Neuntes Kapitel.

Eine Rechtsfrage.

[136] Am 22. ankerte die »Seamew« früh am Morgen vor Ponta-Delgada, der Hauptstadt von San Miguel, und dem letzten Halteplatze vor den Azoren.

Die siebenhundertsiebzig Quadratkilometer große und hundertsiebenundzwanzigtausend Einwohner zählende Insel ist die bedeutendste des ganzen Archipels, und ihre Hauptstadt mit siebzehntausend Seelen ist die viertgrößte Stadt des Königreichs Portugal. Von zwei Vorgebirgen, im Osten von der Ponta-Delgada, von der die Stadt ihren Namen hat, und im Westen von der Ponta-Galé geschützt, macht noch eine achthundertfünfzig Meter lange Mole die für hundert Schiffe bequem ausreichende Reede zu einem sehr sichern Ankerplatze.

Zwischen dieser Mole und dem Ufer und inmitten einer großen Menge andrer Segelschiffe und Dampfer hatte sich die »Seamew« festgelegt. Nach Norden zu erhob sich terrassenförmig aufsteigend Ponta-Delgada, das mit seinen glänzend weißen Häusern einen entzückenden Anblick bot. Nach allen Seiten liefen die Straßen in ein Meer prächtiger Gärten aus, die um die Stadt einen Rahmen von üppigem Grün bildeten.

Da die meisten Passagiere heute besonders lange der Ruhe pflegten, wurde der Besuch des Landes bis zum Nachmittag verschoben. Da für die Insel San Miguel drei volle Tage vorgesehen waren und vier bis fünf Stunden völlig hinreichen mußten, Ponta-Delgada zu besichtigen, brauchte man sich ja nicht zu beeilen.


Ponta-Delgada.
Ponta-Delgada.

Diese Entscheidung wurde aber nicht ohne heftigen Widerspruch hingenommen. Einzelne gaben ihrer Mißbilligung den lebhaftesten Ausdruck. Daß Saunders und Hamilton zu den Mürrischsten gehörten, versteht sich ja von selbst. Wiederum eine gröbliche Verletzung des Programmes... nein, das wurde allgemach unerträglich! Sie zögerten auch gar nicht, ihre Beschwerden bei dem Reiseunternehmer vorzubringen. Der Agent antwortete darauf nur, es stehe ja den Herren frei, ans Land zu gehen, wenn es sie gar zu sehr danach verlangte. Saunders erwiderte darauf, es müßten unbedingt alle, Thompson und der Dolmetscher eingeschlossen, und natürlich auf Kosten des Reisebureaus, ans Land gesetzt werden. Thompson erklärte ihnen darauf, sie möchten nur ihre Reisegenossen dazu zu bereden versuchen, und so endigte die Verhandlung in einem recht bittern Tone.[136]

Schließlich ließen sich nur zwei Passagiere frühzeitig ausschiffen: das leutescheue junge Ehepaar, das nun einmal auf seine Weise zu reisen beliebte. Thompson glaubte auch, darauf rechnen zu können, daß er diese zwei vor der Stunde der Abfahrt nicht wiedersehen würde.

Saunders und Hamilton mußten ihren Ingrimm wohl oder übel verbeißen. Mit vier oder fünf fast ebenso unangenehmen Reiseteilnehmern, wie sie[137] selbst, füllten sie ihre gezwungene Muße durch den Austausch murrender Bemerkungen aus.

Die oppositionelle Gruppe war zwar nicht eben zahlreich, Thompson mußte sich aber gestehen, daß seine Peiniger nach und nach Proselyten machten. Zum ersten Male trennte eine leichte, aber doch vorhandne Scheidewand die Gäste der »Seamew« in zwei, glücklicherweise sehr ungleich große Lager. Die Veranlassung war ja im Grunde recht unbedeutend, es gewann jedoch den Anschein, als ob dadurch den Passagieren alle frühern kleinen Unannehmlichkeiten wieder ins Gedächtnis kämen und dem heutigen Vorfalle eine unangemessene Wichtigkeit verliehen.

Thompson meinte freilich, das würde nicht lange anhalten.

Und in der Tat, als nach Einnahme des Frühstücks die Boote alle Welt, außer dem unversöhnlichen Johnson und dem pestbefleckten Blockhead, am Kai von Ponta-Delgada abgesetzt hatten, da war aller Mißmut vergessen, und in Reihen, deren Ordnung das ungestörte Einvernehmen verriet, begannen alle unter Morgans Führung den Besuch der Stadt.

Hier besichtigte man die Kirchen und die in Ponta-Delgada vorhandenen Klöster, und unter dem Klange der fortgesetzt läutenden Glocken durchwanderte die Gesellschaft bis zum Abend die schmalen, ziemlich schmutzigen Straßen.

Doch zu welcher Enttäuschung! Die von der Ferne so weiß und schmuck aussehenden Häuser erschienen in der Nähe plump und massiv. Auf dem Straßendamme tummelten sich in aller Ungezwungenheit Schweine, und die meisten recht große, durch die man sich Bahn brechen mußte. Und die grünenden Gärten?... Hohe Mauern verhinderten jeden Einblick. Kaum gewahrte man da und dort über der Mauerkrönung einen der Weißen Rosenbäume oder der Kamelien, die auf San Miguel gewöhnlich die Höhe unsrer mittlern Waldbäume erreichen.

Die etwas widerwärtige Promenade verstimmte die Touristen sichtlich, und die Ankündigung der Rückkehr wurde beifällig aufgenommen.

Beim Abstieg bewahrte die Kolonne nicht mehr die musterhafte Ordnung, die sie vorher eingehalten hatte. Immerhin war die Achtung vor der Disziplin bei diesen etwas phlegmatischen Engländern noch so groß, daß es keiner von ihnen gleich von Anfang an wagte, sie gänzlich aus den Augen zu setzen; eine gewisse Lässigkeit trat aber doch deutlich genug zutage. Die Glieder zogen sich unregelmäßig auseinander und zählten verschiedentlich auch mehr Personen, die[138] dann an andern fehlten. Es gab auch einzelne Nachzügler. Thompson bemerkte es und seufzte still für sich.

Am Rande des Wassers angekommen, erwartete die Touristen eine unangenehme Überraschung. Auf dem Kai drängte sich eine zahlreiche Menge, aus deren Mitte gereizte Ausrufe hörbar wurden. Drohend fuchtelten nicht wenige Fäuste über den Köpfen des Volkes in der Luft umher. Offenbar standen sich hier zwei Parteien gegenüber, die sich vorläufig beleidigende Redensarten an den Kopf warfen, aber beide bereit waren, zu Handgreiflichkeiten überzugehen. Es sah wirklich aus wie eine neue Auflage des Aufstandes von Terceira.

Thompson war, die Touristenschar hinter ihm, unentschlossen stehen geblieben. Durch die Menschenmenge, die jeden Zugang versperrte, konnte man nicht zu den Booten gelangen. Nun gab es hier zwar noch landesübliche Boote und diese auch in ausreichender Zahl, was dazu aber fehlte, waren die Ruderer und Führer. Rings um die Touristen keine Seele. Alle schoben und drängten sich gegenüber der »Seamew« zusammen, scheinbar nahe daran, einen seiner Ursache nach unbekannten Streit auszufechten.

Plötzlich stieß Thompson einen Schrei aus. Sechs Boote waren vom Kai abgefahren, und begleitet vom Geheul der Menge, glitten sie, von kräftigen Ruderschlägen getrieben, in zwei Gruppen, je drei die andern verfolgend, hinaus. Man erkannte klar, daß sie sich auf die »Seamew« zu bewegten, und nach der auf Terceira mit der Gewalttätigkeit der Azorenbewohner gemachten Erfahrung konnte man ernstlich um den Dampfer besorgt sein. Höchst aufgeregt, ging Thompson auf dem Kai ein Stück hin und her.

Endlich kam er zu einer Entscheidung. Er zog eins der zunächstliegenden Boote heran und sprang entschlossen, Morgan mit sich schleppend, hinein. Roger und die Lindsays folgten ihm freiwillig nach. Sofort wurde das Halteseil losgeworfen, der kleine Anker eingezogen, und unter dem Druck von vier Riemen schoß das Boot auf das bedrohte Schiff zu.

Durch dieses Beispiel angefeuert, beeilten sich die andern Passagiere, es nachzuahmen. Schnell füllten sich verschiedene Boote, die Männer packten die ja den meisten Engländern vertrauten Riemen, und fünf Minuten später glitt eine kleine Flottille unter taktmäßigen Ruderschlägen über das Wasser des Hafens hin.

Als Thompson die »Seamew« erreichte, war er schon wieder etwas ruhiger. Die sechs verdächtigen Boote gehörten augenscheinlich zwei einander feindlichen Parteien an, und ihr Antagonismus gewährte den »Belagerten« eine unerwartete[139] Hilfe. Allemal wenn eines davon eine Bewegung nach vorwärts machen wollte, legte sich ihm eins von der andern Partei quer in den Weg und verhinderte damit jede Annäherung an die Schiffstreppe, die übrigens von einem Dutzend Matrosen bewacht wurde.

»Was ist denn hier los, Kapitän? fragte Thompson, als er atemlos auf das Deck sprang.

– Ja, das weiß ich selbst nicht, Herr Thompson, antwortete Pip phlegmatisch.

– Wie, Kapitän, Sie wissen nicht, was eine solche Ruhestörung veranlaßt haben kann?

– Ich habe davon keine Ahnung. Ich befand mich in meiner Kammer, als Mr. Flyship zu mir mit der Mel dung eintrat, es sei ein junges Mädchen an Bord gekommen und auf dem Kai sammelten sich Leute in drohender Haltung an. Ich weiß nicht, ob diese Dinge miteinander in Zusammenhang stehen, denn es ist mir unmöglich gewesen, auch nur ein Wort von dem verdammten Kauderwelsch der Kleinen zu verstehen.

– Und was haben Sie mit dem Kinde angefangen, Herr Kapitän?

– Das Mädchen befindet sich jetzt im Salon.

– Ich werde die Kleine aufsuchen, sagte Thompson mit Nachdruck, als ob er einen Weg zum Tode einschlüge. Inzwischen wachen Sie über das Schiff, Herr Kapitän; Sie sind für dessen Sicherheit verantwortlich.«

Statt aller Antwort lächelte der Kapitän sich nur verächtlich in den Bart.

Die Sachlage schien ja keineswegs kritischer Art zu sein. Die Passagiere hatten die Linie der Kriegführenden ohne Schwierigkeit passiert. Einer nach dem andern stiegen sie an Bord. Die »Seamew« konnte eine so schlecht durchgeführte Blockade lange aushalten.

Sicherlich hatte der Dampfer auf dem Lande von San Miguel – Gott weiß, warum – eine Anzahl Feinde und ebenso aus unbekannten Gründen ebensoviele kräftige Bundesgenossen, was zu seiner Verteidigung zweifellos hinreichte.

Thompson und Robert Morgan hatten sich in den Salon begeben. Wie der Kapitän gesagt hatte, fanden sie hier ein junges Mädchen, das völlig zusammengebrochen auf einem Divan lag. Von schmerzlichem Schluchzen geschüttelt, hatte sie das Gesicht in den Händen vergraben. Als sie die beiden Männer kommen hörte, erhob sie sich schnell, grüßte bescheiden und zeigte dabei ein liebreizendes Gesicht, worauf sich augenblicklich eine grausame Verlegenheit spiegelte.[140]

»Mein Fräulein, begann Morgan, eine lärmende Menge schwärmt um unser Schiff. Können Sie vielleicht angeben, ob dieser Aufstand etwas mit Ihrer Gegenwart hier zu tun hat?

– Ach, mein Herr, ich glaube, ja, antwortete das junge Mädchen weinend.

– Dann bitte, mein Fräulein, sprechen Sie sich etwas näher darüber aus. Ihr Name?

– Thargela Lobato.

– Und warum, Fräulein Lobato, sind Sie hierher gekommen?

– Um Schutz zu finden gegen meine Mutter, erklärte die junge Azorerin ohne Zögern.

– Gegen Ihre Mutter?

– Ja, das ist eine schlechte Frau. Und dann...

– Und dann? wiederholte Morgan.

– Und dann, murmelte die junge Thargela, deren Wangen sich etwas röteten, wegen Joachimo Salazars.

– Wegen Joachimo Salazars? fragte Robert. Was ist es mit diesem Joachimo Salazar?

– Das ist mein Verlobter,« bekannte Thargela, indem sie schämig das Gesicht in den Händen verbarg.

Morgan drehte etwas gelangweilt an seinem Schnurrbarte. Die Geschichte schien sich ins Gebiet der Lächerlichkeit zu verlieren. Was sollte man mit diesem halben Kinde anfangen? Wie Thompson entschieden erklärte, wäre er nicht nach San Miguel gekommen, um hier den Schutzgeist für junge Mädchen zu spielen, deren Herzensangelegenheit etwas in die Quere gekommen sei. Morgan meinte, einiges gütliche Zureden werde ja dem verwirrten Köpfchen seine Ruhe wiedergeben.

»Nun nun, liebes Kind, sagte er im Tone eines teilnehmenden Biedermannes, Sie werden doch wohl nach Hause zurückkehren müssen. Jedenfalls haben Sie sich nicht überlegt, daß es immer unrecht ist, sich gegen seine leibliche Mutter aufzulehnen.«

Thargela richtete sich lebhaft auf.

»Sie ist gar nicht meine leibliche Mutter! rief sie mit heiserer Stimme, während ihre Wangen unter aufflammendem Zorne erblaßten. Ich bin ein verlassenes Kind und jener elenden Frau, deren Namen ich trage, nur übergeben,[141] ich hatte keinen andern Namen als Thargela. Doch auch wenn sie meine Mutter wäre, hätte sie kein Recht, mich von Joachimo zu trennen.«

Unter einem neuen Tränenstrome sank Thargela wieder auf der Bank zusammen.

»Alles das ist ja recht hübsch, lieber Herr Morgan, sagte jetzt Thompson. Wie traurig die Lage für dieses arme Kind aber auch sein mag, uns geht das doch ebensowenig etwas an, wie wir etwas für sie tun können. Machen Sie ihr das verständlich. Es ist Zeit, daß diese Komödie ein Ende nimmt.«

Bei den ersten Worten aber, die Morgan aussprach, ihr begreiflich zu machen, daß sie hier keine Hilfe finden könne, erhob Thargela das Gesicht, worauf jetzt ein Ausdruck von Freude thronte.

»O doch, Sie können... ja, Sie können mir helfen. Das sagt das Gesetz!

– Das Gesetz?« rief Morgan dem ihre letzten Worte ganz unverständlich waren.

Er konnte darüber aber Fragen stellen, so viel er wollte... alles vorläufig vergebens. Das Gesetz war für sie, Thargela wußte das, aber auch nichts weiter andres. Wenn die englischen Herren darüber aber nähere Belehrung wünschten, warum ließen sie nicht Joachimo Salazar holen? Er wäre nicht weit von hier, er wüßte alles und würde auf jede Frage Antwort geben.

Ohne eine weitere Rede abzuwarten, zog Thargela Morgan mit nach dem Verdeck hinauf, führte ihn an die Schanzkleidung und zeigte ihm mit einem Lächeln, das ihr frisches Gesichtchen erhellte, einen großen, jungen Mann, der am Steuer eines der kriegführenden Boote stand.

»Joachimo! Joachimo!« rief Thargela.

Laute Ausrufe erschallten als Antwort. Der junge Mann warf das Steuer seines Bootes geschickt um, legte an der »Seamew« an und sprang an Bord, während sein Boot zu den übrigen zurückkehrte.

Es war ein wirklich hübscher Bursche von freimütigem, entschlossenem Aussehen. Seine erste Sorge war, Thargela in die Arme zu schließen und ihr vor Gott und der Welt zwei laute Küsse zu geben, die im Lager seiner Gegner ein noch wütenderes Geheul hervorriefen. Nach Erfüllung dieser Pflicht entspann sich zwischen den Verlobten ein lebhaftes Gespräch, worauf sich Joachimo den Passagieren zuwendete, die diesen Auftritt neugierig beobachtet hatten, und ihnen mit gewählten Worten seinen Dank aussprach für die Hilfe, die sie seiner geliebten Thargela gewähren wollten.[142]

Morgan übersetzte getreulich seine Worte. Thompson machte dazu ein schiefes Gesicht. Welch geriebener Diplomat, dieser Bursche! Hatte der junge Mann ihm nicht angesichts der Mannschaft und der Passagiere eine gewisse ritterliche Verpflichtung auferlegt?

Joachimo setzte seine Ansprache inzwischen fort. Was Thargela gesagt hätte, wäre ganz richtig. Das Gesetz der Azoren gestattet den jungen Leuten, sich mit Hilfe der Weise, wie das junge Mädchen es getan hatte, nach eigner Wahl zu verheiraten. Es genügte dazu, die Wohnung der Eltern zu verlassen, um sich tatsächlich ihrer Autorität zu entziehen und sich unter die des Richters zu flüchten, der, wenn er dazu aufgefordert wurde, verpflichtet war, die Eheschließung zu genehmigen. Zwar kannte Joachimo den Wortlaut des betreffenden Gesetzes nicht, man könnte sich ja aber auf der Stelle zum Corregidor begeben, der die englischen Herren ebenso über den moralischen Wert der Frau Lobato aufklären würde, wie über die Rechte ihrer Pflegetochter Thargela und die ihres Verlobten, des genannten Joachimo. Wenn man etwa fragte, warum Thargela die »Seamew« als Zufluchtsstätte gewählt hätte, und nicht das Haus eines Freundes, so läge das einfach daran, daß die Armen gewöhnlich keine Freunde haben. Übrigens hätte Frau Lobato, halb eine Wahrsagerin und halb eine Pfänderwucherin, halb aus Furcht, halb aus Interesse die halbe Bevölkerung der Stadt gleichsam am Gängelbande, was ja auch die vorliegende Kundgebung ihrer Anhänger bezeugte. Auf dem Lande wäre Thargela also Gefahr gelaufen, wieder nach Hause zurückgebracht zu werden. An Bord der »Seamew« und unter dem Schutze der Flagge des edelmütigen Englands würde das nicht der Fall sein.

Damit schloß der gewandte Redner seine Worte.

Die zuletzt eingeflochtene Bemerkung hatte besondre Wirkung; der junge Azorer sah das in der veränderten Haltung Sir Hamiltons. Ohne ihn zu kennen, hatte er sich's gerade angelegen sein lassen, diese Persönlichkeit, deren steife Haltung ihn als den unfreundlichsten aller Zuhörer verriet, für sich zu gewinnen. Unbestreitbar war Hamilton auch aufgetaut, er hatte den Schluß der Rede sogar durch ein zustimmendes Kopfnicken gebilligt.

Thompson, der noch unschlüssig war, was er tun sollte, warf einen verstohlenen Blick nach der linken und der rechten Seite.

»Was denken Sie hierüber, Kapitän? fragte er.

– Hm... weiß nicht,« gab Pip, sich bescheiden abwendend, zur Antwort.

Hinter ihm war aber der getreue Artimon auf seinem Posten.[143]

»Du bist ja so gut wie ein englischer Gentleman, sagte er zu dem vierbeinigen alten Freunde. Würdest du in diesem Falle einer Frau deine Hilfe verweigern?

– Hm! murmelte jetzt Thompson mit einem unsichern Blicke auf die Passagiere.

– Nun wahrlich, verehrter Herr, meldete sich da Alice Lindsay, die entschlossen aus dem Kreise ihrer Gefährten hervortrat, ich meine – ohne damit Ihrer Entscheidung vorgreifen zu wollen – man könnte wenigstens tun, was dieser junge Mann vorgeschlagen hat, das heißt, den Corregidor aufsuchen, der uns sagen wird, was wir zu tun oder zu lassen haben.

– Bravo, es geschehe nach Ihrem Wunsche, Mistreß Lindsay, rief Thompson erleichtert. Die Agentur darf und wird ihren Passagieren nichts abschlagen.«

Alle stimmten freudig ein. Das junge Paar hatte offenbar die Insassen der »Seamew« erobert. Nur Hamilton schloß sich dem lauten Beifalle nicht an. Merkwürdig! Seine Haltung war, wenn sie auch korrekt blieb, plötzlich wieder eisig geworden. Da eine amerikanische Bürgerin gleichsam die Führung in dieser Angelegenheit genommen hatte, war sein Interesse dafür schnell abgekühlt. Jetzt mochte die Sache zwischen den zwei niedriger stehenden Völkern, den Portugiesen und den Amerikanern, zum Austrag gebracht werden. Das in ihm personifizierte England hatte damit nichts mehr zu tun.

»Jedenfalls, nahm Thompson weiter das Wort, kann ein solcher Schritt erst nach unserm Diner unternommen werden, denn der Zeitpunkt dafür ist schon lange versäumt. Dann werden wir wieder die Linie der feindlichen Parteien passieren müssen. Wollen Sie, lieber Professor, den jungen Mann darauf aufmerksam machen?

– Dafür lassen Sie mich sorgen,« erklärte Joachimo.

Er trat sofort an die Schanzkleidung, rief die Insassen der Boote an und machte ihnen von dem gefaßten Entschlusse Mitteilung. Diese wurde zwar verschieden aufgenommen, da es sich aber doch nicht mehr um eine Entführung, um einen Menschenraub durch Fremde, handelte, und die Sache eine regelrechte Lösung finden sollte, blieb nichts übrig, als sich zu fügen, und man fügte sich auch, wobei es ja noch jeder Partei freistand, sich den Sieg zuzuschreiben. Die Boote entfernten sich von dem Dampfer, und als Thompson und Morgan in Begleitung Joachimos nach dem Essen am Kai landeten, fanden sie diesen verhältnismäßig ruhig.[144]

Immerhin gelangten die Drei nur umschwärmt von einem ansehnlichen Volkshaufen nach dem Bureau des Beamten. Der Corregidor war hier nicht anwesend; ein Polizist mußte nach ihm geschickt werden. Er kam übrigens bald. Es war ein kahlköpfiger Mann von mittlern Jahren, mit einem Teint wie gebrannter Ziegelstein, der ein reizbares, galliges Temperament verriet. Ohne Zweifel ärgerlich über die unerwartete Störung, fragte er barsch, was die späten Gäste wünschten.

Morgan schilderte ihm, was sich eben zugetragen hatte, und ersuchte ihn um seine Anweisung, was dabei zu tun sei. So schnell er aber auch das Anliegen der Drei vorgetragen hatte, dem ungeduldigen Corregidor mußte das doch noch zu weitschweifig erschienen sein, denn auf dem Tische, hinter dem er saß, trommelte er immer einen Sturmmarsch mit den knochigen Fingern.


Thargela zeigte ihm einen jungen, großen Mann. (S. 142.)
Thargela zeigte ihm einen jungen, großen Mann. (S. 142.)

»Frau Lobato, antwortete er dann im Telegrammstil, sehr schlechter Ruf. Joachimo Salazar und Tochter Thargela, vortreffliche Menschen. Thargela unbedingt berechtigt, sich zu flüchten, wohin es ihr beliebt, und zu ehelichen, wen sie wünscht, nachdem ich, der Corregidor, dazu Genehmigung erteilt. So lautet das Gesetz. Meine Genehmigung kann aber nur erfolgen, nachdem Thargela – entweder persönlich und mündlich oder durch ein beglaubigtes Schriftstück – darum nachgesucht hat.

– Hier ist das verlangte Schriftstück, sagte Joachimo lebhaft, während er dem Corregidor ein Blatt Papier übergab.

– Gut,« knurrte der Beamte. Dann ergriff er eine Feder und kritzelte einen seltsamen Schnörkel unter seinen Namen auf ein gedrucktes Formular. »Heute am 22, Trauung am 25. – Ich bestimme dazu Don Pablo Terraro an der Kirche San Antonio.«

Der Corregidor erhob sich und zog heftig an einer Klingelschnur. Auf dieses Signal traten zwei Polizisten in das Bureau des Beamten.

»Meine Herren... Guten Abend! sagte er noch kurz, und gleich darauf befanden sich die Drei wieder auf der Straße.

– Na, diese Angelegenheit wäre ja geordnet, mein wackrer Joachimo, sagte Morgan zu diesem. In drei Tagen heiratet Ihr Eure Thargela!

– O, meine Herren, meine Herren, wie kann ich Ihnen danken? rief Joachimo, der den hilfreichen Freunden mit herzlicher Wärme die Hände drückte.

– Indem Ihr Eure Frau glücklich macht, erwiderte Morgan lachend. Was werdet Ihr aber nun bis zum Trauungstage beginnen?[147]

– Ich? fragte Joachimo verwundert.

– Ja, Ihr. Habt Ihr denn nichts von den Besessenen des heutigen Nachmittags zu fürchten?

– Bah! rief sorglos der junge Mann, indem er seine beiden Arme zeigte, ich habe ja noch die hier!«

Und eine muntere Tanzmelodie pfeifend, verlor er sich in den dunkeln Straßen der Hauptstadt von San Miguel.

Quelle:
Michel Verne: Das Reisebüro Thompson und Comp. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XCI–XCII, Wien, Pest, Leipzig 1909, S. 136-145,147-148.
Lizenz:

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