Dreizehntes Kapitel.

Die Lösung eines Anagramms.

[196] Neunhundert Kilometer von der nächsten Spitze Europas, siebenhundert von Marokko, vierhundert vom Archipel der Kanarischen Inseln, und durch vierhundertsechzig Seemeilen von dem zu den Azoren gehörigen Santa Maria getrennt, erstreckt sich Madeira über eine Länge von siebzig Kilometern, fast auf dem Schnittpunkt des dreiunddreißigsten Grades nördlicher Breite und des neunundzwanzigsten Grades westlicher Länge.

Eine großartigere Oase in der Sahara des Meeres kann man sich kaum vorstellen.

Von der Gebirgskette, deren höchster Kamm bis neunzehnhundert Meter nahe an der Nordküste der Insel hinausreicht und deren riesiges Rückgrat er bildet, zweigen sich Nebenketten wie Zuflüsse dieses Gipfelstromes ab. Gegen Norden einerseits und gegen Süden anderseits durch tiefe Täler mit der herrlichsten Vegetation erfüllt, endigen sie im Meere, in das sie wie Zähne hinausragen.

Starr und eigensinnig erscheinen die Küsten dieser Königin des westlichen Atlantischen Ozeans, so, als hätte sie ein riesiges Locheisen ausgeschnitten. Mit einem einzigen Stoße haben sie plutonische Kräfte in weitentlegner Vorzeit aus den Wassern herausgehoben, die rings um sie eine Tiefe von vier Kilometern haben.

Und dennoch bietet die Insel, trotz der wilden Felsmassen, die mit viel farbigen Tuffsteinen geschmückt sind, trotz ihrer starken Bodenverschiedenheiten einen reizend schönen Anblick. Ein unvergleichlicher Mantel von Grün, der die[196] zu scharfen Ecken mildert, die zu spitzen Gipfel abrundet, reicht bis zum äußersten Uferrande herunter.

Auf keinem andern Punkte der Erde entwickelt die Vegetation eine solche Kraft, einen solchen Reichtum. Auf Madeira werden unsre Sträucher zu Bäumen und unsre Bäume erreichen kolossale Größenverhältnisse. Hier noch mehr als auf den Azoren finden sich die Gewächse der verschiedensten Klimate. Blumen und Früchte von allen fünf Erdteilen gedeihen hier in üppigster Fülle. Die Wege sind mit Rosen eingezäunt, und man braucht sich nur zu bücken, um zwischen den Grashalmen Erdbeeren pflücken zu können.

Was mußte diese paradiesische Insel erst zur Zeit ihrer Entdeckung gewesen sein, als die Bäume, die heute jung sind, damals aber Jahrhunderte alt waren, die Berge mit ihrem riesigen Gezweig überragten! Die ganze Insel war damals nur ein ungeheurer Wald, der für die Kultur keinen Fuß breit Erde freiließ, und der erste Gouverneur sah sich deshalb genötigt, das undurchdringliche Dickicht durch Feuer zu zerstören. Die Chronik berichtet, daß der Brand jener Zeit sechs Jahre hintereinander gewütet habe, und man behauptet, daß die Fruchtbarkeit des Bodens von der vielleicht nötigen, aber doch barbarischen Zerstörung herrühre.

Abgesehen von allem andern, ist es aber sein herrliches Klima, dem Madeira seine überreiche Vegetation verdankt. In dieser Beziehung kann kaum ein andres Land mit ihm verglichen werden. Im Sommer weniger warm als die Azoren und im Winter weniger kalt als diese, wechselt die Temperatur kaum um zehn Zentigrade. Hier ist das Paradies der Kranken.

Anfang Winters kommen sie auch in großen Scharen hierher, vorzüglich Engländer, die ihre Gesundheit unter dem milden, azurblauen Himmel wieder erlangen wollen. Dadurch fließen den Bewohnern Madeiras jährlich mindestens drei Millionen Francs zu, während die Gräber, für die, die nicht mehr heimkehren, aus Madeira – nach einer etwas starken Bezeichnung – »den größten Friedhof von London« gemacht haben.

An der Südküste der Insel und unmittelbar am Meer erhebt sich die Hauptstadt Funchal. Tausend Schiffe ankern jährlich auf ihrer offnen Reede und zahllose Fischerbarken durchkreuzen diese, am Tage mit den weißen Punkten ihrer Segel, in der Nacht mit dem täuschenden Köder ihrer Lichter.

Kaum hatte sich der Anker der »Seamew« in den Grund eingesenkt, als das Schiff schon von einer Menge von halbnackten Kindern geführten Booten[197] umschwärmt wurde, von Kindern, deren gleichzeitiges Geschrei ein wirkliches Höllenkonzert bildete. In ihrem anglo-portugiesischen Jargon boten sie Blumen oder Früchte an oder baten auch die lachenden Passagiere, kleine Geldstücke ins Wasser zu werfen, die sie als geschickte Schwimmer und Taucher vom Grunde herausholen wollten.

Als das Sanitätsamt freien Verkehr gestattet hatte, legten die Canots an der Schiffswand an und erboten sich, die Passagiere ans Land zu bringen.

Für heute waren das unnütze Angebote, denn zu einem Besuche Funchals war es bereits zu spät.

Zwei der Reisenden glaubten aber doch, den Dampfer verlassen zu sollen. In diesen beiden Ungeduldigen erkannte man die jungen Eheleute, die eben unter jedem Himmel ihre Liebe spazieren führten. Jeder mit einer kleinen Reisetasche in der Hand, begaben sie sich – Ehemann und Ehefrau – in ein Canot, das sie unbemerkt herangewinkt hatten. Mit heuchlerisch verlegner Miene, aber mit einer geheimen Freude, die trotz alledem aus ihren niedergeschlagnen Augen leuchtete, verschwanden sie schnell und bescheiden aus dem Kreise der Reisegefährten, die ihnen voller Teilnahme an ihrem Glücke lange nachsahen.

Diese blieben also an Bord zurück. Im Programm war ein Aufenthalt von sechs vollen Tagen für Funchal vorgesehen, an Zeit hätte es also nicht gefehlt, daß hier auch ein Ausflug in Aussicht genommen worden wäre. War das nur eine Vergeßlichkeit Thompsons oder meinte er, die Insel Madeira böte nirgends ein Landschaftsbild, das aufzusuchen der Mühe lohnte? Aus dem Programme war hierüber nichts zu sehen.

Hamilton übernahm es, weitere Aufklärung zu verschaffen.

Seit ihrem letzten Scharmützel sprachen Thompson und er kaum noch miteinander. Gegenüber seinen zwei störrischen Passagieren – Saunders und Hamilton – tat sich Thompson keinen Zwang mehr an. Immer zuvorkommend, geschäftig und von fast zu großer Liebenswürdigkeit, wenn er es mit andern Passagieren zu tun hatte, blieb er gegen jene beiden zwar höflich, doch immer kurz angebunden und kalt. Der Baronet mußte sich ebenso Zwang antun, den verhaßten Thompson anzusprechen.

»Wie kommt es, mein Herr, fragte er hochmütigen Tones, daß Sie in den sechs Tagen unsres Aufenthalts auf Madeira keinen einzigen Ausflug angesetzt haben?[198]

– Sehen Sie doch das Programm an, mein Herr, antwortete Thompson trocken.

– Recht schön, sagte Hamilton, sich in die Lippen beißend. Würden Sie uns dann wenigstens mitteilen, wo wir Unterkunft finden werden?

– Sehen Sie doch das Programm an, mein Herr, wiederholte Thompson gelassen.

– In diesem Punkte ist es stumm, Ihr Programm. Kein Hinweis darin, kein Hotel angegeben... nichts, gar nichts!

– So, und das Schiff hier...? wendete Thompson ein.

– Was? rief Hamilton außer sich. Hätten Sie wirklich die Kühnheit, uns an Bord der »Seamew« gefangen halten zu wollen? Und das nennen Sie Madeira besuchen?

– Sehen Sie doch das Programm an!« antwortete Thompson zum dritten Male, indem er seinem reizbaren Reisegast den Rücken zukehrte.

Der unglückliche Unternehmer geriet aber aus der Scylla in die Charybdis, als er sich jetzt einem neuen Feinde gegenüber sah.

»Wahrhaftig, mein Herr, erschallte die schnarrende Stimme des Herrn Saunders, das muß man sehen, Ihr Programm! Es ist aber die reine Prellerei, Ihr Programm, dafür rufe ich alle diese Herren als Zeugen auf.«

Saunders drehte sich ringsum und nahm als Zeugen alle Passagiere, die schon einen Kreis um die beiden Streitköpfe gebildet hatten.

»Wie, fuhr Saunders erregt fort, diese Insel hätte gar nichts Sehenswertes zu bieten? Nachdem wir wie eine Herde Tiere durch menschenarme und weglose Länder geschleppt worden sind, wagen Sie uns an Bord Ihres... Ihres...«

Saunders fand nicht gleich das treffende Wort.

»Ihres Holzschuhs, Ihres verteufelten Holzschuhs zurückhalten zu wollen, stieß er endlich hervor, und das jetzt, wo wir an einem ziemlich zivilisierten Lande liegen!«

Thompson klimperte, die Augen gen Himmel gerichtet und die eine Hand in der Hosentasche, mit einem Schlüsselbunde und erwartete phlegmatisch das Ende des Ungewitters. Dieses Verhalten reizte Saunders erst recht.

»Nein, rief er weiter, das lassen wir uns nicht gefallen!

– Nein, nun und nimmermehr! sekundierte ihm Hamilton.

– Wir werden schon sehen, ob es noch Richter in London gibt!

– Ja, das werden wir! stimmte der Baronet Saunders energisch bei.[199]

– Und um einen Anfang zu machen, gehe ich ans Land... ja, ich! Ich begebe mich in ein Hotel... ich! In ein Hotel ersten Ranges, mein Herr, und das auf Ihre Kosten!«


Funchal.
Funchal.

Saunders stürmte bei diesen Worten schon die Treppe nach den Kabinen hinunter. Bald sah man ihn mit seinem Reisesack wieder erscheinen und nach Herbeirufung eines Bootes das Schiff mit majestätischer, doch etwas geräuschvoller Würde verlassen.

Wenn sich die meisten Reisenden auch solcher heftigen Proteste enthielten, so billigten sie doch innerlich das Auftreten ihres Gefährten. Nicht einen gab es, der die Leichtfertigkeit der Agentur Thompson nicht streng verurteilt hätte, und viele unter ihnen dachten sich gewiß nicht darauf zu beschränken, daß sie nur in den Gassen der Hauptstadt Madeiras umherliefen.

Alice und Dolly Lindsay würden jedenfalls die Insel selbst etwas durchstreifen wollen, ja sie hatten das sogar schon beschlossen, und natürlich sollte Roger sie dabei begleiten.


Das Fort beherrscht Funchal.
Das Fort beherrscht Funchal.

Der war es auch, der es übernahm, von Morgan vorher einige unentbehrliche Aufschlüsse und Ratschläge einzuholen. Er hoffte bei dieser Gelegenheit auch gleich, sich von einem Zweifel zu befreien, den er bezüglich des Dolmetschers der »Seamew« schon gar zu lange mit sich herumtrug.[200]

»Bitte um einige Auskunft, mein lieber Herr, sagte er, als er nach dem Abendessen nicht ohne ein leises malitiöses Lächeln Morgan in den Weg trat.

– Ganz zu Ihrer Verfügung, werter Herr, antwortete Morgan.

– Die Familie Lindsay und ich, fuhr Roger fort, wir denken einen Ausflug ins Innere von Madeira zu unternehmen. Würden Sie die Güte haben, uns mitzuteilen, wohin wir uns da am besten wenden sollen?

– Ich? rief Morgan, den Roger beim Scheine der Leuchtfeuer bis über die Ohren erröten sah. Das bin ich leider nicht imstande. Ich weiß ganz und gar nichts von dieser Insel Madeira!«

Zum zweiten Male empfand es Morgan, wie sehr er seine Pflicht vernachlässigt hatte. Das betrübte ihn und erniedrigte ihn auch. Welch schwachen[201] Willen hatte er doch! Welche Gedanken lenkten ihn von dem ab, was ihm doch das Wichtigste sein sollte!

Als er dieses Geständnis hörte, schien Roger darüber recht unzufrieden zu sein.

»Wie, sagte er, sind Sie denn nicht der Dolmetscher und Reiseführer des Schiffes?

– Ja, das bin ich, antwortete Morgan eiskalt.

– Wie kommt es dann, daß Sie über Madeira so völlig ununterrichtet sind?«

Morgan, der das Stillschweigen einer erniedrigenden Verteidigung vorzog, antwortete durch eine ausweichende Bewegung.

Roger nahm eine höhnische Miene an.

»Sollte es vielleicht daran liegen, meinte er, daß Sie keine Muße gefunden haben, Ihre getreuen Schmöker nachzulesen? Es ist ja schon lange her, daß man Ihr Kojenfenster nicht erleuchtet gesehen hat.

– Was wollen Sie damit sagen? fragte Morgan, der jetzt scharlachrot geworden war.

– Nun, zum Kuckuck, nichts andres, als was ich eben sagte.«

Morgan, der nicht recht wußte, woran er war, antwortete darauf nicht. Die Ironie der Worte seines Landsmanns hatte doch einen gewissen freundschaftlichen Unterton. Er blieb sich unklar, sollte aber bald aufgeklärt werden. Zu seiner großen Verwunderung faßte ihn Roger mit unerwarteter Vertraulichkeit am Arme und sagte ihm gerade ins Gesicht:

»Wohlan, mein Lieber, gestehen Sie es nur: Sie sind ebensowenig Dolmetscher, wie ich Papst bin.

– Ich kann nur gestehen, daß ich Sie nicht verstehe, wehrte Morgan ab.

– Ich verstehe mich aber, gab Roger zurück. Das genügt. Offenbar sind Sie augenblicklich Dolmetscher, das liegt ja ebenso auf der Hand, wie daß ich etwa jetzt Seemann bin. Es ist aber ein ander Ding, etwas dergleichen von Berufs wegen zu sein. – Habe ich vielleicht das Aussehen eines Pfarrers? Doch gleichviel, wenn Sie Dolmetscher sind, müssen Sie wenigstens zugeben, kein berühmter zu sein.

– Aber ich bitte Sie... protestierte Morgan, doch mit einem flüchtigen Lächeln.

– Es ist aber so! erklärte Roger nachdrücklich... Sie erfüllen Ihren Beruf herzlich schlecht. Sie führen nicht, sondern lassen sich führen. Man hört[202] von Ihnen weiter nichts, als einige trockne, aus einem Reisehandbuche aufgelesene Worte. Und das nennt sich ein Cicerone!

– Aber ich möchte doch...,« stotterte Robert Morgan.

Roger schnitt ihm wiederum das Wort ab. Mit einem gutmütigen Lächeln auf den Lippen und mit ausgestreckter Hand stellte er sich gerade vor ihn hin und sagte:

»Beharren Sie doch nicht länger auf einem so durchsichtigen Inkognito. Ein Professor wie mein Spazierstock, ein Cicerone wie meine Zigarre... Sie segeln unter falscher Flagge, mein Lieber, gestehen Sie's nur ein!

– Unter falscher Flagge? wiederholte Morgan.

– Jawohl; Sie haben sich in die Haut eines Cicerone-Dolmetschers gesteckt, wie man einen geliehenen Maskenanzug anlegt.«

Robert Morgan zitterte. Daß sein früherer Entschluß, diese Rolle zu spielen, richtig gewesen war, daran zweifelte er ja nicht. Doch sollte er aus falschem Stolz hier in seiner Verlassenheit die Freundschaft zurückweisen, die ihm mit so viel Vertrauen geboten wurde?

»Nun ja, es ist, wie Sie sagen, gestand er jetzt ein.

– Sapperment! entfuhr es Roger, der dem jungen Mann die Land drückte und ihn mit sich fortzog. Ich hatte es ja schon lange erraten. Ein gebildeter Mann wird seinesgleichen doch auch unter der Kohlenhaut eines Heizers erkennen. Jetzt aber, wo der Bann einmal gebrochen ist, werden Sie mir hoffentlich Ihr Vertrauen auch weiter schenken. Wie sind Sie dazu gekommen, eine solche Stellung anzunehmen?«

Morgan seufzte.

»Wäre es vielleicht... drängte Roger.

– Wäre es was denn?

– Etwa die Liebe?

– Nein, versicherte Morgan, nur die Armut.«

Roger blieb plötzlich stehen und erfaßte die Hand seines Landsmannes. Dieser Beweis von Teilnahme ging Morgan zu Herzen und rührte ihn so sehr, daß er sich ohne Zurückhaltung weiter offenbarte, als der andre fortfuhr:

»Die Armut! Nun, mein Lieber, da rechnen Sie getrost auf mich. Sein Unglück mitzuteilen, soll ja, wie man sagt, eine Erleichterung sein, und Sie werden dafür nie einen inniger teilnehmenden Zuhörer finden, als mich. Ihre Eltern?[203]

– Sind tot.

– Alle beide?

– Ja, beide. Meine Mutter starb, als ich fünfzehn Jahre zählte, mein Vater jetzt vor sechs Monaten. Bis dahin hatte ich ein Leben wie die meisten reichen jungen Leute geführt, und erst seit dem Ableben meines Vaters...

– Ja ja, ich verstehe, unterbrach ihn Roger mitleidigen Tones. Ihr Vater war jedenfalls einer von den flotten Lebemännern, die...

– Ich beschuldige ihn nicht, fiel Morgan lebhaft ein. Zeit seines Lebens hat er sich gegen mich gütig gezeigt, immer hatte er Herz und Hand für mich offen. Im übrigen stand es ihm ja frei, sein Leben nach Belieben zu gestalten. Wie dem auch sei, jedenfalls sah ich mich binnen wenigen Tagen von allen Mitteln entblößt. Alles, was ich mein nennen zu dürfen glaubte, befand sich in den Händen der Nachlaßgläubiger, und vierzehn Tage nach dem Tode meines Vaters war für mich so gut wie nichts mehr übrig. Da hätte ich nun freilich gleich daran denken sollen, mir mein Brot zu verdienen. Leider hatte ich aber, bei meiner Ungewohnheit mit den Schwierigkeiten eines solchen Lebens, ziemlich allen Halt verloren. Statt dem Ungemach die Stirne zu bieten, in Paris zu bleiben und meine dortigen Beziehungen zu benützen, quälte mich eine törichte Scham über meine neue Lage. Entschlossen, zu verschwinden, veränderte ich meinen Namen und ging nach London, wo ich meine letzten Hilfsmittel bald erschöpft hatte. Glücklicherweise erhielt ich da einen Platz als Sprachlehrer und begann schon, mich von dem erlittenen Schicksalsschlage zu erholen und Pläne zu schmieden, zum Beispiel, nach einer französischen Kolonie zu gehen und dort neue Schätze zu erwerben, da sah ich mich plötzlich wieder auf die Straße gesetzt. Nun mußte ich wohl die erste sich mir darbietende Gelegenheit ergreifen. Diese Gelegenheit nannte sich Thompson. Da haben Sie mit kurzen Worten meine Geschichte.«

»Heiter ist die ja nicht, meinte Roger. Doch sagten Sie nicht, Sie hätten Ihren Namen verändert?

– Das ist auch wahr.

– Und Ihr wirklicher Name? So, wie wir zueinander stehen, ist mir diese Frage wohl erlaubt.«

Morgan lächelte etwas bitter.

»Mein Gott, ich habe wohl schon etwas zu viel gesagt. Ich bitte Sie nur um strengste Geheimhaltung, um mich auf dem Schiffe nicht zum Gespött der[204] andern werden zu lassen. Ich gestehe Ihnen übrigens, daß ich diese lächerliche Umtaufe heute für einen törichten Schritt ansehe. Ich wollte aber meinen wahren Namen keinen verunglimpfenden Scherzreden aussetzen. Das erschien mir als eine Erniedrigung. Welche Dummheit! Da habe ich mich denn bemüht, einen neuen Namen zu erfinden, kam jedoch zu keinem andern Ergebnisse als dem, aus ihm ein Anagramm zu bilden.

– Also ihn zu Morgan zu verdrehen.

– Ja, zu Morgan aus dem Namen Gramon. Setzen Sie davor noch eine Partikel, die mir augenblicklich – ironisch gemeint – sehr nützlich ist, und den Titel eines Marquis, der mir jedenfalls sehr große Dienste leisten wird, so kennen Sie meine Person von A bis Z.«

Roger hatte einen Ausruf der Verwunderung hören lassen.

»Alle Wetter, rief er, ich wußte doch, daß ich Sie kannte. Wenn Sie sich noch einiges Gedächtnis bewahrt haben, müssen Sie sich erinnern, daß wir, freilich als Kinder, einander zuweilen gesehen haben. Ich hatte die Ehre, von Ihrer Frau Mutter empfangen zu werden, und ich glaube sogar, wir beide sind entfernte Vettern.

– Das ist ganz richtig, bestätigte Morgan. Ich erinnerte mich dessen ebenfalls, als ich zuerst Ihren Namen nennen hörte.

– Und da gaben Sie auch mir gegenüber Ihr Inkognito nicht auf! rief Roger.

– Wozu hätte das nützen können? erwiderte Morgan. Es sind nur die von Ihnen erwähnten Umstände, die mich veranlaßt haben, Ihnen Rede zu stehen.«

Einen Augenblick gingen die beiden Landsleute schweigend nebeneinander her.

»Und Ihre Stellung als Dolmetscher? fragte Roger unvermittelt.

– Nun, was soll's mit der? sagte Morgan.

– Wollen Sie die nicht aufgeben? Ich stehe, das versteht sich von selbst, ganz zu Ihrer Verfügung.

– Und wie sollte ich das je quitt machen? Nein nein, lieber Herr Roger. Ich bin Ihnen für Ihr Anerbieten noch dankbarer, als ich es auszudrücken vermag, annehmen kann ich es aber unmöglich. Wenn ich mich bis zu dieser elenden Stellung herabgewürdigt habe, wenn ich Freunde und Vaterland verlassen habe, so geschah das, um gegen niemand Verpflichtungen auf mich zu nehmen, und dabei muß es wohl bleiben.[205]

– Nun ja, Sie haben damit recht,« sagte Roger mit nachdenklicher Miene.

Noch lange spazierten die beiden Landsleute Arm in Arm auf und ab, und nach und nach wagte sich nun auch Roger auf das Gebiet der Geständnisse.

Es ist nie vergebens, wenn zwei junge Männer einander sich rückhaltlos offenbaren. Als sie sich jetzt trennten, hatten sie die früher zwischen ihnen bestehenden Schranken fallen sehen. Die »Seamew« trug von jetzt an wenigstens zwei Freunde mit sich fort.

Morgan hatte den angenehmsten Eindruck von der unvorhergesehenen Veränderung. Die Seelenverlassenheit, die ihn seit mehr als sechs Monaten durchkältete, hatte jetzt ein Ende. Blieb er auch für alle noch der einfache Dolmetscher, so half ihm darüber doch das Bewußtsein hinweg, wenigstens in den Augen des neugewonnenen Freundes als der dazustehen, der er wirklich war.

Solch erfreulichen Vorstellungen hingegeben, zündete er in seiner Kabine die Kerze an und vertiefte sich in das Studium Madeiras, vor allem der Stadt Funchal. Aus den unschuldigen Scherzreden Rogers hatte er das als notwendig erkannt. Jetzt bemühte er sich, die verlorene Zeit wieder einzubringen, und arbeitete, einen Reiseführer vor sich, bis spät in die Nacht. Dann war er hierüber gut beschlagen und bereit, jede Prüfung zu bestehen, wenn die Stunde zum Besuche der Insel käme.

Um nach dem nur eine halbe Meile entfernten Ufer zu gelangen, sollten die Boote des Dampfers nicht benützt werden. Das bei Funchal immer sehr unruhige Meer machte eine Landung ziemlich schwierig. Dazu bedient man sich wegen der Sicherheit der Passagiere besser der landesüblichen Canots und im Übersetzen geübter Fischer von der Küste.

»Sie wissen ja wohl, Herr Professor, wandte sich Thompson an Morgan, als er mit diesem in ein solches Boot stieg, auf Madeira, wo alle Welt, möchte ich sagen, englisch spricht, werden Sie so etwas wie Ferien haben. Finden Sie sich nur um elf im Hôtel d'Angleterre ein und am Abend um acht wieder auf dem Schiffe, wenn Sie an der gemeinschaftlichen Tafel teilnehmen wollen.«

Nach wenigen Minuten stießen die Boote, das Thompsons an der Spitze, ans Land. Unglücklicherweise war das Ufer gerade hier stark überfüllt. Es war heute Markttag, wie einer der Bootsführer sagte, und deshalb schwer durch die Barken aller Art, auf denen es sehr laut herging, hindurchzukommen. Da grunzten, brüllten und blökten eine Menge Tiere, die ihren Unmut, jedes in seiner Sprache, kundgaben.[206]

Eins nach dem andern wurden die Vierfüßler ausgeschifft, was in sehr einfacher Weise dadurch geschah, daß man sie unter Lachen und Schreien ins Wasser warf. Die Passagiere der »Seamew« mußten mitten zwischen der lärmenden Herde das Land gewinnen, auf dem sich eine große und sehr gemischte Menschenmenge versammelt hatte. Die davon, die sich zur Empfangnahme der für den Markt bestimmten Tiere auf dem kieselreichen Strande aufgestellt hatten, achteten auf nichts andres, der elegantere Teil, in der Mehrzahl Engländer, promenierte auf dem Kai aufmerksam hin und her und suchte unter den neuen Ankömmlingen vielleicht ein bekanntes Gesicht zu entdecken.

Doch auch ohne die schwache Hoffnung, unter den Besuchern ihrer Insel einen Freund zu finden, wußten sich die Spaziergänger schon für die Manöver bei der Landung zu interessieren. Dabei gibt es allemal kleine Zwischenfälle, die eines eignen Reizes, wenn auch kaum für die davon Betroffenen, nicht entbehren.

Einige zwanzig Meter vor dem Strande stoppen die Bootsführer, die einen hierherbringen, und warten eine Welle ab, die sie inmitten eines mehr erschreckenden als gefährlichen Strudels kochenden Schaumes vollends ans Land treiben soll. Die Seeleute von Madeira erspähen diesen psychologischen Augenblick mit erstaunlicher Sicherheit, so daß ein solches Landungsmanöver kaum je mißlingt.

Heute sollte das aber gerade der Fall sein. Eines der Boote, das etwas zu weit draußen angehalten worden war, wurde von der Brandungswelle nicht ganz bis ans Ufer getragen und blieb, als das Wasser zurückflutete, auf dem Trocknen sitzen. Nun beeilten sich dessen Insassen zwar, es zu verlassen, sie wurden aber, von einer nachfolgenden Welle überrascht, umgeworfen, ein Stück hingerollt und natürlich völlig durchnäßt, während sich ihr Boot, den Kiel nach oben, umkehrte. Ein gründliches Bad! Die drei Passagiere hatten keine Ursache, die Kälber und Lämmer zu beneiden, die fortwährend ihr klägliches Geschrei ausstießen.

Und wer waren denn die drei Passagiere? Keine andern als Mr. Edward Tigg, Mr. Absyrthus Blockhead und der Baronet Sir Georges Hamilton. In dem Wirrwarr bei der Abfahrt waren sie zusammengekommen, um Madeira gemeinschaftlich auf so originelle Weise kennen zu lernen.

Die drei unfreiwilligen Badegäste nahmen das Abenteuer sehr verschieden auf.

Tigg ganz phlegmatisch. Sobald die Welle ihn wieder auf dem Trocknen hatte liegen lassen, schüttelte er sich gleichgültig tüchtig ab und zog sich aus dem[207] Bereiche eines möglichen neuen Überfalles durch das perfide Element ruhigen Schrittes zurück. Hörte er etwa den Schrei, den Mary und Beß Blockhead ausstießen? Wenn das der Fall war, meinte er bescheiden, es sei ja nur natürlich, aufzuschreien, wenn man seinen Vater wie einen einfachen Strandkiesel hin-und herrollen sieht.

Was diesen Vater betraf, so war der außer sich vor Freude. Alle rings um ihn lachten zwar, er lachte aber vielleicht selbst noch mehr. Daß er so nahe am Ertrinken gewesen war, versetzte ihn in den siebenten Himmel. Die ungeschickten Bootsführer mußten ihn mit Gewalt wegreißen, sonst hätte er in seiner Verzückung noch eine zweite Dusche an derselben Stelle abgewartet, wo er die erste bekommen hatte. Er war doch eine glückliche Natur, dieser Ehren-Gewürzkrämer.

Wenn Tigg ruhig und Blockhead kreuzfidel war, so war Hamilton höchst entrüstet. Kaum hatte er sich erhoben, als er auch schon, heil und gesund, auf Thompson inmitten des allgemeinen Gelächters zuging, das dieses gewaltsame Bad auf dem ganzen Ufer hervorgerufen hatte. Ohne ein Wort zu äußern, zeigte er nur seine völlig durchnäßten Kleider dem, den er bei seinen Unfall für den Schuldigen hielt.

Thompson sah ein, was ihm unter solchen Umständen zukam, und stellte sich dem unglücklichen Passagier zur Verfügung. Er bot ihm eine Barke an, die ihn an Bord zurückbringen sollte, wo er seine Kleidung wechseln könnte. Das schlug Hamilton aber rundweg ab.

»Was, ich, mein Herr, ich sollte mich noch einmal einem dieser infamen Canots anvertrauen?«

Hamiltons Wut steigerte sich noch, als er Saunders in der Nähe sah. Mit höhnischem Lächeln hatte dieser der ereignisvollen Ausladung zugesehen.

»Na ja, warum hat man mich auch gestern im Stiche gelassen,« schien er dem Baronet energisch zuzurufen.

»Ja dann, mein Herr, erwiderte Thompson, wenn nicht vielleicht einer der andern Herren...

– O natürlich, fiel Blockhead ein, ich werde Sir Georges Hamilton alles holen, was er nur wünscht. Ich würde sogar nicht bös sein...«

Worüber würde denn der brave Ehren-Krämer nicht böse sein?

Wahrscheinlich darüber, ein zweites Bad zu nehmen.

Diese Freude wurde ihm freilich verdorben. Seine zweite Fahrt verlief ohne Unfall, und die Kleidungsstücke des Baronets kamen trocken an ihr Ziel.[208]

Die meisten Passagiere hatten sich jetzt schon zerstreut. Morgan aber war sogleich von Roger in Beschlag genommen worden.

»Sind Sie frei? hatte dieser gefragt.

– Vollständig, hatte Morgan geantwortet. Herr Thompson hat mir vorhin diese erfreuliche Mitteilung gemacht.

– Würden Sie mich dann ein wenig umherführen?

– Natürlich, mit größtem Vergnügen,« hatte der neue Freund des Offiziers erklärt.

Schon nach drei Schritten blieb dieser aber mit einem ironischen Ausdruck des Gesichts stehen.

»Ja, doch das eine, wir werden uns hoffentlich nicht verlaufen?

– Keine Sorge!« hatte Morgan erwidert, während er im Geiste noch einmal seinen Plan von Funchal studierte.

Und richtig, er irrte sich in der ersten halben Stunde nur fünfmal, zur großen Belustigung Rogers.


Ein gründliches Bad! (S. 207.)
Ein gründliches Bad! (S. 207.)

Gegenüber dem Turm, der den Signalmast trägt, waren die beiden Männer sogleich in die schmalen und gewundenen Straßen von Funchal eingedrungen. Sie hatten aber kaum hundert Meter zurückgelegt, als sie ihre Schritte verlang, samten. Bald blieben sie dann ganz stehen, mit einer schmerzlichen Grimasse wegen des trostlosen Pflasters, das ihre Füße geradezu malträtierte. Auf keinem Punkte der Erde kann es auch etwas so Menschenfeindliches geben. Aus Sprengstücken von Basalt mit messerscharfen Kanten hergestellt, wird dieses Pflaster mit den widerhaarigsten Schuhen fertig. An Trottoir war hier gar nicht zu denken. Trottoir ist ein auf Madeira unbekannter Luxus.

Die Wirtstafel des Hôtel d'Angleterre vereinigte um elf Uhr alle Passagiere der »Seamew« mit Ausnahme der ja stets unsichtbaren Neuvermählten und Johnsons, der sich hier ebenso wie auf den Azoren zu verhalten beliebte.

Wie verschieden war aber dieses Frühstück von dem in Fayal. Die Touristen waren über diese Veränderung höchst erfreut und erklärten, daß die Agentur hier zum ersten Male ihren Verpflichtungen nachgekommen sei. Man hätte sich nach England versetzt zu sein glauben können ohne eine Art Konfekt aus Kartoffeln, das die Nonnen des Klosters Santa-Clara herstellen und das zum Nachtisch aufgetragen wurde. Die exotische, aber fad schmeckende Leckerei fand denn auch bei den Tischgästen keine besondre Anerkennung.[211]

Nach Schluß des Frühstücks nahm Roger von neuem seinen Landsmann zur Seite und sagte, er rechne bestimmt darauf, ihn in Gesellschaft der Familie Lindsay durch Funchal zu begleiten.

»Natürlich können wir den Damen, setzte er hinzu, keine längere Promenade auf dem abscheulichen Pflaster zumuten, dessen schlechte Eigenschaften wir heute Morgen genügend kennen gelernt haben. Gibt es denn in diesem Lande keinen Wagen?

– Wenigstens keinen mit Rädern, antwortete Morgan.

– Zum Teufel, rief Roger, das ist ja fatal.

– Doch es gibt dafür etwas noch Besseres.

– Und das wäre?

– Ein Hamac.

– Ein Hamac! Scharmant, der Hamac. Eine Promenade in einem Hamac muß ja herrlich sein. Wo sind aber diese wohltätigen Hamacs zu finden, Sie weiser Cicerone?

– Am Chafariz-Platze, erklärte Morgan lächelnd, und wenn Sie es wünschen, führe ich Sie sofort dahin.

– Jetzt kennt er sogar die Straßennamen!« rief Roger verwundert.

Nachdem er Alice und Dolly noch gebeten hatte, ihn zurück zu erwarten, machte er sich mit seinem Landsmann auf den Weg. In der nächsten Straße ließ den aber seine Wissenschaft schon im Stiche, und er mußte sich soweit herablassen, einen Vorübergehenden zu fragen.

»Na, auf diese Weise hätte ich mich auch zurecht gefunden, spottete Roger unbarmherzig. Ihr Reisehandbuch enthält wohl keinen Stadtplan?«

Auf dem großen und in der Mitte mit einem Springbrunnen geschmückten Chasariz-Platze drängte sich eine große Menge von Landleuten umher, die zum Markte gekommen waren.

Die beiden Franzosen fanden leicht die Station der Hamacs und mieteten zwei dieser bequemen Transportmittel.

Als Alice und Dolly darin untergebracht waren, setzte sich die kleine Gesellschaft in Bewegung.

Zuerst kamen sie nach dem Palacio São-Lourenço und an dessen unregelmäßig angelegten Befestigungen vorüber, die von runden, gelb angestrichnen Türmen flankiert wurden und wo der Gouverneur von Madeira seine Amtswohnung hat. Dann führte, nach Osten abbiegend, der Weg durch den sehr[212] schönen und gut unterhaltenen öffentlichen Park, der zur Seite des Theaters von Funchal liegt.

Nur bei der Kathedrale verließen die Damen einmal ihre Hamacs, aber auch hier hätten sie sich das ersparen können, da das aus dem fünfzehnten Jahrhundert herrührende Bauwerk seinen ursprünglichen Charakter gänzlich durch das wiederholte gedankenlose Anstreichen verloren hat, das die gar zu konservative Ortsverwaltung veranlaßt hatte.

Von den übrigen Kirchen versicherte Morgan, daß sie keiner Besichtigung wert wären. Man verzichtete also auf deren Besuch und begab sich nur noch nach dem Kloster der Franziskaner, worin sich, nach Morgans Aussage, eine »Kuriosität« befinden sollte.

Um nach diesem Kloster zu gelangen, mußten die Touristen fast die ganze Stadt Funchal durchmessen. Von weißen Häusern mit grünen Persiennes und eisernen Balkons eingefaßt, folgt hier eine winkelige Straße der andern, alle aber ohne Trottoir und mit abscheulichem Pflaster. Die Erdgeschosse enthalten viele, ziemlich einladend aussehende Geschäfte, nach der Dürftigkeit ihrer Auslagen konnte man jedoch kaum annehmen, daß auch der anspruchloseste Käufer sie befriedigt verlassen könnte. Einige von diesen Läden enthielten Spezialartikel Madeiras, zum Beispiel Stickereien, Spitzen aus Agavenfaden, Matten und kleinere, eingelegte Möbelstücke. Hinter den Schaufenstern der Juweliere standen ganze Ständer mit Armbändern, auf denen die Zeichen des Tierkreises eingraviert waren.

Von Zeit zu Zeit mußten sich die Hamacs einer hinter dem andern halten, um einem von der entgegengesetzten Seite herankommenden auszuweichen. Fußgänger sah man nur selten. Gewöhnlich bedienten sich die Einwohner der Hamacs oder der Pferde, und in diesem Falle begleitet von dem unermüdlichen Arriero, der die Moskitos von den Tieren abzuwehren hatte. Dieser Arriero ist ein spezieller Typus von Madeira. Bei keiner Gangart des Pferdes läßt er sich überholen, er trabt dahin, wenn dieses trabt, galoppiert, wenn es galoppiert, und niemals beklagt er sich, wie schnell oder wie langsam die Gangart auch sein mag.

Zuweilen brüsten sich die Bewohner wohl auch unter dem undurchdringlichen Baldachin eines »Carro«, einer Art Wagen auf Kufen, die über die blank polierten Steine dahingleiten. Von Ochsen, die als Schmuck Schellen tragen, gezogen, bewegt sich der »Carro« mit weiser Langsamkeit weiter, wobei[213] er von einem Manne geführt wird, und ein Kind, gleichsam als Postillon, vorangeht.

»Langsamen Schritts, zwei Ochsen vor dem Wagen... trällerte Roger, einen bekannten Vers von Boileau verändernd.

– Bockbeinig, steif und ganz interesselos, läßt sich Oldengland hier spazieren tragen,« vollendete Morgan die Travestie.

Allmählich veränderte sich jedoch der Charakter der Stadt, die Läden wurden seltner, die Gassen noch enger und winkeliger und das Pflaster noch entsetzlicher. Gleichzeitig verlief der Weg mehr und mehr bergauf. Man befand sich hier in dem Quartier der Armen, deren am Felsen angeklebte Häuschen durch ihre offnen Fenster das elende Mobiliar darin sehen ließen.

Diese düstern und feuchten Wohnungen lassen es erklärlich erscheinen, daß die hiesige Bevölkerung von Krankheiten dezimiert wird, die in diesem herrlichen Klima eigentlich unbekannt sein sollten, vorzüglich von den Skrofeln, der Lepra (dem Aussatz) und der Lungenschwindsucht, die freilich erst von den Engländern, welche hier Heilung suchten, nach Madeira eingeführt worden ist.

Die Träger der Hamacs kümmerten sich nicht im mindesten um die starke Steigung des Weges. Gleichmäßig und sicher schritten sie dahin und wechselten so manchen Gruß mit andern, denen sie begegneten.

Carros gab es auf diesem steilen Pfade nicht mehr; an ihre Stelle trat nun eine Art für Bergabhänge besonders geeigneter Schlitten, der »Carrhino«. Jeden Augenblick sah man einen solchen mit großer Geschwindigkeit und mittels zweier, am Vorderteile des Fahrzeugs befestigten Stricke von zwei kräftigen Männern gelenkt, vorübergleiten.

Fast ganz oben auf der Anhöhe stiegen die Damen vor dem Kloster der Franziskaner aus. Die berühmte »Kuriosität« bestand aus einem, als Kapelle dienenden Raum, in dessen Wände dreitausend Menschenschädel eingemauert waren. Weder ihr Cicerone noch die Hamacführer waren imstande, den Reisenden zu sagen, welche Bewandtnis diese Bizarrerie hatte. Nach genügender Betrachtung der »Kuriosität« ging die kleine Karawane wieder abwärts, und die beiden Fußgänger blieben bald ein Stück zurück, da sie auf dem Pflaster, das sie mit wenig schmeichelhaften Ausdrücken belegten, den andern unmöglich folgen konnten.

»Die reine Schande, die Wege so schlecht in Stand zu halten, rief Roger, indem er ganz stehen blieb. Ist es Ihnen recht, wenn wir uns einen Augenblick verschnaufen oder wenigstens langsamer gehen?[214]

– Das wollte ich Ihnen eben vorschlagen, antwortete Morgan.

– Nun, das paßt sich ja herrlich; und da wir allein sind, will ich das benutzen, Ihnen eine Bitte vorzutragen.«

Roger teilte seinem Begleiter nun mit, daß die Lindsayschen Damen für morgen einen Ausflug ins Innere des Landes geplant hätten. Dabei würde ein Dolmetscher gewiß nötig sein, und Roger rechnete auf seinen neuen Freund.

»Was Sie da wünschen, hat nur gewisse Schwierigkeiten, warf Morgan ein.

– Schwierigkeiten? Inwiefern denn?

– Weil ich hier sozusagen der Gesamtheit der Touristen und nicht nur einzelnen von diesen angehöre.

– O, wir wollen ja keine geschlossene Gesellschaft bilden, antwortete Roger. Möge doch uns begleiten, wer da will. In Funchal bedürfen die übrigen ja keines Dolmetschers, da spricht alle Welt englisch, und man kann obendrein die ganze Stadt samt der berühmten Schädelkapelle binnen zwei Stunden ganz bequem besuchen. Doch, das möge Thompson anheimgestellt bleiben, mit dem ich heute Abend darüber sprechen werde.«

Am Fuße des Hügels angelangt, trafen die beiden Franzosen wieder mit ihren Damen zusammen, die durch eine große Menge Menschen hier aufgehalten worden waren. Alle schienen einem Hause zuzudrängen, aus dem Gelächter und Freudenrufe herausschallten.

Nach kurzer Zeit bildete sich ein geordneter Zug, der, als er sich in Bewegung gesetzt hatte, an den Touristen vorbeikam und von einer lustigen Musik und von Festgesängen begleitet wurde.

Roger stieß einen Ruf des Erstaunens aus.

»Aber Gott vorzeihe mir meine Sünden, das... das ist ja eine Beerdigung!«

In der Tat sah man dicht hinter den ersten Gliedern des Zuges auf den Schultern von vier Trägern eine Art Bahre, worauf ein kleiner Körper, der eines Mädchens, im ewigen Schlummer ruhte. Von ihrem Platze aus konnten die Touristen jede Einzelheit erkennen. Sie sahen die von weißen Blumen bekränzte Stirn, die geschlossenen Augen, die über der Brust gefalteten Hände der kleinen Leiche, die hier unter großer Heiterkeit zu Grabe gebracht wurde.

An eine andre Veranlassung des Aufzuges zu denken, oder zu bezweifeln, daß das Kind tot wäre, das war ganz ausgeschlossen. Die gelbliche Stirn, die spitze Nase und die Steifigkeit der kleinen Füße, die unter den Falten des[215] Kleides hervorlugten, überhaupt die völlige Unbeweglichkeit der Gestalt machten einen Irrtum unmöglich.

»Was mag dieses Rätsel zu bedeuten haben? murmelte Roger, als sich der Zug langsam entfernte.

– Von einem Rätsel ist hier keine Rede, versicherte Morgan. In dem frommen katholischen Lande ist man der Ansicht, daß die doch noch ganz makellosen Kinder unmittelbar unter die Engel des Himmels aufgenommen werden. Weshalb sollte man sie da beklagen? Müßte man sich nicht vielmehr über den Tod derer freuen, die man auf Erden am meisten geliebt hatte? Das ist die Erklärung für die heitern Gesänge, die Sie eben gehört haben. Nach der Feierlichkeit begeben sich dann noch die Freunde und Bekannten zur Familie, sie wegen des Todes ihres Kindes zu beglückwünschen, und die Eltern müssen ihren menschlichen und kaum zu verheimlichenden Schmerz gegenüber diesen Besuchern, so gut es geht, unterdrücken.

– Eine merkwürdige Sitte! sagte Dolly.

– Ja, murmelte Alice, merkwürdig zwar, doch auch schön und tröstlich.«

Kaum im Hotel angelangt, wo die Touristen zur Rückkehr nach der »Seamew« zusammentrafen, brachte Roger sein Gesuch bei Thompson an. Der war sehr froh, dadurch einige Tafelgäste auf gute Art und Weise eine Zeitlang los zu werden. Er genehmigte das Gesuch nicht nur auf der Stelle, sondern machte sogar noch eifrigst Propaganda zugunsten dieses nichtoffiziellen Ausfluges.

Damit hatte er freilich nur sehr wenig Erfolg. Wem sollte es auch einfallen, bei einer schon so kostspieligen Reise noch persönliche Aufwendungen zu wagen. Immerhin fand sich einer, der die Sache, ohne zu feilschen, billigte und der ohne Zögern erklärte, daß er sich den Ausflüglern anschließen würde, indem er Roger wegen seines vortrefflichen Gedankens noch außerdem beglückwünschte.

»Wahrhaftig, lieber Herr, sagte er mit Stentorstimme, Sie, gerade Sie, wären in unserm Interesse der rechte Mann gewesen, die ganze Reise zu organisieren!«

Wer hätte dieser rücksichtslose Passagier wohl anders sein können als der unverbesserliche Saunders?

Durch dessen Beispiel angeregt, meldete sich auch gleich der Baronet als Teilnehmer, und ebenso Blockhead, der erklärte, ganz entzückt zu sein, ohne daß er weiter sagte, warum.

Den Genannten schloß sich sonst kein Passagier mehr an.


Die Straße überschritt hier einen jetzt trocken liegenden Bergbach (S. 221.)
Die Straße überschritt hier einen jetzt trocken liegenden Bergbach (S. 221.)

»Demnach wären wir also unter uns,« ließ sich am Ende Jack noch vernehmen.

Alice zog die Augenbrauen zusammen und sah ihren Schwager unangenehm überrascht an. Hätte dieser, so wie beide zueinander standen, nicht etwas mehr Zurückhaltung bewahren müssen? Jack hatte sich jedoch schon abgewendet, er sah nicht, was er nicht sehen wollte.

Mrs. Lindsay mußte ihren Unmut wohl oder übel verschlucken, ihre sonst so frohe Laune wurde aber dadurch doch nicht wenig erschüttert. Als die Passagiere der »Seamew«, außer denen, die morgen an dem Ausfluge teilnehmen sollten, wieder auf das Schiff zurückgekehrt waren, konnte sie sich nicht erwehren, Roger einige Vorwürfe darüber zu machen, daß er ihre Absicht allen bekannt gegeben habe. Roger entschuldigte sich nach Kräften. Er hätte geglaubt, daß im Landesinnern ein Dolmetscher kaum zu entbehren sein würde. »Außerdem, setzte er, ohne dabei zu lächeln, hinzu, wird uns Herr Morgan bei seiner vorzüglichen Kenntnis des Landes als wertvoller Führer dienen können.«

»Nun, Sie mögen vielleicht recht haben, antwortete Alice, ohne sich ganz gefangen zu geben, ich bin Ihnen aber doch – ja, das muß ich Ihnen sagen – etwas böse, ihn unsrer kleinen Truppe angegliedert zu haben.

– Ja, warum denn? fragte Roger ernstlich verwundert.

– Weil ein solcher Ausflug, erklärte Alice, unsern Beziehungen zu ihm notwendig den Charakter einer gewissen Vertraulichkeit auferlegt. Das ist für zwei Frauen entschieden etwas genant, wenn es sich um eine Persönlichkeit wie den Herrn Morgan handelt. Ich stimme ja mit Ihnen überein, daß er ein recht einnehmender junger Mann ist, doch immerhin einer, der hier eine im Grunde untergeordnete Stellung einnimmt, einer, von dem man nicht weiß, woher er kommt, und der unter uns wohl keinen Bürgen aufweisen könnte.«

Roger vernahm mit Verwunderung solche, aus dem Munde einer Bürgerin des freien Amerika ungewöhnlich erscheinende Grundsätze. Mrs. Lindsay hatte doch bisher nicht die geringste Scheu gezeigt, zu tun, was ihr beliebte. Er erkannte nicht ohne geheimes Vergnügen die besondre Aufmerksamkeit, die eine Frau, die durch ihr großes Vermögen so turmhoch über dem Dolmetscher stand, dem bescheidnen Angestellten Thompsons widmete. Wahrlich, sie sprach ja sogar von einer gewissen, zwischen beiden bestehenden Beziehung, ob das nun eine vertraute war oder nicht. Sie hatte offenbar über seine Abkunft nachgedacht und bedauerte, daß er hier keinen Bürgen hätte.[219]

»Ich bitte um Entschuldigung, unterbrach er sie, er hat doch einen solchen.

– Und wen?

– Mich. Ich verbürge mich Ihnen gegenüber ausdrücklich für den jungen Mann,« sagte Roger ernst, während er sich mit liebenswürdigem Gruße schnell verabschiedete.

Die Neugier ist bekanntlich die mächtigste Herrin der Frauen, und die letzten Worte Rogers hatten diese bei Mrs. Lindsay wachgerufen. Als sie sich in ihr Zimmer zurückgezogen hatte, konnte sie unmöglich Schlaf finden. Einerseits hielt sie das ihr aufgegebne Rätsel munter und anderseits erregte sie die schiefe Stellung gegenüber ihrem Schwager. Warum verließ sie dann aber das Schiff nicht gänzlich? Warum gab sie diese Reise nicht auf, die sie besser überhaupt nicht hätte unternehmen sollen? Das wäre doch der einzige richtige Ausweg gewesen, der alles ins rechte Geleise brachte. Alice mußte das ja selbst anerkennen, und dennoch empfand sie innerlich ein unbesiegbares Widerstreben gegen einen solchen Entschluß.

Da öffnete sie das Fenster und badete das Gesicht im weichen, lauen Nachtwinde.

Heute war Neumond. Himmel und Meer waren ganz schwarz, nur die Sterne flimmerten hoch oben und die Lichter der verankerten Fahrzeuge tief unter ihr.

Lange Zeit sah Alice, von unklaren Gedanken erregt, träumerisch hinaus in das geheimnisvolle Dunkel, während ihr vom Strande her das leise klagende Rauschen der Wellen ans Ohr schlug.

Quelle:
Michel Verne: Das Reisebüro Thompson und Comp. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XCI–XCII, Wien, Pest, Leipzig 1909, S. 196-209,211-217,219-220.
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