es muß aber doch etwas geschehen, sagte Morgan gegen acht Uhr. Wie wär's, wenn wir einmal versuchten, das Erbrechen, zu dem es bei ihnen nie ganz kommt, zu befördern?

– Wie? fragte Thompson. Kennen Sie ein dazu geeignetes Mittel?[180]

– Warmes Wasser, schlug Morgan vor.

– Ja, das wollen wir versuchen!« rief Thompson, der ganz den Kopf verloren hatte.

Das von Morgan empfohlene heroische Mittel brachte eine augenblickliche Wirkung hervor. Beim zweiten Glase warmen Wassers erhielten die improvisierten Krankenpfleger den Beweis dafür.

Was sahen da aber Morgan und Thompson? Was glaubten sie vielmehr zu sehen?

Ihre Ungewißheit ist ja leicht zu begreifen. An Wasser fehlt es nicht. Die Gefäße sind sorgfältig gereinigt, und da...

Da... welch ein Blendwerk!

Smaragde, Rubinen, Diamanten, mehr als fünfzig Edelsteine blitzen aus dem Grunde der trüben Flüssigkeit in den Gefäßen heraus!

Ganz verblüfft sehen Thompson und Morgan einander schweigend an. Einen Augenblick darauf ist ihnen alles klar. Da haben sie sie ja vor sich, die kirchenschänderischen Diebe des Kruzifixes von Terceira, wenigstens die Anstifter, und die azorische Polizei hatte sich also nicht getäuscht, als sie vermutete, daß die »Seamew« diesen als Zufluchtsstätte diene. Welch besseres Versteck als ihren Magen hätten die Räuber wohl haben können, als sie fürchten mußten, durch die Untersuchung des Schiffes ihres Verbrechens überführt zu werden.

Morgan war der erste, der seine Fassung wiedergewann.

»Dieses Geheimnis, sagte er, ist zu groß, als daß wir es allein auf uns nehmen könnten. Ich bitte um die Erlaubnis, wenigstens noch einen andern Passagier, vielleicht den Reverend Cooley, herbeirufen zu lassen.«

Thompson nickte zustimmend mit dem Kopfe, und sofort wurde ein Aufwärter abgeschickt, den geistlichen Herrn zu holen.

Als dieser in die Kabine kam, worin die Gebrüder da Veiga schwer keuchend lagen, war an der Sachlage nicht viel geändert. Konnte man aber nicht annehmen, daß die Diebe in ihrem Magen noch mehr von den erlangten Edelsteinen verbargen? Um darüber Gewißheit zu erhalten, brauchte man ja nur die schon so erfolgreiche Behandlung fortzusetzen.

Bald wurden auch durch das originelle Mittel noch über dreihundert kostbare Steine, meist Diamanten, ans Tageslicht befördert.

Dann gewann es den Anschein, daß die von ihrem Geheimnisse befreiten drei Kranken sich wesentlich erleichtert fühlten. Zwar litten sie auch jetzt noch,[181] doch nur an der gewöhnlichen Seekrankheit, und die führt ja, wie bekannt, kaum jemals einen tödlichen Ausgang herbei. Über das merkwürdige Vorkommnis wurde nun ein Protokoll aufgenommen, das der Pastor Cooley in Verwahrung nahm, die Edelsteine aber wurden, nachdem sie von jedem der drei Anwesenden gezählt waren, Thompson übergeben, der sie vorläufig einschloß. Gleich darauf aber sachte dieser den Leutnant auf, der erst vor so wenigen Stunden hatte auf eine erniedrigende Kapitulation eingehen müssen.

Als er da aus der Treppenkappe hervortrat, erhob sich vor ihm ein Schatten, natürlich der unvermeidliche Saunders, der von seinem Gegenbilde, von Hamilton, begleitet war, beide höchst würdig, gemessen und ernst, wie es sich für unzufriedene Passagiere geziemt.

»Auf ein Wort, Herr Thompson, sagte Saunders, diesem den Weg vertretend. Wir möchten gern wissen, wie weit Sie Ihre Scherze noch zu treiben gedenken.

– Welche Scherze? murmelte Thompson ungeduldig. Was gibt es denn schon wieder?

– Sie wollen unsre Frage wohl gar übel nehmen, rief Hamilton hochmütig. Ja, mein Herr, wir verlangen endlich zu wissen, ob Sie noch lange fortfahren werden, die Versprechungen eines Programmes Lügen zu strafen, dem wir unverständig genug gewesen sind, Glauben zu schenken.«

Also immer noch die Nörgelei wegen des Programmes! Thompson, den jetzt viel wichtigere Dinge beschäftigten, zuckte die Achseln, schob dann Hamilton nervös zur Seite und eilte über das Deck hin, während der Baronet durch ein solches Benehmen wie zur Bildsäule erstarrt stehen blieb.

Als er den Leutnant gefunden hatte, nahm er ihn mit in seine Kabine, da er ihm eine wichtige Mitteilung zu machen hätte.

»Herr Leutnant, begann er, nachdem beide sich gesetzt hatten, das Kriegsglück ist Ihnen bisher nicht gerade günstig gewesen.

– Das finde ich leider auch, antwortete der Leutnant reserviert.

– Und wir nehmen Sie jetzt mit nach Madeira.

– So scheint es.

– Das ist für uns beide, Herr Leutnant, ich möchte sagen, ein recht böses Abenteuer, und ich meine, wenn sich ein gutes Mittel fände, diese Geschichte zu unser beider Nutzen zu arrangieren...

– Das wird schwierig sein, unterbrach ihn der Offizier.[182]

– Aber am Ende doch möglich, fuhr Thompson fort. Es wird Ihnen nicht unbekannt sein, daß Ihr Gouverneur eine Belohnung von einem Prozent dem zugesichert hat, dem es gelänge, den Dieb festzunehmen.

– Das stimmt, gab der Leutnant zu, ich sehe nur nicht...

– Erlauben Sie, Herr Leutnant, bitte, wir können uns doch vielleicht verständigen. Denn den Dieb... vielmehr die Diebe...

– Mehrere Diebe?...

– Ja, die habe ich in meiner Gewalt, sagte Thompson ruhig.

– Was behaupten Sie? stieß der Offizier hervor.

– Daß ich sie in meiner Gewalt habe, wiederholte Thompson, und ebenso habe ich auch mindestens den größten Teil der gestohlenen Diamanten in der Hand.«

Erbleicht vor Erregung und unfähig, ein Wort hervorzubringen, hatte der Leutnant Thompsons Arm ergriffen. Dieser fuhr fort, ihm seine Vorschläge zu unterbreiten.

»Sie sehen wohl ein, Herr Leutnant, daß diese Belohnung mir zufallen muß. Wohlan denn, ordnen Sie unsre Angelegenheit in beliebiger Weise, indem Sie vielleicht angeben, Sie wären freiwillig mit uns weg gefahren, um die Diebe verhaften zu können, deren Gegenwart Ihre Angabe ja besonders bekräftigen wird, so bin ich erbötig, Ihnen einen Teil, ein Fünftel, nötigenfalls ein Viertel, der ausgesetzten Belohnung abzutreten.

– Halt... so schnell geht das nicht, erwiderte der Leutnant mit einem Gleichmute, der der portugiesischen Regierung kein schmeichelhaftes Zeugnis ausstellte.

– Nun, gehen Sie darauf ein? drängte Thompson.

– Wenn ich mich nun weigere?

– Wenn Sie sich weigern, so nehmen wir an, ich hätte nichts gesagt. Ich setze Sie einfach in Madeira ab und behalte meine Diebe, um sie dem englischen Konsul auszuliefern, der schon dafür sorgen wird, daß mir zuteil wird, was mir zukommt.«

Der Leutnant überlegte schnell, wie er sich hierbei verhalten sollte. Ging er auf Thompsons Vorschlag nicht ein, so hieß das, nach San Miguel mit hängenden Ohren zurückzukehren und den Vorwurf hinzunehmen, wie ein einfältiges Kind übertölpelt worden zu sein. Ging er dagegen darauf ein, so würde er mit Ehren zurückkehren, denn der Erfolg rechtfertigt ja alles. Selbst wenn er[183] bedachte, daß ihm von der ausgesetzten Belohnung wirklich kein Heller zukommen würde, mußte das seltsame Abenteuer für ihn noch den Nutzen haben, ihn bei seinen Vorgesetzten ins beste Licht zu setzen, weil er sich in diesem Falle das Verdienst zuschreiben könnte, die Diebe ermittelt zu haben.

»Gut, ich nehme Ihren Vorschlag an, erklärte er entschlossen.

– Das freut mich, sagte Thompson. Dann wollen wir die Sache gleich auf der Stelle ordnen.«

Das Kompromiß, dessen Grundlagen ja schon vorhanden waren, wurde nun aufgesetzt und von beiden Parteien unterzeichnet. Thompson übergab dem Offizier auch die wiedergefundenen Edelsteine und ließ sich darüber eine Empfangsbescheinigung ausstellen. Dann atmete er erleichtert auf und beglückwünschte sich, die heikle Angelegenheit doch noch so gut erledigt zu haben.

Während aber Thompson bei der Verhandlung einen so günstigen Erfolg erzielt hatte, schwoll das Herz Hamiltons von furchtbarem Zorne an.

Nachdem er sich von der Verblüffung über die Unverschämtheit Thompsons einigermaßen erholt hatte, machte er sich zur Verfolgung des frechen Mannes auf. Da er diesen nicht finden konnte, wendete er sich an den Kapitän Pip, der von der Kommandobrücke heruntergekommen war und eben, seelenruhig seine Morgenzigarre rauchend, auf dem Deck umherspazierte.

»Können Sie mir sagen, Kapitän, redete er diesen mit mühsam verhaltner Stimme an, an wen ich hier auf dem Schiffe meine Klagen zu richten habe?«

Der Kapitän machte eine Geste mit der Bedeutung, daß er das nicht wisse.

»Vielleicht an meinen Artimon, murmelte er wie in Gedanken.

– Kapitän! fuhr ihn der Baronet rot vor Zorn an.

– Sir? Sie wünschen...? erwiderte der Seemann gelassen.

– Kapitän, ich finde, daß man hier mit mir mehr Narrenspossen treibt, als sich's gebührt. Da Sie für die Fahrt des Schiffes verantwortlich sind, werden Sie mir wohl sagen, warum wir hinter uns immer noch die Ameisenklippen in Sicht haben, warum wir jetzt, Vormittag zehn Uhr, noch nicht vor Santa Maria eingetroffen sind, und warum die Insel San Miguel noch nach achtstündiger Fahrt von hier aus zu sehen ist.

– San Miguel? wiederholte der Kapitän ungläubig.

– Jawohl, mein Herr, San Miguel,« betonte der Baronet nachdrücklich, wobei er auf einen schwarzen Punkt hinzeigte, der zwischen den Ameisenklippen und Santa Maria die Linie des Horizontes unterbrach.[184]

Der Kapitän hatte ein Fernrohr ergriffen.

»Wenn das San Miguel ist, sagte er endlich spöttischen Tones, dann muß San Miguel eine Dampfinsel sein, denn sie raucht deutlich sichtbar.«

Der Kapitän begab sich nach seiner Brücke zurück, und der wütende Baronet grübelte, wie er sich für die schmachvolle Behandlung rächen könnte.

So kavaliermäßig die Beobachtungen Hamiltons auch aufgenommen worden waren, waren sie doch nichtsdestoweniger richtig, nur hatte sie der Kapitän vorher schon selbst gemacht. Von Anbruch des Tages an hatte er am Kielwasser erkannt, daß die ursprüngliche Geschwindigkeit der »Seamew« von zwölf Knoten plötzlich ungefähr auf acht heruntergegangen war.

Bishop, den er darum fragte, konnte auch keine bestimmte Auskunft geben. Seit der Abfahrt unterhielt er ein heftiges Feuer, der Dampfdruck konnte aber trotzdem nicht gesteigert werden. Der Fehler läge gewiß in der schlechten, vor Horta eingenommenen Kohlensorte. Bisher hätte man nur englische Kohle gebrannt, wäre seit der Abfahrt von San Miguel aber genötigt gewesen, die neuerdings übergenommene Kohle zu benutzen, und die erwiese sich von Anfang an sehr unterwertig.

Bishop setzte nichts hinzu und der Kapitän fragte nicht weiter. Vernünftige Menschen lehnen sich gegen das Unmögliche nicht auf. Da man nicht mehr als acht Knoten laufen konnte, so blieb es eben dabei, wenn man da auch erst vierundzwanzig Stunden später in Madeira eintreffen konnte. Das Meer zeigte jetzt Neigung, ruhiger zu werden, das Barometer hielt sich ziemlich hoch, der Kapitän hatte keine Ursache, sich zu beunruhigen, und er beunruhigte sich auch nicht.

Das Mißgeschick hinterließ in ihm nur etwas schlechte Laune, die Hamilton ja schon recht deutlich zu kosten bekommen hatte.

Der Zusammenstoß mit dem Baronet genügte jedoch, so geringfügig er auch war, den wackern Kapitän von seinem Überschuß an Elektrizität zu entladen. Ein so ausgeglichener Charakter mußte ja sein Gleichgewicht bald wiederfinden. So saß er denn auch ganz heiter gegenüber Thompson an der Frühstückstafel, in die der Seegang viele Lücken gerissen hatte.

Seine gute Laune verdüsterte sich freilich wieder, als er, aufs Deck zurückgekehrt, noch immer den schwarzen Punkt sah, auf den ihn Hamilton hingewiesen hatte und der sich immer in der Kielwasserrichtung der »Seamew« hielt. Diese Hartnäckigkeit gab zu denken.[185]

Sollte der Dampfer vom Gouverneur San Miguels etwa ausgeschickt sein, ihn zu verfolgen? Es konnte sich ja ebensogut nur um ein Paketboot handeln, das den regelmäßigen Dienst zwischen den Azoren und Madeira versah. Die Sache mußte sich übrigens in kurzer Zeit aufklären.

Von den Sorgen der Kommandobrücke wußte das Spardeck zwar nichts, trotzdem ging es da weniger lebhaft zu als gewöhnlich. Nicht allein hatte der noch immer etwas grobe Seegang die Zahl der Promenierenden verringert, es schien auch noch die Unzufriedenheit von gestern auf den noch gesunden Passagieren zu lasten. Meist gingen diese einzeln hin und her. Ohne von den überall aufgestellten bequemen Armstühlen Gebrauch zu machen, blieben andre sogar ganz still stehen und lehnten sich an die Bordwandstützen, um sich besser im Gleichgewicht zu halten.

Mit seinem verwundeten Herzen bot Hamilton dem Winde die von der erlittenen Schmach gerötete Stirn. Um nichts in der Welt hätte er an irgend jemand ein Wort gerichtet. Mit all seiner Würde umgürtet, wiederholte er sich bis zum Überdruß den Auftritt von heute Morgen, während seine von Lady Hamilton behütete Tochter mit Tigg plauderte, der infolge der Erkrankung der Misses Blockhead zeitweilig seine Freiheit wiedererlangt hatte.

Hamilton bemerkte das vertrauliche Gespräch. Er, nur er stand hier allein. Wenn nur wenigstens sein Freund Don Hygino dagewesen wäre! Don Hygino lag aber, ein Opfer der Seekrankheit, in seiner Kabine, und Hamilton fühlte es bitter, so von Gott und aller Welt verlassen zu sein.

Wenn man die mürrischen Gesichter der Seinigen sah, hätte man darauf geschworen, daß sie von dem Mißmute des Baronets angesteckt wären.

Da Dolly in ihrer Kabine noch mit Aufräumen beschäftigt war, hatte sich Alice Lindsay, die augenblicklich allein war, ganz hinten auf dem Deck auf einen Platz gesetzt, den sie besonders liebte. An die Reling gelehnt, ließ sie einen irrenden Blick übers Meer schweifen, in dem die ganze Traurigkeit lag, die eben ihre Seele bedrückte.

Zehn Schritt von ihr schien der unbeweglich dastehende Jack sich innerlich mit einer schwierigen und komplizierten Arbeit abzumühen.

Als er darüber genug nachgesonnen zu haben glaubte, ging Jack langsam auf seine Schwägerin zu und setzte sich neben sie.

In ihre Träumereien verloren, bemerkte diese gar nicht die Anwesenheit der finstern, meist schweigsamen Persönlichkeit.[186]

»Alice!« murmelte Jack.

Mrs. Lindsay erzitterte ein wenig und richtete auf ihren Schwager einen Blick, der noch von den Nachbildern des eben Gesehenen verschleiert erschien.

»Alice, wiederholte Jack, ich möchte mit Dir etwas sehr wichtiges besprechen. Dieser Augenblick eignet sich dazu besonders, da das Spardeck so gut wie leer ist. Bist Du erbötig, mich anzuhören, Alice?

– So sprich, Jack, ich höre, antwortete Alice gutmütig, doch etwas erstaunt über die feierliche Vorrede.

– Ich werde, wie Du weißt, fuhr Jack nach kurzem Zögern fort, nun bald einunddreißig Jahre alt. Das ist ja am Ende noch kein hohes Alter, ich habe aber doch keine Zeit mehr zu verlieren, wenn ich mein Leben anders gestalten will. Das, was ich bisher geführt habe, ist mir schrecklich genug gewesen, ich sehne mich nach einem andern, einem nützlichern, fruchtbarern Leben. Kurz, Alice, ich gedenke zu heiraten.

– Das ist recht, Jack, stimmte ihm Alice bei, die nur erstaunt war, daß ihr Schwager diesen Augenblick für sein Geständnis gewählt hatte. Da wirst Du Dir nur eine Frau suchen müssen, und das dürfte Dir nicht schwer fallen...

– Das ist schon geschehen, Alice, unterbrach sie Jack Lindsay, oder mein Herz hat vielmehr schon eine dazu ersehen. Ich kenne, achte und liebe sie schon lange. Doch ob sie mich wohl liebt, Alice, oder ob ich hoffen darf, daß das jemals der Fall sein wird?«

Ein wunderbarer Instinkt ist den Frauen eigen und verrät ihnen jede drohende Gefahr. Bei den ersten Worten Jacks hatte Alice herausgefühlt, was sie bedrohte. Den Kampf abwehrend und mit kurzer, kalter Stimme antwortete sie:

»Ja, da wirst Du sie fragen müssen, mein Lieber.«

Jack bemerkte die Veränderung, die im Tone seiner Schwägerin lag. In seinen Augen leuchtete ein Blitz auf.

Mit großer Anstrengung gelang es ihm jedoch noch, sich zu bemeistern.

»Nun, das tue ich hiermit, Alice, antwortete er, und ich erwarte ängstlich die Entscheidung... Alice, fuhr er fort, als diese hartnäckig schwieg, möchtest Du nicht denselben Namen behalten und nur einen neuen Gatten an Deiner Seite sehen?«

Da zerknitterte Alice ihr Taschentuch zwischen den Fingern und wandte sich tränenden Auges von ihrem Schwager ab.[187]

»Da verrätst Du ja eine sehr plötzliche und unerwartete Leidenschaft, sagte sie halb scherzend.

– Eine plötzliche Leidenschaft! rief Jack. Kannst Du das wirklich sagen, Alice? Wäre es wahr, daß Du niemals bemerkt hättest, wie ich Dich liebe?

– Sprich ein solches Wort nicht aus, unterbrach ihn Alice heftig. Nein, ich habe nie etwas von dem bemerkt, was Du da sagst. Bei Gott, wenn ich etwas davon bemerkt hätte, glaubst Du, ich wäre so töricht gewesen, Dich uns auf dieser Reise begleiten zu lassen?

– Du bist hart gegen mich, Alice, sagte Jack. Womit habe ich denn Deinen Unwillen verdient? Wenn Dich mein Antrag so sehr überrascht, so nimm Dir Zeit, mich zu prüfen, raube mir aber nicht jede Hoffnung.«

Mrs. Lindsay sah ihrem Schwager gerade ins Gesicht.

»Im Gegenteil, es ist besser, Dir jetzt jede Hoffnung zu rauben,« erwiderte sie fest.

Mit allen Anzeichen tiefsten Schmerzes ließ Jack den Kopf in die Hände sinken. Alice fühlte sich ergriffen.

»Ich bitte Dich, Jack, fuhr sie milder fort, hier liegt wohl ein Mißverständnis zugrunde. Vielleicht täuschest Du Dich, ohne es zu wollen. Vielleicht, setzte sie zögernd hinzu, ist unsre gegenseitige Stellung die Ursache dieses Irrtums.

– Was soll das heißen? fragte Jack, den Kopf erhebend.

– Ich bin nur so kurze Zeit die Frau Deines Bruders gewesen, fuhr Alice unter sorgsamer Wahl ihrer Worte fort, daß Du Dich vielleicht verletzt gefühlt hast, sein ganzes Vermögen auf mich übergehen zu sehen. Vielleicht hast Du Dich dadurch geschädigt... beraubt geglaubt...«

Jack Lindsay machte eine abwehrende Bewegung.

»Ich stehe hier auf einem heißen Boden, nahm Alice weiter das Wort. Sieh, ich bemühe mich nach Kräften, jedes Wort zu vermeiden, das Dich peinlich berühren könnte. Du mußt schon verzeihen, wenn mir das nicht immer gelingt. Anderseits bist Du vielleicht in Verlegenheit... oder gar dem Ruin nahe. Da ist es ja natürlich, daß Du an eine Heirat gedacht hast, die Deine Verhältnisse ordnen und gleichzeitig wieder gut machen würde, was Du für eine Ungerechtigkeit ansehen magst. Wenn Du so dachtest, nimmst Du vielleicht für Liebe, was nur eine reine Familienanhänglichkeit war.

– Fahre nur fort, sagte Jack trocken.[188]

– Nun, Jack, wenn es so ist, kann ja noch alles geordnet werden. Da ich das Glück habe, nicht nur reich, sondern sogar sehr reich zu sein, warum sollte ich Dir da nicht schwesterlich entgegenkommen? Könnte ich nicht Deine Schulden, wenn solche vorhanden sind, tilgen, Dir dann im Leben weiterhelfen und Dir schließlich eine Art Mitgift aussetzen, die es Dir ermöglichte, eine andre Frau als Deine Schwägerin zu finden?

– Du wirfst mir einen Knochen zum Abnagen vor, knurrte Jack und schlug die Augen nieder.

– Was sagst Du? rief Alice. Ich muß doch in der Wahl meiner Worte sehr unglücklich gewesen sein, um eine solche Antwort zu bekommen. Du kannst Dir nicht vorstellen, welcher Kummer...«

Mrs. Lindsay konnte nicht ausreden. Jack hatte sich, seinen Stuhl kräftig zurückstoßend, erhoben.

»Ach was, schöne Redensarten, stieß er mit bösem Blick und harter Stimme hervor. Du brauchst Deine Weigerung nicht mit solchen Redensarten zu schmücken. Du weisest mich zurück. Sprechen wir nicht mehr darüber. Es wird jetzt meine Sache sein, zu überlegen, was ich zu tun habe.«

Damit verließ er seine Schwägerin, die sich, durch diesen Auftritt und den Ausgang, den er genommen hatte, tief erregt, in die beruhigende Einsamkeit ihrer Kabine zurückzog. Jack entfernte sich, vor Zorn zitternd. Nach und nach legte sich sein Zorn aber wieder, und er konnte dann seine Lage kühl übersehen.

Mußte er denn unbedingt auf das ersehnte Vermögen verzichten? sagte er sich entschieden. Nein, es galt nur, das Mittel, sich seiner zu bemächtigen, zu finden, da Alice sich weigerte, seine Frau zu werden.

Beim Essen erschien diese nicht. Vergebens klopfte ihre Schwester an die Türe. Sie beharrte dabei, allein zu bleiben.

Erst am nächsten Tage nahm sie das gewohnte Leben an Bord wieder auf. Da schien aber alles vergessen zwischen Schwager und Schwägerin. Beide hatten ohne Zweifel ihre Entschließungen als unverletztliches Geheimnis des Herzens vergraben.

Im Laufe dieses Tages, des 27. Mai, wurde das Meer merkbar ruhiger und damit wuchs auch die Zahl der gesunden Passagiere. Am Abend waren die Gebrüder da Veiga und die Familie Blockhead die einzigen, die das Spardeck nicht mit ihrer Gegenwart verschönten.[189]

Während aber das Leben an Bord der »Seamew« wieder seinen gewohnten Lauf nahm, schien deren Kapitän über recht schwarze Pläne zu brüten. Zerstreut und in Gedanken versunken, wandelte er seit zwei Tagen auf der Kommandobrücke hin und her und rieb sich in bedrohlicher Weise die Nase. Immer und immer wieder kehrten sich seine Augen halb schielend dem ihm von Hamilton bezeichneten Punkt zu, den dieser wenige Stunden nach der Abfahrt für einen der Berggipfel von San Miguel angesehen hatte.

Am Morgen des 28. war sein Verhalten noch dasselbe, sobald er aber auf dem Deck erschien, nahm er sein Fernrohr zur Hand und sah nach dem Punkte hinaus, von dem er sich fast gar nicht losreißen konnte.

»Tod und Teufel, wandte er sich wetternd Artimon zu, indem er das Instrument sinken ließ, da sitzen wir in einer hübschen Schlinge, mein Herr!«

Schon lange war bei ihm jeder Zweifel geschwunden. Die »Seamew« steuerte jetzt nicht geraden Weges nach Madeira. Dem Programme entsprechend, sollte vorher die Insel Porto-Santo umschifft werden, und der Weg von Ponta-Delgada nach Porto-Santo macht einen ziemlich großen Winkel mit der Fahrstraße, die Madeira mit der Hauptstadt San Miguel verbindet. Das unbekannte Fahrzeug hatte aber denselben Weg eingeschlagen, der eigentlich nirgends endete, es hielt sich jedoch bisher in der gleichbleibenden Entfernung von ungefähr vier Seemeilen. Daß es auf den Dampfer Jagd machte, unterlag jetzt keinem Zweifel mehr.

Daß die beiden Schiffe immer gleich fern voneinander blieben, gewährte ja dem Kapitän einige Beruhigung; er würde so wenigstens nicht überholt werden Doch das war schließlich kein Wunder. Das portugiesische Schiff hatte jedenfalls auch auf den Azoren Kohlen übergenommen. Immerhin mußte sich der Kapitän sagen, daß diese Fahrt doch nicht ewig so fortgehen konnte, endlich würde man nach Madeira kommen und Madeira war noch Portugal.

Seit achtundvierzig Stunden wälzte der Kapitän diese Fragen im Kopfe herum, ohne sich dafür eine befriedigende Antwort geben zu können. Wäre er der Herr gewesen, so wäre er, statt sich dem neuen Kerkermeister zu überliefern, geradeaus weitergedampft bis zur Erschöpfung der Kohlen und aller brennbaren Dinge, die sich an Bord vorfanden. Dann hätte es sich gezeigt, wer die größten Kohlenbunker hatte. Herr und Meister war er leider nur zur Hälfte, und das unter der Bedingung, die »Seamew« auf die verdammte Reede von Funchal, der Hauptstadt von Madeira, zu führen. Das erhielt ihn immer in heller Wut.[190]

Für irgendetwas mußte man sich jedoch wohl oder übel entscheiden, als am 28. Mai Vormittag gegen zehn Uhr der Gipfel von Porto-Santo über dem Horizont aufzusteigen begann. Dem armen Kapitän blieb ja nichts andres übrig, als das Thompson zu melden, und daß er dabei die Ohren hängen ließ, braucht wohl nicht erst gesagt zu werden.

Zu seiner freudigen Überraschung wurde die Meldung nicht so schlecht aufgenommen, wie er befürchtet hatte.

»Sie glauben also, Herr Kapitän, sagte nun Thompson, daß jenes Schiff ein portugiesisches ist?

– Das glaube ich bestimmt.

– Und daß es uns verfolgt?

– Das glaube ich leider auch.

– Dann, lieber Kapitän, sehe ich nur eines, was wir zu machen haben.

– Und das wäre?...

– O, sehr einfach: zu stoppen.

– Zu stoppen?

– Mein Gott, ja freilich, Kapitän, zu stoppen.«

Der Kapitän stand bestürzt mit schlenkernden Armen und weit aufgerissenen Augen da.

»Amen, Herr Thompson,« würgte er endlich mit Mühe hervor, ohne diesmal beim Barte seiner Mutter zu schwören.

Wie ein Held befolgte er den erhaltenen Befehl. Die Schraube stand still. Die »Seamew« lag unbeweglich auf dem Meere, und die Entfernung, die sie von dem sie verfolgenden Schiffe trennte, wurde sichtbar kleiner. Das erwies sich in der Tat als ein portugiesisches Kriegsschiff, was man an dem langen Wimpel erkannte, der am Großmast flatterte. Zwanzig Minuten später war es bis auf eine Seemeile an die »Seamew« herangekommen. Da ließ Thompson ein Boot aussetzen, worin die Polizisten Platz nahmen. Pip wußte sich gar nicht zu fassen. Jetzt lieferte man also die Geiseln aus!

Der Leutnant und sechs seiner Leute hatten sich aber nicht mit ihren Kameraden eingeschifft. Das Erstaunen des Kapitäns kannte jedoch keine Grenzen mehr, als er auch diese erscheinen sah, vor allem, als er sah, welch merkwürdige Pakete sie schleppten.

Diese Pakete, menschliche Pakete, waren nichts andres als Edel Don Hygino Rodriguez da Veiga und seine zwei Brüder. Noch leidend unter den[191] Nackenschlägen Neptuns und mehr tot als lebendig, leisteten sie nicht den geringsten Widerstand. Der Kapitän sah sie ohne Gefühl und Bewußtsein über den Bordrand hinuntersieren.

»O, zum Kuckuck, auch das noch!« murmelte der wackre Kapitän, der für das, was er sah, keine Erklärung finden konnte.

Noch erstaunter als er war aber Sir Hamilton. Entrüstet über die so vornehmen Herren widerfahrne Behandlung, setzte er seinen gewohnten Protesten jetzt doch klugerweise einen Dämpfer auf und begnügte sich, einen zufällig in seiner Nähe stehenden Matrosen nach einer Erklärung zu fragen.

Damit kam er aber schlecht an. Der alte, gebräunte, wetterharte und durch die lange Gewöhnung der Betrachtung des endlosen Meeres alles Interesses für menschliche Kleinigkeiten entwöhnte Mann wußte nichts und blieb gleichgültig dabei, nichts zu wissen. Auf die Fragen des Baronets schob er nur als Zeichen seiner Unkenntnis die Schultern in die Höhe, kam aber doch dazu, wenigstens seine Pfeife aus dem Munde zu nehmen.

»Das sind sonderbare Leute, erklärte er, die, wie gesagt wird, Kieselsteine verschluckt haben. Wahrscheinlich ist das in Portugal verboten.«

Hamilton mußte sich mit dieser Antwort zufriedengeben. In der Selbstbefriedigung über seine Erklärung sog der alte Matrose von neuem an seinem Pfeifenstummel, und die Augen auf die schnell dahingehenden Wellen gerichtet, dachte er schon wieder an ganz andre Dinge.

Die Wahrheit sollte Hamilton, ebenso wie die übrigen Passagiere, erst später erfahren. Das war eine schwere Prüfung für den eiteln Baronet.

»Erinnern Sie sich unsres Vertrages, hatte Thompson zu dem Leutnant gesagt, als sich dann auch dieser verabschiedete.

– Darüber können Sie ruhig sein«, hatte der Offizier geantwortet.

Gleich nachher wurde das Boot abgestoßen. Als seine Ladung dann auf den Aviso übergeführt war, kehrte es zur »Seamew« zurück, deren Schraube sich sofort wieder in Bewegung setzte.

Der Kapitän begriff noch immer nichts von dem Vorgange. Thompson war aber noch nicht ganz beruhigt. Der Aviso konnte ja, trotz der Versicherung des Leutnants, die Jagd, und jetzt in Kanonenschußweite, wieder aufnehmen.

Der Offizier schien aber seine Zusage ehrlich gehalten zu haben, und auch die von ihm gegebenen Erklärungen mußten wohl befriedigt haben. Bald beschrieb nämlich der Aviso einen großen Halbkreis über Steuerbord und verschwand im Norden unter dem Horizonte, zur gleichen Zeit, als im Süden die Ufer von Porto-Santo auftauchten.[192]

Gegen Mittag fuhr man längs dieser bergigen Insel an deren Nordseite hin, dann schlug die »Seamew« einen Kurs nach Südsüdwest ein, und steuerte gerade auf das etwa noch dreißig Seemeilen entfernte Madeira zu, das seine mächtige Masse über das Wasser zu heben begann.

Zwei Stunden später erblickte man das Cap São-Lourenço, während auch die »Desertas« sichtbar wurden, deren drei Eilande mit den Klippen der »Salvages« den Archipel vervollständigen.

In diesem Augenblick entrollte sich das Bild der Nordküste der Insel in all seiner Mächtigkeit vor den Blicken der Passagiere.

Als Gott einst Madeira schuf, konnte er nicht beabsichtigt haben, etwas Neues entstehen zu lassen.


Hamilton mußte sich mit dieser Antwort zufriedengeben. (S. 192.)
Hamilton mußte sich mit dieser Antwort zufriedengeben. (S. 192.)

Auch hier wieder die hohen steilen Uferwände, die spitzigen, wilden Gipfel, die aufgetürmten Berge, mit tiefen, düstern Tälern dazwischen. Alles nach dem Modell der Azoren, nur in vollendeter, vergrößerter, verzehnfachter Ausführung.

Über den Ufern dehnt sich noch ein andres Meer unter dem Himmelsgewölbe aus. Dieses Meer von Grün hat als Wellen eine Unzahl riesiger Bäume. In der halben Höhe von diesem Hochwald wie von Rasen überzogen, steigen die Berge übereinander auf, immer mächtiger und mächtiger, bis sie im Mittelpunkt der Insel von dem achtzehnhundertfünfzig Meter hohen Pic Ruivo überragt werden.

Allmählich trat das nördliche Üfer weiter hervor und endlich wurde das Cap São-Lourenço, das östliche Ende der Insel, gegen drei Uhr umschifft. Die »Seamew« näherte sich ihm bis auf weniger als zwei Seemeilen, wobei man an seinem Ende den Signalmast und das Leuchtfeuer bequem erkennen konnte.

Der Kapitän fuhr dann noch näher an das Ufer heran, und nun zeigte sich die südliche Küste den Blicken der begeisterten Passagiere.

Zunächst sah man die niedrigen Felsen, aus denen das Cap São-Lourenço ebenso besteht, wie die Landzunge, die es mit der übrigen Insel verbindet. Weiterhin erhob sich die Küste mehr und bildete eine Art ungeheurer Brustwehren, an die sich die Berge des Innern anlehnten. Zwischen jeden von diesen liegen, aus der Ferne gesehen, liebliche Dörfer: Machico, Santa-Cruz, Canizal, die Morgan im Vorüberfahren nannte.[195]

Um vier Uhr erhob sich vor dem Fahrzeuge ein andres Kap, das »Cap Garajao«. Wenige Schraubenumdrehungen genügten, es zu umschiffen, und kurze Zeit darauf ankerte die »Seamew« auf der Reede von Funchal, inmitten einer zahlreichen Flotte, an deren Masten die Flaggen aller Nationen wehten.

Quelle:
Michel Verne: Das Reisebüro Thompson und Comp. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XCI–XCII, Wien, Pest, Leipzig 1909, S. 178-193,195-196.
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