Vierzehntes Kapitel.

Der Curral das Freias.

[220] Am nächsten Morgen standen acht Hamacs pünktlich vor dem Hôtel d'Angleterre. Um sechs Uhr begab sich die an Teilnehmerzahl so verminderte Karawane in der köstlichen Morgenfrische auf den Weg.[220]

Unter den schnellen Schritten der sechzehn Träger, die zur zeitweiligen Ablösung von sechzehn andern begleitet waren, kam sie bald nach dem sogenannten Neuen Wege und zog anderthalb Stunden lang auf dieser gut unterhaltenen Straße hin. Noch vor acht Uhr wurde in Camara de Lobos eine kurze Rast gemacht, und dann ging es mit frischen Kräften einen Berg hinan auf einem Pfade, dessen außerordentliche Steilheit ihm den Namen »Mata Boes«, d. i. »der Ochsenmörder«, eingetragen hat.

Diesen Pfad, auf dem die Ochsen leicht zugrundegehen, überwanden doch die Menschen. Es war wirklich wunderbar, die Hamacträger zu beobachten. Zwei Stunden lang klommen sie, einander je nach fünfzehn Minuten ablösend, mit gleichbleibender Anstrengung und ohne einen Klagelaut den beschwerlichen Abhang empor. Erst gegen zehn Uhr ruhten sie wieder einmal aus. Die Straße überschritt hier einen jetzt trocken liegenden Bergbach und an Stelle des Pflasters trat der natürliche Erdboden.

Nach einer weitern Stunde Marsches, der hier durch ein Gehölz mit alten Kastanienbäumen, da über eine öde Steppe und dort wieder an einigen Tannen, den Überresten eines frühern Waldes, vorüber führte und endlich auf einem mit duftendem Haidekraut bedeckten Stück offenen Landes mündete, hielten die Touristen vor einer rohen Barriere an, hinter der die roten Mauern der Quinta de Campanario sichtbar waren.

Früher eine stattliche Wohnung, war diese Quinta jetzt nur noch eine elende Ruine. Statt, um zu frühstücken, in sie einzutreten, zogen es die Touristen vor, sich unter freiem Himmel an einer Stelle niederzulassen, die ihre Träger von Dornen und Steinen und auch von Abfällen aller Art, die von der madeirischen Unreinlichkeit herrührten, sorgsam gesäubert hatten. Dann wurden die Mundvorräte hervorgeholt. Ein weißes Tischtuch bedeckte den Boden, so daß die Tafel im ganzen recht einladend aussah.

Während sie noch unter Aufsicht Morgans hergerichtet wurde, bewunderten die Touristen, die auch einen flüchtigen Blick auf das prächtige Panorama ringsumher warfen, die beiden Kastanienriesen, die dicht bei der Quinta standen und deren größter, eine wirkliche Merkwürdigkeit der Insel, einen Stamm von elf Meter Umfang hatte.

Ihr durch den beschwerlichen Aufstieg geschärfter Appetit trieb sie aber bald zu der improvisierten Tafel zurück, wo sie unangenehm überrascht wurden, einen Kreis von Ziegen und zerlumpten Kindern um den Platz versammelt[221] zu sehen. Durch Drohungen und reichliche Almosen gelang es erst, die Horde zu vertreiben. Auch der wenigst delikate Magen hätte bei ihrem Anblick gestreikt.

Die Reisenden hatten kaum eine Weile gegessen, als ihre Aufmerksamkeit auf eine seltsame Erscheinung gelenkt wurde, die – es war ein Mann – in der Tür der verfallenen Quinta erschien. Schmutzig und mit Lumpen bekleidet, das ziegelrote Gesicht vom Heiligescheine eines struppigen Bartes umgeben und einem Gewirr. ursprünglich jedenfalls weißer Haare auf dem Kopfe, betrachtete der Mann, an einen der Türpfosten gelehnt, die schmausende, hungrige Gruppe. Endlich faßte er einen Entschluß und ging schlendernden Schrittes auf die Touristen zu.

»Seien Sie hier bei mir willkommen, grüßte er die Fremden und lüftete dabei die Reste eines großen Sombrero, der fast nur noch aus der Krempe bestand.

– Bei Ihnen? rief Morgan, der sich erhoben hatte, die Begrüßung des höflichen Mannes zu erwidern.

– Ja, bei mir... in der Quinta de Campanario.

– Dann, Señor, entschuldigen Sie fremde Touristen, so ohne weiters auf Ihr Gebiet eingedrungen zu sein.

– O, das bedarf keiner Entschuldigung, protestierte der Madeirer in leidlichem Englisch. Es freut mich herzlich, Ihnen Gastfreundschaft bieten zu können.«

Morgan und seine Gefährten sahen ihn verwundert an. Ihre Blicke schweiften zwischen seiner Mitleid erweckenden Erscheinung und der halbzerfallenen Hütte hin und her, die dem wunderlichen Eigentümer als Unterschlupf diente. Den aber schien das Erstaunen seiner Gäste nur zu belustigen.

»Erlauben Sie, mich diesen Damen selbst vorzustellen, da mir doch niemand diesen Liebesdienst leisten kann. Ich hoffe, Sie werden Don Manuel de Goyaz, Ihrem ergebnen Diener, seine Unkorrektheit freundlich nachsehen.«

Der edle Lumpenträger ließ unter seinem zerfetzten Äußern eine gewisse vornehme Art wirklich nicht verkennen. Er hatte seine Tirade halb in hochmütigem, halb in familiärem Tone, im übrigen aber tadellos vorgetragen. Seine Höflichkeit konnte jedoch über seine lungernden Blicke nicht hinwegtäuschen. Wie hypnotisiert durch die leckern Gerichte, wandten sich seine Augen von den Pasteten den Schinkenschnitten zu, liebkosten im Vorübergehen die verführerischen Flaschen und verrieten sehr deutlich die Klagen eines knurrenden Magens.[222]

Alice hatte Mitleid mit dem unglücklichen Trollgaste. Sie lud den Señor Don Manuel de Goyaz freundlich ein, an dem Frühstücke teilzunehmen.

»Ich danke Ihnen, Señora, das schlage ich nicht ab, sagte er, ohne sich weiter nötigen zu lassen. Und glauben Sie ja nicht, in schlechter Gesellschaft zu speisen. Die etwas schadhafte Hülle verbirgt Ihnen einen »Morgado« (hohen Herrn), wie man unsereinen hier nennt, und Sie sehen in mir einen der reichsten Landbesitzer Madeiras.«

Bei den etwas zweifelnden Blicken der Touristen begann Don Manuel zu lachen.

»Aha, rief er, da wollen Sie gewiß die Frage stellen, wie dann wohl die andern aussähen. Nun, deren Kleider haben noch mehr Löcher als die meinigen, ihre Häuser noch weniger Steine als meine Quinta, das ist der ganze Unterschied. Nicht wahr, eine höchst einfache Sache?«

Die Augen des Morgado glänzten heller. Das Thema war ihm sicherlich geläufig und lag ihm am Herzen.

»Nein nein, es gibt nichts Einfacheres, fuhr er fort, dank den einfältigen Gesetzen, die hierzulande herrschen. Die Landgrundstücke, die wir nicht selbst kultivieren können, haben unsre Vorfahren dereinst pachtweise vermietet, und zwar wie es hier Gebrauch ist, auf sehr lange Zeit. Der Pachtvertrag ist eine Art Besitztum des Farmers: er tritt ihn einem andern ab, verkauft ihn oder überträgt ihn auf seine Kinder, und als Entgelt überläßt er dem Eigentümer die Hälfte vom Ertrage des Landes. Übrigens darf er Mauern errichten, Häuser erbauen, überhaupt auf dem ihm verpachteten Grund und Baden herstellen, was ihm nur beliebt, und wenn der Eigentümer beim Ablauf des Pachtvertrages wieder das Land übernehmen will, das ihm gehört, muß er alles Neugeschaffene gegen Barzahlung kaufen. Wer von uns wäre das aber imstande? Prinzipiell Eigentümer, ist uns tatsächlich doch alles geraubt, vorzüglich, weil die Farmer seit dem Auftreten der Reblaus, unter dem Vorwande, keine Einnahmen zu haben, auch keinen Zins mehr entrichten. Das dauert nun bereits zwanzig Jahre an und die Folgen davon haben Sie ja vor Augen. Ich besitze von meinen Vorfahren so viel Land, daß ich eine große Stadt darauf erbauen könnte, habe aber so wenig Mittel in der Hand, daß ich nicht einmal mein Haus ausbessern lassen kann.«.

Das Gesicht des Morgado hatte sich verdüstert. Mechanisch hielt er sein Glas hin, das man zu füllen sich beeilte. Diese Tröstung mußte ihm wohl[223] behagen, denn er verlangte recht häufig nach ihr. Jetzt sprach er kaum noch, sondern aß nur für vierzehn Tage und trank gleich für vier Wochen. Allmählich wurde sein Blick wieder milder, seine Augenlider schlaffer, endlich fielen die Augen ganz zu, der Morgado sank langsam zur Erde und schlief selig ein.

Die Reisenden hüteten sich bestens, ihn zu wecken, um Abschied zu nehmen.

»Man sucht ja die Lösung der sozialen Frage sehr weit, sagte Roger, als die Gesellschaft weiterzog. Sapperment, hier ist sie! Mit einem solchen Gesetze würden die Bauern schnell genug große Herren werden!

– Und die Herren dafür Bauern, antwortete Morgan melancholisch. Dann sind sie an der Reihe, einen Stammbaum von Empörern zu begründen.«

Roger wußte auf dieses traurige Argument nichts zu erwidern, und die kleine Truppe setzte ihren Weg stillschweigend fort.

Gestärkt und ausgeruht, gingen die Träger jetzt schnell dahin, übrigens verlief ja der Weg bergab. In weniger als einer halben Stunde gelangten die Ausflügler über einen schmalen, launisch gewundenen Pfad hin nach der kleinen natürlichen Plattform, die den Gipfel des Cabo Girao abschließt.

Von hier aus konnten sie die ganze Südküste der Insel übersehen. Ihnen gerade gegenüber zeigte die von Porto-Santo ihr baum- und buschloses, mageres Profil. Im Westen sah man den Flecken Calheta mit einem Hintergrund hoher, nebelumwallter Berge, im Osten noch Camara de Lobos, Funchal und das Cap São-Lourenço.

Die weite Strecke, die aber noch bis Sonnenuntergang zurückzulegen war, machte es unmöglich, das schöne Panorama längere Zeit zu betrachten. Die Gesellschaft zog daher gleich weiter, und auf der bald wieder erreichten Straße schritten die Träger tüchtig dahin.

Diese Art zu reisen ist zwar sehr bequem, dagegen weniger geeignet, ein Gespräch zu unterhalten. Die einen von den andern getrennt, ließen sich die Ausflügler, da sie ihre Eindrücke nicht gegeneinander austauschen konnten, nachlässig hingestreckt wiegen und betrachteten stumm das wunderbare, schöne Landschaftsbild, das sich vor ihren Augen abrollte.

Der Weg stieg bald an, bald fiel er ab, mit jedem neuen Tale nahm jedoch die mittlere Höhe zu. Auf die tropischen Pflanzenarten folgten die der gemäßigten Zonen: Eichen, Zedern und Ahornbäume traten an die Stelle der Palmen, der Farnbäume und Kakteen.[224]

Auf Abhängen wie auf Steigungen behielten die unermüdlichen Träger ihre wiegende und doch ziemlich schnelle Gangart. Nachdem sie einen Talgrund erreicht hatten, stiegen sie ebenso unverdrossen die folgende Anhöhe wieder hinauf, ohne je Müdigkeit zu verraten. Das hatte sich schon dreizehnmal wiederholt, als der Flecken Magdalena im Scheine der sinkenden Sonne sichtbar wurde.

Eine Viertelstunde später hielten die Hamacs vor einem leidlich gut aussehenden Gasthause an, wieder aber umringt von einer Schar zerlumpter, aufdringlich bettelnder Kinder.

Um sie zu verscheuchen, schlugen Roger und Morgan leicht, aber vergeblich auf die Nächststehenden ein. Saunders fand dagegen das einzige, dazu wirksame Mittel. Er nahm aus seiner Geldtasche eine handvoll Scheidemünze, die er nach sorgsamer Durchzählung unter die Bettelkinder warf. Diese fielen beutegierig darüber her, während Saunders ein kleines Notizbuch aus der Tasche zog, und »was er ausgelegt hatte«, darin aufzeichnete. Als er seine Kladde wieder eingesteckt hatte, wendete er sich Morgan zu, der ihn bei seiner Handlungsweise gespannt beobachtete.

»Sie werden mir bei Herrn Thompson bezeugen können, sagte er mit scharfer, auf nichts Gutes hindeutender Stimme, daß ich gewissenhaft Buch und Rechnung geführt habe.«

Am nächsten Morgen brach der kleine Trupp mit Tagesanbruch wieder auf. Von Magdalena bis San-Vincent, wo übernachtet werden sollte, war eine sehr lange Strecke zurückzulegen.

Zwei Kilometer weit folgte man der gestern begangnen Straße wieder zurück, dann schwenkten die Träger nach links ab und auf einen im Zickzack verlaufenden Weg auf den Grund eines engen, düstern Tales ein.

Auf diesem steilen und steinigen Pfade kamen sie trotz ehrlicher Anstrengung nicht mehr so schnell vorwärts. Fast jede zweite Minute lösten sie einander ab, und alle Viertelstunden mußte man ihnen eine kurze Rast gewähren.

Gegen zehn Uhr war der höchste Punkt der Steigung noch nicht sichtbar, als die Leute noch einmal Halt machten. Gleichzeitig begannen sie untereinander ein lebhaftes Gespräch.

»Was gibt es denn? fragte der Baronet mürrischen Tones.

– Wohl einen kleinen Zwischenfall, antwortete Morgan, der uns jedenfalls einstweilen hier zurückhalten wird.«

Seinem Beispiele folgend, verließen auch die andern ihre Hamacs.[225]

»Ja, um was handelt es sich denn? fragte nun auch Alice etwas ängstlich.

– O, um nichts Besondres, Mistreß Lindsay, beruhigen Sie sich getrost, beeilte sich Morgan zu versichern. Wir werden eine kleine »Leste« (einen Sandsturm) auszuhalten haben; das ist alles.

– Eine Leste?

– Jawohl,« sagte der Dolmetscher einfach, indem er nach dem Meere hinwies.

In der Atmosphäre war plötzlich eine auffallende Veränderung eingetreten. Eine Art gelblichen Dunstes verdeckte den Horizont. In der ausgedehnten Nebelbank zitterte die Luft wie unter der Einwirkung sehr starker Hitze.

»Jene Wolke, erklärte Morgan, verkündet uns einen von der Sahara ausgegangenen Windstoß, und die Führer suchen sich dagegen so gut wie möglich zu schützen.

– Was! rief Hamilton. Wir sollen uns von der elenden Wolke da draußen aufhalten lassen?«

Er hatte kaum ausgeredet, als das Meteor die Gruppe der Reisenden schon überraschte. Binnen eines Augenblickes nahm die Hitze in unglaublichem Maße zu, während sich der Luft ein brennend heißer, seiner Sand beimischte.

Selbst in der Stadt ist es unmöglich, sich gegen diesen schrecklichen Wüstenwind wirksam zu schützen. Der von ihm über das Meer getragene Sand dringt überall ein, wenn die Fenster auch noch so gut geschlossen waren. Auf dem jedes Schutzes entbehrenden Wege war die Lage natürlich noch weit ernster, ja das steigerte sich bald zur Unerträglichkeit.

Die Atmosphäre schien bereits alle Feuchtigkeit verloren zu haben. Blätter, die in wenigen Minuten vergilbt waren, flatterten mit dem glühenden Atem dahin, und die verdursteten Zweige der Bäume hingen schlaff und traurig herunter. Die Luft wurde unatembar. Bedeckten sich die Touristen, nach dem Vorbilde der Träger, das Gesicht auch noch so sorgfältig, so konnten sie doch nur noch mühsam keuchen. Der Sand drang ihnen bis in die Bronchien und rief die heftigsten Hustenstöße hervor, während ein brennender Durst sie zu quälen anfing.

In dieser Weise konnte es unmöglich lange fortgehen. Zum Glück entdeckte Roger da ein Hilfsmittel.

Auf der einen Seite des Weges verlief, schon von dessen Anfang an, eine jener »Levadas«, die eine Sehenswürdigkeit Madeiras bilden. Mit einer Ausdauer[226] sondergleichen haben die Bewohner ihre Insel mit einem wirklichen Netz kleiner Wasserleitungen überzogen, die dazu dienen, den bewohnten Ortschaften von den Bergen her Trinkwasser zuzuführen. Morgan kam da sofort auf den Gedanken, der nächstgelegnen Leitung ein wirksames Mittel gegen den aus der afrikanischen Wüste stammenden glühheißen Wind zu entnehmen.

Seiner Aufforderung gemäß wurde in der Levada ein Damm aus Steinen hergestellt. Bald lief da das Wasser über und fiel wie eine Kaskade nieder, die schleierförmig eine Aushöhlung in der Wand des Hügels an der Seite abschloß.

Die kleine Grotte war leider so beschränkt, daß sich nicht alle Touristen hineinflüchten konnten. Alice und Dolly wenigstens fanden aber darin Schutz. Einen noch übrigen Platz nahmen die Männer abwechselnd ein, alle fünf Minuten ein andrer, und die unvermeidliche Dusche, die sie da beim Ein- und beim Austreten empfingen, war weit davon entfernt, ihnen zu mißfallen.

Die Führer mußten freilich auf diese Erleichterung verzichten. Sie schienen aber nicht allzusehr zu leiden, denn den Kopf mit ihren weiten Capuchons vermummt, warteten sie geduldig den Vorübergang des Unwetters ab.

Diese Geduldprobe sollten sie freilich lange aushalten. Um vier Uhr wehte der Wind noch so erdrückend heiß wie vorher.

Plötzlich zwitscherte aber ein Vogel, dem andre sofort antworteten. Dann falteten sich, eins nach dem andern, die Blätter der Bäume wieder auseinander, und die Träger standen, ihren Capuchon abwerfend, wieder auf.

Zwanzig Sekunden später hörte die Leste völlig auf, und ohne vermittelnden Übergang folgte ihr eine köstliche, erfrischende Brise.

»Die »Impbate«, sagte einer der Träger, während die Touristen ein lautes Hurra ausstießen.

Ehe nun der Marsch wieder aufgenommen wurde, empfahl es sich doch, das so sehr verspätete Frühstück zu genießen. Alle taten dem Proviant denn auch die größte Ehre an und erquickten sich an der herabrauschenden wohltuenden Kaskade. Der Damm in der Leitung wurde dann sorgsam entfernt.

Unglücklicherweise komplizierte der mehr als fünfstündige Aufenthalt den Ausflug recht unangenehm. Voraussichtlich würde nun San-Vincent vor dem Dunkelwerden nicht zu erreichen sein.

War es das wohl, was die Führer beunruhigte, als man gegen sieben Uhr auf das sehr geräumige, fünfzehnhundert Meter hoch gelegne Plateau Paul[227] da Serra gelangte? Schweigend, mit finsterm Gesicht und wie von innerer Angst gejagt, beschleunigten sie ihre Schritte, soweit die Kräfte das zuließen.

Ihre Angst wurde schließlich sogar sichtbar und schien doch mit ihrer möglichen Ursache so im Mißverhältnis zu stehen, daß sich Mrs. Lindsay beunruhigt Morgan offenbarte, als ihre beiden Hamacs bei einem der kurzen Halte, zu denen es die Ungeduld der Träger jetzt immer seltner kommen ließ, einander zufällig mehr nahe gekommen waren.

Die einsetzende Dämmerung vermehrte nur noch den Schrecken der Träger. Selbst am hellen Tage würden sie die Paul da Serra nur zitternd überschritten haben, da eine lokale Sage das Plateau als einen beliebten Aufenthaltsort böser Geister bezeichnete.

Die Touristen hatten sich über diese abergläubische Furcht nicht zu beklagen. Kaum war das Plateau erreicht, als die Hamacs mit schwindelerregender Schnelligkeit dahingetragen wurden. Die Leute gingen nicht mehr, nein, sie rannten schweigend über das verlassene, unangebaute, baumlose Land, das die Dämmerung jedenfalls noch trauriger aussehen ließ. Ringsum fast völlige Einsamkeit; nur in der Ferne weideten einige Herden das dürftige Gras und den Thymian des Platzes ab.

Vor acht Uhr waren die fünf Kilometer zurückgelegt, die das Plateau in der Breite mißt, und nun begann wieder der Abstieg, während die Träger – ein Beweis, daß sie sich wesentlich erleichtert fühlten – ihre üblichen Gesänge ertönen ließen.

Der Abstieg gestaltete sich aber furchtbar auf dem fast lotrecht hinunterführenden Pfade, dessen Schwierigkeiten die zunehmende Finsternis noch vermehrte. Vor Erschöpfung stellten die Träger auch ihr Singen bald ein und lösten einander schon von zwei zu zwei Minuten ab.

Endlich, halb zehn Uhr, kam man in San-Vincent vor der Tür eines Gasthauses an, dessen liebenswürdiger, geschäftiger Wirt sich in der Sorge für seine späten Gäste geradezu vervielfachte.

In San-Vincent wurden die Hamacs nun verlassen. Die Touristen sollten von hier aus die vortreffliche Landstraße, die diesen Flecken mit Funchal verbindet, auf schon gestern für sie hierher gebrachten Pferden zurücklegen.

Als sie am folgenden Tage das dicht am Meere liegende Gasthaus verließen, kamen sie noch durch das Dorf San-Vincent, das lachend im Grunde eines grünenden Tales eingenistet liegt, welches sich auffällig von den schroffen[228] Felsen seiner Umgebung unterscheidet. Später verlief der Weg in Serpentinen weiter, und die Pferde kletterten nun den steilen Abhang des Berges hinauf.

Seit dem gestrigen Tage hatte sich das Wetter gründlich geändert. Es herrschte zwar keine Leste mehr, doch schimmerte auch kein Himmelsblau hernieder. Eine Seltenheit auf Madeira, trieb der Wind über die Insel schwere Wolken, die in recht niedrigen Schichten der Atmosphäre schwebten. Die Touristen waren noch nicht ganz zweihundert Meter hoch gestiegen, als sie in einen dichten Nebel kamen, der höchstens gerade noch erlaubte, den Weg zu erkennen. Überdies enthielt die Luft einen Überschuß an Elektrizität; offenbar drohte ein Gewitter. Menschen und Tiere litten unter der elektrischen Spannung. Schweigend benutzten die Menschen nicht die Erleichterung, die die neue Art ihrer Fortbewegung dem Plaudern gewährte, und die Tiere klommen mit gesenktem Kopfe, dampfenden Nüstern und in Schweiß gebadet den beschwerlichen Weg empor.

Zwei Stunden später aber tauchten die Touristen nach Überschreitung des Passes der Encurmada plötzlich wieder aus dem Nebelmeer hervor. Unter ihnen zerteilten sich die von schwachem Winde getriebnen Wolken an den Kanten der Berge, über ihnen leuchtete dagegen ein tiefer Azur, von keiner Wolke unterbrochen, und ihre Blicke schweiften im Norden und im Süden bis zu den fernen Wellen des Ozeans hinaus.

Die Luft war frisch in dieser Höhe. Die Pferde und die Reiter empfanden den wohltätigen Einfluß der veränderten Temperatur. Leider wurde die Straße bald wieder zum Pfade, der einen gemütlichen Spazierritt unmöglich machte.

Vom Passe der Encurmada an begann für die Touristen der Abstieg über den südlichen Abhang der Insel. Zunächst hatten sie da die endlosen, halbkreisförmigen Felsengebilde der »Rocha-Alta« zu passieren. Sehr stark verschmälert, verläuft hier der Weg längs einer steilen Schlucht, auf deren Grunde ein infolge der Entfernung unbedeutend erscheinender Bergbach plätschernd hinströmt.

Anderthalb Stunden lang trabten alle in dieser Weise weiter, mit der Felswand auf der einen und dem leeren Raume auf der andern Seite. Trotz der Nachhilfe der Arrieros erschien diese Wegstrecke den Ausflüglern recht lang, bis die Felswand am Ende eines schmalen Ganges plötzlich aufhörte und der nach rechts abbiegende Pfad sich wieder zur Straße verbreiterte.

Niemand beeilte sich jedoch, auf diese jetzt wieder sehr gute Straße einzubiegen. Wie zu einer gedrängten Rotte zusammengeschlossen, waren alle in[229] Betrachtung des vor ihnen liegenden Bildes versanken. Sie standen hier am Rande des alten Zentralkraters von Madeira. Vor ihnen senkte sich bis zu achthundert Meter Tiefe ein Abgrund hinab, der jeder Beschreibung spottete, und verblüfft bewunderten sie das Meisterwerk des Schöpfers aller Dinge.

Schweigend blickten sie hinab in den einst von Feuer und Blitzen erfüllten Abgrund, als in vorgeschichtlicher Zeit die ganze Insel in Flammen stand, ein ungeheurer Leuchtturm auf dem ungeheuern Meere! Lange Zeit hatten hier die Blitze gezuckt, war die Lava aus hundert Vulkanen geflossen und hatte das Meer angefüllt, das Wasser zurückgedrängt und neue Ufer gebildet. Dann war die vulkanische Kraft erschöpft, die Vulkane waren erloschen, der unnahbare Brandherd zur lieblichen, für lebende Wesen mütterlichen Insel geworden. Der letzte nur hallte von Donnerschlägen noch wieder, als die Fluten schon Jahrhunderte lang an die abgekühlten Ufer schlugen und alle andern Vulkane eingeschlafen waren.

Dann waren noch weitere Jahrhunderte vergangen und auch sein Wüten hatte sich gelegt; die glutflüssigen Felsen waren erstarrt und hatten zwischen sich den wunderbaren Abgrund mit den wildzerrissenen Wänden zurückgelassen. Endlich hatte sich da unten Humus gebildet, Pflanzen waren aufgekeimt, ein Dörfchen hatte sich da angesiedelt, wo früher das Feuer gewütet hatte, und der furchtbare Krater war zum »Curral das Freias« (Park der Nonnen) geworden, auf dessen Grund jetzt ein murmelnder Bach dahinfloß.

Gewiß eine Örtlichkeit, die auf kein Gemüt ihren Eindruck verfehlte, hier, wo einst die Erde alle ihre Schrecken gezeigt hatte. Sie trägt davon aber auch noch heute unverkennbare Zeichen. Keine Feder könnte die schwindelerregenden Wände beschreiben, die überwältigende Anhäufung von Felsblöcken, die Schauder erregende Mannigfaltigkeit der Einzelheiten! Ein Kranz von stolzen Bergen umgibt die Aushöhlung. Zu ihrer Linken sahen die Touristen die bis achtzehnhundertachtzehn Meter aufragenden »Torrinhas«, zur Rechten den Pic Arriero, der siebzehnhundertzweiundneunzig Meter hoch ist, und den höchsten Gipfel Madeiras, den Pic Ruivo, der seine von Nebelfetzen umflatterte Stirn bis achtzehnhundertsechsundvierzig Meter erhebt.

Der Boden des Abgrundes war jetzt mit einer reizenden Vegetation geschmückt, in deren Mitte, wie Punkte und wie ein Faden, die Häuschen und der Glockenturm von Libramento erschienen.

Für den Ausflug war ein Abstieg nach diesem Dörfchen vorgesehen; man hatte sich sogar vorgenommen, da zu frühstücken. Die kleine Truppe[230] zögerte aber doch, als sie die Unmöglichkeit erkannte, die Pferde auf den erschreckenden Pfad da hinunter mitzunehmen, auf den Weg, der mit tausend Schleifen in die Tiefe des Currals führte. Wäre aber auch ziemlich leicht hinunterzukommen, so würden die achthundert Meter des Wiederaufstieges doch außerordentlich beschwerlich werden.

Die Arrieros beruhigten darüber die Touristen. Von unten aus stiegen an der andern Seite die Kraterwände nur ganz allmählich empor, und sie hätten, wenn sie über den Grund nur drei Kilometer weit gegangen wären, kaum mehr als hundert Meter zu steigen, um die Straße und ihre Pferde wiederzufinden.

Damit schien also jede Schwierigkeit aus dem Wege geräumt zu sein, und der immerhin beängstigende Abstieg wurde angetreten.

Der Pfad flößte aber tatsächlich mehr Schrecken ein, als er gefährlich war; für die Frauen blieb er jedoch ein recht beschwerlicher Weg, und Alice und Dolly mußten die Unterstützung Morgans und Rogers annehmen.

Morgan hatte nicht ohne Zögern gewagt, der Gefährtin seine Hilfe anzubieten. Bisher hatte er sich eine solche Freiheit ja niemals erlaubt. Ein noch unklarer Eindruck veranlaßte ihn jedoch, aus der bisher beobachteten Zurückhaltung etwas hervorzutreten. Schon seit dem Anfange dieses Ausfluges hatte Mrs. Lindsay wiederholt das Wort an ihn gerichtet. Sie besprach mit ihm ihre gewonnenen Eindrücke, ja sie suchte sogar ziemlich deutlich seine Gesellschaft. So sehr ihn das erfreute, glaubte Morgan doch, es für eine Folge davon halten zu müssen, daß Roger ihn verraten hätte.

So viel Vergnügen es ihm auch gewährt haben würde, hatte er doch bisher noch die angemessene kühle Höflichkeit bewahrt, die seine Stellung von ihm verlangte, und in der ersten Zeit des Abstieges, ließ er die schöne Gefährtin, wenn er sie auch bedauerte, allein mit den Schwierigkeiten des Weges kämpfen. Es waren ja andre da, denen es mehr als ihm zukam, eine hilfreiche Hand zu bieten, der Baronet, Saunders und vor allem Jack Lindsay. Hamilton und Saunders schienen aber ausschließlich mit ihrer eignen werten Person beschäftigt zu sein, und was Jack Lindsay betraf, so ging dieser zerstreut und unaufmerksam als letzter hinterdrein. Wenn er sich wegen seiner Schwägerin ja beunruhigte, zeigte er es doch nur dadurch, daß er ihr zuweilen einen Blick zuwarf, der dem, der ihn bemerkt hätte, viel zu denken gegeben haben würde. Etwas Liebevolles lag jedenfalls nicht in den Blicken, mit denen er Alice an[231] den Abgründen verfolgte, die dicht neben dem Wege gähnten. Vielleicht hätte er sie nicht in einen solchen gestoßen, aber auch nicht daraus gerettet, wenn sie aus Unachtsamkeit hineingefallen wäre.

Morgan hatte sich also fast gezwungen gesehen, sich der Verlassenen anzunehmen. Bei einer der schlimmsten Stellen des Weges reichte er ihr mechanisch die Hand hin, auf die sich Alice in der natürlichsten Weise stützte, und er führte sie dann so bis zum Grund des Currals. Nach Libramento kam er, ehe er sich dessen versehen hatte.

Je tiefer die kleine Gesellschaft hinunterkam, desto erstickender wurde die Luftwärme. Plötzlich aber, als man vom Frühstück aufstand, erhob sich ein frischer Wind. Offenbar war das drohende Gewitter ausgebrochen. Auf dem Kamm des Arriero und des Ruivo, deren Gipfel sich in undurchdringliches Düster verbargen, mochte es jetzt wohl stark regnen. Jedenfalls regnete es aber nicht hier im Talgrund. War der Himmel auch grau überzogen, so blieb das Land hier doch völlig trocken, und es hatte nicht den Anschein, als ob sich das ändern sollte. Ein darüber befragter Einwohner schien sich darauf zu verstehen. Er machte aber eine zweifelhafte Miene, als er hörte, daß die Touristen drei Kilometer durch den Grund hingehen wollten. Sein noch unbestimmter Blick richtete sich kurze Zeit auf den verhüllten Gipfel des Ruivo, dann zuckte er auf eine, wenig Gutes versprechende Weise mit den Schultern.


Alice stieß einen Schrei der Verzweiflung aus. (S. 235.)
Alice stieß einen Schrei der Verzweiflung aus. (S. 235.)

Vergeblich bemühte sich Morgan, ihn eingehender auszufragen. Keine Silbe konnte er aber dem Dickkopf entlocken, der sich darauf beschränkte, den Reisenden ohne weitere Aufklärung zu empfehlen, daß sie sich dem Ufer des Bergbaches nicht zu sehr nähern sollten.

Morgan teilte seinen Gefährten diese Warnung mit.

»Wahrscheinlich, sagte er, befürchtet dieser Bauerntölpel hier eine Überflutung, wie solche ziemlich häufig vorkommen. Wenn auf die Berge ein Platzregen niederfällt, steigen die zu dieser Jahreszeit gewöhnlich halb trockenen Bergbäche oft überraschend schnell. Ein solches Hochwasser hält zwar nur wenige Stunden an, es verursacht aber häufig manche traurige Zerstörung. Wir werden also doch wohl gut tun, dem Rate des Bauern zu folgen.«

Nach einem halbstündigen Marsche zeigte es sich jedoch, daß das Wetter sich mehr und mehr aufklärte. Im Zenit brachen schon die Wolken, und wenn sich auch noch Nebelmassen über die Pics wälzten, so wurden sie doch weniger dick und zeigten die Neigung, in der abgekühlten Luft bald ganz zu verschwinden.[232]

Die Touristen glaubten infolgedessen, sich der erhaltenen Warnung entschlagen zu dürfen. Der Fußboden erwies sich zunächst sehr steinig, während fünfzehn Meter weiter unten, am Rande des jetzt zu einem harmlosen Wasserfaden reduzierten Baches, sich ein Bett von seinem Sande zeigte, das für die ermüdeten Füße einen vortrefflichen Teppich bilden mußte.

Die Reisenden betraten also den elastischen Sandboden, der sich für den Weitermarsch wirklich sehr günstig erwies, und die kleine Truppe trottete darauf fröhlich dahin, wobei Morgan und Roger ihre Gefährtinnen noch mit Blumen[233] beglückten – mit Rosen, Weißdornblüten oder Veilchen, die hundertweise in den Spalten der Felsen blühten.

Bald beschränkte sich das Tal, das schon von Libramento an allmählich schmäler wurde, nur noch auf das Bett des Bergbaches, und dieser verlief ebenso unerwartet in eine Art Gang, der zur Linken lotrechte Felswände hatte, während das rechte Ufer mit zerstreuten Steinblöcken bedeckt war, sich übrigens aber in mäßiger Steigung bis zur Straße fortsetzte, wo die Pferde fünfhundert Meter weiter draußen warten sollten.

Bevor sie diesen Gang betraten, gebrauchten die Touristen jedoch noch die Vorsicht, einen Blick nach rückwärts zu werfen. Die Aussicht reichte hier über ein Kilometer weit, und in der Ferne sah man den Glockenturm von Libramento. Der Himmel wurde immer klarer; im Tal war nichts Außergewöhnliches zu bemerken.

Jupiter schlägt die mit Blindheit, die er verderben will, sagt der Dichter. Den Reisenden hatte es jedoch an gutem Rat nicht gefehlt. Einmal aus dem Munde Morgans, der das wiederholte, was ihn seine Bücher gelehrt hatten, und zum zweiten Male aus dem Munde des Bauern von Libramento waren ihnen weise Ratschläge nicht vorenthalten geblieben. Diese Ratschläge mißachteten sie jedoch, und beruhigt durch die Rückkehr des schönen Wetters, folgte die kleine Truppe vertrauensvoll dem Bach in dessen neuer Richtung.

Dreihundert Meter weiter draußen meinte Morgan, daß man nun bald an der Stelle des Rendezvous sein müsse, und er erbot sich, ein Stück vorauszugehen, um Umschau zu halten. Dem Worte die Tat folgen lassend, sprang er am rechten Ufer hinauf und verschwand bald zwischen den Felsen, während seine Gefährten ihm langsamer nachgingen.

Zwei Minuten waren kaum verflossen, als sie plötzlich stehen blieben. Aus der Tiefe des Curral war ein dumpfes, erschreckendes Donnern hörbar geworden, das von Sekunde zu Sekunde zunahm.

Jetzt kamen den unklugen Reisenden Erinnerung und Vernunft wieder. Alle verstanden, was dieses Geräusch bedeutete, und gleichzeitig flüchteten sie sich auf das rechte Ufer, Roger mit Dolly, die er dabei unterstützte, die übrigen jeder für sich allein. Mit fieberhafter Eile kletterten sie ein Stück an dem steilen Berge hinauf.

In einem Augenblick waren Dolly, Roger, Hamilton, Blockhead und Saunders außer dem Bereiche jeder Gefahr, während Jack, durch einen Vorsprung des[234] Terrains verborgen, sich etwas weiterhin auf einem leicht ersteigbaren Felsen in Sicherheit befand.

Es war die höchste Zeit gewesen.

Das Getöse wurde zum Pfeifen, zum Rauschen und Brüllen, und schon stürmte die ungeheure, wütende Woge heran, die in ihrem gelblichen Schaume zahllose Trümmer mit hinabführte.

Ohne es zu wollen, war Alice dem Wege ihres Schwagers nachgefolgt. Durch einen leichten Sturz aufgehalten, kam sie erst an den Fuß des Felsens, als jener schon oben daraufstand. Erst versuchte auch sie diesen zu erklimmen, sah aber bald ein, daß ihr die Zeit dazu fehlen würde. Die drohende Woge war von ihr nur noch hundert Meter entfernt.

Wenigstens zwei oder drei Meter hinaufzuklettern, das hätte ja vielleicht genügt. Um das aber zeitig genug ausführen zu können, bedurfte sie unbedingt einer Hilfe. Wenn nur Jack...

»Jack,« rief sie in ihrer Bedrängnis.

Auf diesen Anruf hin blickte Jack Lindsay hinunter. Er sieht sie. Sofort bückt er sich nieder und streckt die Hand aus...

Doch welch teuflisches Lächeln spielt da plötzlich um seine Lippen! Welch vielsagenden Blick hat er blitzschnell von seiner Schwägerin auf den drohenden Wasserschwall geworfen?

Nach kurzem Zögern, richtete er sich wieder auf, ohne seiner Schwägerin die erbetene Hilfe gewährt zu haben, während Alice einen Schrei der Verzweiflung ausstieß, der sofort von der schäumenden Woge erstickt wurde, die sie bedeckt und in ihrem tollen Wirbel mit fortzieht.

Blaß und außer Atem wie von einer erschöpfenden Arbeit, hatte sich Jack mit einem Sprunge vom Schauplatz dieses Dramas entfernt. Er erschien wieder bei seinen Gefährten und schloß sich ihnen stillschweigend an. Niemand würde ja wissen, was eben geschehen war! Und scheu wandten sich seine Augen der halb bewußtlosen Dolly zu, der Roger kniend Hilfe leistete.

Gleichzeitig mit Jack hatte auch Morgan, der in tollem Laufe herstürmte, seine Gefährten wieder erreicht. Von einem erhöhten Standpunkt auf dem Abhange hatte er den Bergstrom seine verderblichen Wogen daherwälzen sehen und sich deshalb beeilt, die bedrohten Freunde wieder aufzusuchen. Leider war er zu spät gekommen, wohl aber zeitig genug, um, ohne von dessen Urheber bemerkt zu werden, das schreckliche Drama mit anzusehen, das sich eben hier[235] abgespielt hatte. Wenigstens einen Zeugen gab es also, der den Schuldigen zur Rechenschaft ziehen, ihn bestrafen konnte.

Großer Gott! Morgan denkt letzt an keine Bestrafung. Barhäuptig, kreidebleich, eine Andeutung von geistiger Gestörtheit in den Augen, drängt er sich blitzschnell durch seine erstaunten Freunde, und ohne ein Wort der Erklärung stürzt er sich in den rauschenden Strom und verschwindet darin, während Dolly, der es plötzlich klar wird, welches Unglück sie betroffen hat, sich aufrichtet; sie zählt mit den Augen die, die um sie herumstehen, dann sinkt sie mit einem herzzerreißenden Schrei dem erschreckten Roger in die Arme.

Quelle:
Michel Verne: Das Reisebüro Thompson und Comp. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XCI–XCII, Wien, Pest, Leipzig 1909, S. 220-236.
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