Zehntes Kapitel.

In Quarantäne.

[403] Wahrlich, das Unglück verfolgte sie, die vielgeprüften Kunden der Agentur Thompson! Ja, eine mörderische Epidemie wütete auf São-Thiago und hatte seit einem Monat jede Verbindung der Insel mit der übrigen Welt unterbrochen. Tatsächlich herrschte ja ein schlechter Gesundheitszustand sozusagen normalerweise auf der Insel, die mit Recht den Namen »Die Todbringende« erhalten hat, wie das Morgan seinen Gefährten vor dem Verlassen der Salzinsel schon gesagt hatte. Das Fieber ist hier epidemisch und fordert auch in normalen Zeiten zahlreiche Opfer.

Die Krankheit erwies sich diesmal aber außergewöhnlich ansteckend und hatte einen so gefährlichen Charakter angenommen, wie er ihr sonst nicht eigen ist. In Anbetracht der Verwüstungen, die sie anrichtete, war der Gouverneur doch etwas besorgt geworden, und um das Übel mit der Wurzel auszurotten, hatte er sich zu den strengsten durchgreifenden Maßregeln entschlossen.

Die ganze Insel wurde auf höhern Befehl mit einem unverletzlichen Interdikt belegt. Wohl blieb es den Schiffen auch ferner erlaubt, in den Hafen einzulaufen, doch nur unter der Bedingung, hier bis zu dem nicht abzusehenden Ende der Epidemie und der Quarantäne liegen zu bleiben. Es versteht sich von selbst, daß die Paketboote und die Schiffe der langen Fahrt eine solche Sackgasse vermieden, und wirklich war vor der Ankunft der Thompsonschen Reisegesellschaft schon seit dreißig Tagen kein einziges Fahrzeug in die Bai eingelaufen.

Hiermit erklärte sich ja das Zögern der Fischer von der Salzinsel, als sie von der Absicht hörten, daß die Fahrt nach São-Thiago gehen sollte, und[403] ebenso ihre übereilte Flucht nach der nächtlichen Landung fern von der Stadt und an einer ungewöhnlichen Stelle. Wie die Dinge aber einmal lagen, wollten sie sich durch übertriebene Skrupel den Lohn für die Beförderung der Fremden nicht entgehen lassen, sich aber auch nicht lange Zeit von ihren Angehörigen und ihrer Heimat ferngehalten sehen.

Die Passagiere waren ja nun auf dem Lande; wie lange aber würden sie auf der so schwer heimgesuchten Insel bleiben müssen?

Da hiergegen aber nichts zu machen war, mußten sie sich eben mit ihrer Lage abfinden und warten und warten, wobei jeder die Zeit auf seine Weise totschlug.

Die einen, wie Johnson und Piperboom, hatten einfach ihr gewohntes Leben wieder aufgenommen und befanden sich dabei vortrefflich. Ein Restaurant für den einen und ein Speisehaus für den andern, mehr bedurfte es zu ihrem Glück nicht. An beiden Erquickungsstätten fehlte es aber in La Praya keineswegs.

Ihre Gefährten fanden freilich derartige Annehmlichkeiten der ihnen vom Schicksal diktierten Gefangenschaft nicht. Völlig niedergeschmettert und hypnotisiert von dem Schrecken einer möglichen Ansteckung, blieben die meisten Tag und Nacht in ihren Zimmern und wagten nicht einmal die Fenster zu öffnen. Diese Vorsichtsmaßregeln schienen sich zu bewähren. Nach acht Tagen war noch keiner von ihnen erkrankt. Dafür starben sie aber beinahe vor Langerweile und sehnten sich nach endlicher Erlösung, für die doch noch kein Zeitpunkt vorauszusehen war.

Andre erwiesen sich energischer. Unbekümmert um den Verlauf der so unheilschwangern Epidemie, trugen sie dieser nicht im geringsten Rechnung. Unter den Mutigen waren die beiden Franzosen und die beiden Amerikanerinnen. Sie hielten mit Recht die entnervende Furcht für gefährlicher als das Übel selbst. In Gesellschaft Bakers – der eigentlich wünschte, hübsch krank zu werden, um einen weitern Vorwand zur Klage über seinen Rivalen zu bekommen – gingen sie einfach aus, hierhin und dorthin, wie sie es in London oder in Paris getan hätten.

Seit der Ankunft in São-Thiago hatten sie Jack Lindsay kaum einmal gesehen; der führte sein gewohntes eingezogenes und einsames Leben auch hier in gleicher Weise weiter. Alice, die von ganz andern Sorgen eingenommen war, dachte kaum noch an ihren Schwager. Trat ihr zuweilen sein Bild vor die Augen, so suchte sie es zu verscheuchen und, jetzt darüber weniger erregt[404] als früher, baldigst zu vergessen. Das Abenteuer im Curral das Freias erblaßte schon in der Vergangenheit und verlor seine frühere Bedeutung. An die Wiederholung einer solchen Freveltat konnte sie gar nicht glauben, seitdem sie sich unter Morgans Schutz so wohltuend sicher fühlte.

In der Erinnerung an die ihm auf Gran Canaria gelegte Falle dachte dieser dagegen oft an seinen Feind, der ihn, seiner Überzeugung nach, damit schon einmal zu schädigen versucht hatte. Die jetzige Untätigkeit des Gegners beruhigte ihn nur halb; er wachte mit derselben Sorgfalt, die ihn eine dumpfe Unruhe nicht aus den Augen setzen ließ.

Jack sann in der Tat auf Böses wie bisher. Sein verbrecherisches Verhalten bei dem Vorgange im Curral das Freias war ja keineswegs vorher überlegt gewesen, sondern nur die Folge einer sich zufällig bietenden Gelegenheit; und doch hatte das Mißlingen jenes ersten Versuches seinen anfänglichen Ärger darüber jetzt in tödlichen Haß verwandelt. Nach dem erfolgreichen Eingreifen Morgans hatte sich dieser, aus Furcht vor dem jungen Manne, noch verdoppelt und gleichzeitig sein natürliches Ziel vertauscht. Einen Augenblick wenigstens hatte Jack Lindsay wegen des Dolmetschers der »Seamew« seine Schwägerin fast ganz vergessen, als er jenem eine Falle stellte, der er, hätte er damals den andern Weg eingeschlagen, sicherlich entgangen wäre.

Der hartnäckige Widerstand Morgans, das heroische Dazwischenfahren des Mr. Blockhead, hatte seinen Plan scheitern lassen.

Seitdem machte Jack keinen Unterschied mehr zwischen seinen beiden Feinden. Er haßte Alice und Morgan gleich heftig und nur noch grimmiger seit den Mißerfolgen, die ihm beschieden gewesen waren.

Wenn er jetzt untätig war, lag das nur an der steten Wachsamkeit Morgans. Sobald sich eine passende Gelegenheit böte, würde Jack in seiner Gewissenlosigkeit und in dem Verlangen, nicht der Unterlegne zu bleiben, keinen Augenblick gezaudert haben, sich der beiden endgültig zu entledigen, der zwei Menschen, deren Tod ihm sowohl Rache gewährt als auch ein Vermögen gesichert hätte.

Immer stieß er aber auf die hartnäckige Aufmerksamkeit Morgans, und von Tag zu Tag sank seine Hoffnung weiter, eine passende Gelegenheit in der volkreichen Stadt zu finden, die die zwei Franzosen und die zwei Amerikanerinnen mit einer Sorglosigkeit durchstreiften, welche ihn nur noch mehr aufbrachte.[405]

Die Stadt La Praya hat einem beschäftigungslosen Touristen leider nicht viel zu bieten. Eingepfercht zwischen zwei Tälern, die erst am Meere in zwei flachen Gestaden ausmünden, dem »Schwarzen Gestade« im Westen und dem »Großen Gestade« – demselben, an dem die Landung erfolgt war – im Osten, ist sie auf einer »Archada« erbaut, d. h. auf einem Lavafelde, das von den Ausflüssen vier- bis fünftausend Meter hoher, am nördlichen Horizont noch sichtbarer Vulkane herrührt. In einer steilen Uferwand etwa von vierundzwanzig Metern Höhe reicht eine Art Sporn dieses Plateaus bis zum Meere, der hier die beiden genannten und mit der Stadt durch steil aufsteigende Wege verbundenen Gestade voneinander trennt.

Der rein afrikanische Charakter, der der Stadt La Praya in höherm Grade eigen ist als den andern Bevölkerungszentren des östlichen Archipelteiles, bildet in den Augen europäischer Reisender deren einzige Merkwürdigkeit. Ihre von Schweinen, Geflügel und Affen wimmelnden Straßen mit niedrigen, in schreienden Farben angestrichenen Häusern, die Negerhütten der Vorstädte, ihre schwarze Bevölkerung mit einer nicht unbedeutenden weißen, meist aus Beamten bestehenden Kolonie dazwischen, alles das bietet ja ein originelles und neues Bild.

Nach einigen Tagen findet jedoch der von diesem Exotismus übersättigte Tourist nur wenig Unterhaltung in dieser Stadt von viertausend Einwohnern.

Sobald er das europäische Viertel mit seinen breiten, von dem großen »O Pelourinho«-Platze ausstrahlenden Straßen durchstreift, die Kirche und den Regierungspalast gesehen hat, die einander auf einem andern Platze näher dem Meere gegenüberstehen, und sobald er etwa noch das Rathaus, das Gefängnis und das Gerichtsgebäude besichtigt hat, ist es mit den hiesigen Sehenswürdigkeiten zu Ende. Dann könnte er ruhig die Augen geschlossen halten, dann belauert ihn eine trostlose Langeweile.

Das sollten die zwei Franzosen und ihre Begleiterinnen auch bald erfahren. Sie empfanden das, abgesehen von der Langenweile, wo ihnen Kopf und Herz so voll waren, wenigstens als eine verhältnismäßige Erleichterung. Allmählich wurden die Spaziergänge durch längeres Verweilen auf dem Sande des Uferlandes abgelöst, wo das Meer vor ihnen lag, das sie doch nicht forttragen sollte, wo der regelmäßige Anprall der Wellen das Stillschweigen Alicens und Morgans einwiegte und gleichzeitig das lustige Geplauder Rogers und Dollys begleitete. Diese beiden waren in jedem Falle von melancholischen Anwandlungen verschont geblieben. Kein Unfall, ebensowenig wie der Untergang der[406] »Seamew« oder die gegenwärtige Quarantäne, hatte ihre Heiterkeit zu dämpfen vermocht.

»Was meinen Sie denn, erklärte Roger wiederholt, die Geschichte amüsiert mich, ja mich, Kapverdier – welch famoser Name! – zu sein. Miß Dolly und ich, wir gewöhnen uns schon an den Gedanken, auch noch zu Negern zu werden.

– Aber das Fieber? warf Alice ein.

– Welche Aufschneiderei! gab Roger zurück.

– Und der Ablauf Ihres Urlaubes?

– Höhere Gewalt, antwortete der Offizier.

– Doch Ihre Familie, die Sie in Frankreich zurückerwartet?

– Meine Familie? Ich habe meine Familie hier!«

Im Grunde war Roger jedoch sicherlich weniger ruhig, als er es scheinen wollte. Wie hätte er auch nicht ängstlich an die Gefahr denken sollen, der seine Begleiterinnen und er selbst jeden Tag in diesem verpesteten Lande und in dieser Stadt mit ihrer dezimierten Bevölkerung ausgesetzt waren? Er gehörte aber zu den glücklichen Naturen, die es vermeiden, sich die Gegenwart durch die Furcht vor der Zukunft zu verderben. Das Leben hier entbehrte ja in seinen Augen nicht eines gewissen Reizes. In São-Thiago hätte es ihm trotz allem gefallen, wenn er da nur in dem traulichen Verhältnis zu Dolly wie bisher weiterleben konnte. Zwischen den beiden war zwar das entscheidende Wort noch nicht gefallen, sie waren aber einander sicher. Ohne es je ausgesprochen zu haben, sahen sie sich als Verlobte an.

Auch ihr gegenseitiges Verhalten hatte nichts Geheimnisvolles an sich. Man konnte in ihrer Seele wie in einem Buche lesen, und niemand konnten die Gefühle unbemerkt geblieben sein, die die beiden einander zu offenbaren für überflüssig gefunden hatten.

Mrs. Lindsay, eine mehr als die andern hieran interessierte Zuschauerin, schien sich wegen dieser Lage der Dinge keine besondern Gedanken zu machen. Sie gestattete ihrer Schwester dieselbe amerikanische Freiheit, der sie selbst sich, vorzüglich als junges Mädchen, gerne erfreut hatte und der sie ihr – leider kurzes – Eheglück verdankt hatte. Sie vertraute der offenherzigen und jungfräulichen Natur Dollys, und Roger gehörte zu den Männern, die, ebenso sicher wie sie atmeten, Vertrauen einflößten. Alice ließ der Idylle also ihren Lauf, überzeugt, daß sie, wie der logische und vorherzusehende Ausgang einer einfachen Erzählung, mit einer Heirat enden würde.[407]

Ach, wenn in ihrer Seele doch dieselbe ruhige Zuversicht gewohnt hätte! Zwischen ihr und Robert Morgan dauerte das etwas merkwürdige Mißverständnis noch immer fort. Eine falsche Scham ließ die Worte auf ihren Lippen erstarren, und je mehr die Zeit verging, desto mehr entfernten sich beide von einer bestimmten, freimütigen Erklärung, die ihnen doch allein den Frieden des Herzens wiedergeben konnte.

Auch ihr gegenseitiges äußerliches Verhältnis litt unter dieser moralischen Unruhe. Sie flohen vor einander nur nicht, weil ihnen das kaum möglich war. Doch wenn sie sich durch eine unbezwingliche Gewalt zueinander hingezogen fühlten, so empfanden sie, sobald sie sich Auge in Auge gegenüberstanden, es doch deutlich, daß sich zwischen ihnen eine Schranke erhob, die der edle Stolz des einen und ein bedrückendes Mißtrauen des andern errichtet hatte. Ihre Herzen krampften sich dabei zusammen, und sie wechselten nur kalte Worte aus, die das traurige Quiproquo weiterbestehen ließen.

Roger stand diesem heimlichen Kriege entmutigt gegenüber. Er hatte sich die Folgen von dem Tête-à-tête auf dem Gipfel des Teyde ganz anders vorgestellt. Warum hatten sie da einander nicht auf einmal und für immer das Herz ausgeschüttet, wo sie doch so nahe daran gewesen sein mußten, und das umgeben von einer Natur, deren Großartigkeit im Verhältnis zu dem, was sie bedrückte, doch die sentimentale Schamhaftigkeit der einen ebenso wie den krankhaften Stolz des andern hätte besiegen müssen? Alle diese Schwierigkeiten, die er für etwas kindisch hielt, konnte der Offizier bei seiner geraden Natur nicht anerkennen, er, der auch als König eine Bettlerin und als Bettler eine Königin geliebt hätte, ohne das zu verschweigen.

Nach weitern acht Tagen dieses stillen und unentschiedenen Streites erschien ihm das Schauspiel ganz unerträglich, und er beschloß, dem mit einem Schlage ein Ende zu machen. Unter irgendeinem Vorwande veranlaßte er seinen Landsmann, ihm nach dem eben ganz menschenleeren Großen Gestade zu folgen, und hier drängte er ihn, auf einem Steinblocke sitzend, zu einer entscheidenden Erklärung.

An diesem Morgen war Mrs. Lindsay allein ausgegangen. Die Entscheidung, die Roger seinem Landsmanne abzuzwingen beabsichtigte, wollte sie, soweit sie sie betraf, für sich allein treffen, und ihrem eignen Willen ohne Scheu nachgebend, hatte sie sich ein wenig vor den beiden Freunden auch nach dem Großen Gestade begeben, dessen Einsamkeit ihr jetzt besonders zusagte.[408] Durch das Gehen auf dem Sande bald ermüdet, setzte sie sich auf der Stelle, wohin der Zufall sie geführt hatte, nieder und verfiel im Anblick des Meeres, das Kinn in die Hand gestützt, in ein tiefes Träumen. Da weckte ein Geräusch sie aus ihrem Nachsinnen. Zwei Personen sprachen miteinander auf der andern Seite des Felsblocks, worauf sie sich niedergelassen hatte, und an den Stimmen erkannte sie Roger de Sorgues und Robert Morgan.

Anfänglich wollte sie sich gleich zeigen, was sie aber hörte, verhinderte sie daran. Mrs. Lindsay lauschte erregt.
[409]

Mrs. Lindsay lauschte erregt. (S. 409.)
Mrs. Lindsay lauschte erregt. (S. 409.)

Morgan war seinem Landsmanne mit derselben Gleichgültigkeit gefolgt, die er auch vielen andern Dingen gegenüber an den Tag legte. Er ging so weit mit, wie Roger gehen wollte, und setzte sich, als Roger den Wunsch zu sitzen aussprach. Dieser kannte aber hinlänglich das Mittel, die Aufmerksamkeit seines indolenten Begleiters zu erwecken.

»Uff! stöhnte der Offizier stehen bleibend, in diesem verwünschten Lande ist es ja unerträglich warm! Ich glaube, ein kleines far niente wird uns gut tun. Wie denken Sie darüber, Gramon?

– Gramon...?« wiederholte Alice höchst erstaunt an der andern Seite des Felsblocks.

Morgan antwortete nur durch ein leichtes Kopfnicken und folgte schweigend der Einladung Rogers.

»Ach, den Kuckuck! stieß dieser hervor, bleiben wir denn noch lange hier?

– Danach dürfen Sie mich nicht fragen, gab Morgan mit flüchtigem Lächeln zur Antwort.

– Das war auch nicht meine Absicht, erwiderte Roger, denn der Aufenthalt auf dieser Grünen Vorgebirgsinsel – ein hübscher Name! – hat für niemand etwas Verführerisches, er muß vorzüglich für Mistreß Lindsay und für Sie höchst unangenehm sein.

– Warum das? fragte Morgan.

– Wollen Sie etwa das Geständnis leugnen, das Sie mir an jenem Abend abgelegt haben, wo wir an der Küste der Kanarischen Inseln waren?

– Nun und nimmermehr, versicherte Morgan. Ich verstehe nur nicht...

– O, der Fall liegt ja ganz klar, unterbrach ihn Roger. Da Sie Mistreß Lindsay noch immer lieben... denn Sie lieben sie doch, nicht wahr?

– Gewiß! bestätigte Morgan diese Frage.

– Sehr schön!... Ich wiederhole also: Da Sie Mistreß Lindsay ins Herz geschlossen haben und anderseits beschlossen zu haben scheinen, ihr das nicht zu gestehen, so komme ich auf meine Worte zurück und behaupte, der Aufenthalt auf diesem afrikanischen Felsen kann weder für die Dame noch für Sie etwas Verlockendes haben. Man braucht ja Sie beide nur zu sehen. Sie sehen aus, als hätten Sie die Butter vom Brote verloren; kaum daß Sie einmal den Mund auftun. Mit Erlaubnis gesagt, Sie sehen beide so aus wie zwei Katzen, von denen keine die Kastanien aus dem Feuer holen mag. Bemerken Sie[410] denn gar nicht, was so klar vor Augen liegt, daß Mistreß Lindsay sich zu Tode langweilt und daß ihr ein glühendes Geständnis weit lieber wäre?

– Mein lieber de Sorgues, sagte Morgan mit leise bebender Stimme, ich begreife nicht, wie Sie über solche Dinge noch scherzen können. Sie, der Sie meine Gedanken kennen, der Sie über meine Lage unterrichtet sind und wissen, welche Gewissensfragen diese mir auferlegt...

– Halt, halt! fiel Roger ein, den diese Antwort wenig berührte, das hindert doch alles nicht, daß es unerträglich ist, Sie sich und andern zum Vergnügen als den Unglücklichen aufspielen zu sehen, während das doch – Sie wissen es ja selbst – so leicht zu ändern wäre.

– Ja, was meinen Sie denn, daß ich tun sollte? fragte Morgan.

– Lieber Gott, guter Freund, da kann ich Ihnen kaum einen Rat erteilen. In einem solchen Falle handelt jeder nach seinem Temperamente. Warum sind Sie nur jetzt nicht mehr Sie selbst? Heiter, liebenswürdig und liebevoll, da Sie ja selbst lieben? Das übrige folgt dann von allein. Sehen Sie doch uns an, Miß Dolly und mich. Gleichen wir etwa verschmachtenden Liebesleutchen?

– Sie sprechen, wie Sie es leicht können, bemerkte Morgan bitter.

– Zugegeben, sagte Roger. Nun gut, gehen Sie kühn aufs Ziel los. Verbrennen Sie hinter sich Ihre Schiffe. Wenn wir heute zurückgekehrt sind, so fallen Sie Mistreß Lindsay an, wie man zum Sturme reitet, und erklären Sie ihr alles ohne Umschweife und Ziererei. Zum Teufel, sterben werden Sie ja daran nicht!... Da werden Sie schon hören, was sie Ihnen antwortet.

– Die Antwort würde mich, wie sie auch ausfallen möchte, nicht erschrecken, wenn ich mich nur berechtigt fühlte, die Frage zu stellen.

– Doch warum? Wegen der dummen Vermögensangelegenheit? Ach, legen Sie doch darauf kein solches Gewicht, rief Roger, der dabei einen Fingernagel zwischen seinen Zähnen knacken ließ, das macht doch nicht den geringsten Unterschied! Sind Sie denn übrigens nicht in der Lage, dafür einen Ausgleich zu bieten? Mögen Sie sich jetzt hinter einem falschen Namen verstecken, der Marquis von Gramon werden Sie doch wieder in dem Augenblicke, wo Sie es wünschen, und solche Marquis von Gramon laufen, so viel ich weiß, nicht in allen Straßen und Gassen umher.«

Morgan erfaßte die Hand seines Landsmannes.

»Was Sie da sagen, lieber de Sorgues, ist ja ein weiterer Beweis Ihrer warmen Freundschaft. Doch glauben Sie mir, es ist besser, über diesen Gegenstand[411] zu schweigen. Sie würden meine Anschauungen darüber doch nicht ändern können. Ich weiß recht gut, daß der Tausch, den Sie im Sinne haben, allgemein als zulässig gilt, mir sagt aber ein solcher Handel einmal nicht zu.

– Handel, Handel! Das ist ja leicht gesagt, murrte Roger, ohne sich zu ergeben. Worin soll ein Handel liegen, da Ihnen doch ein Gedanke an einen persönlichen Vorteil gänzlich fern liegt?

– Ja, aber Mistreß Lindsay weiß das nicht... sie nicht. Das ist der springende Punkt.

– Nun, alle Tod und Teufel, so nehmen Sie sich doch die Mühe, die Dame davon zu überzeugen. Wie das auch ausfallen mag, besser ist es allemal, als daß Sie sich unglücklich machen... ohne von Mistreß Lindsay zu sprechen.

– Von Mistreß Lindsay? wiederholte Morgan. Ich weiß ja gar nicht...

– Ob auch diese Sie vielleicht liebt? unterbrach ihn Roger. Haben Sie denn nie daran gedacht, daß sie sich nicht zuerst darüber erklären kann?

– Diesen Einwurf haben Sie mir schon zweimal zu hören gegeben, antwortete Morgan etwas traurig. Das sieht aus, als ob Sie ihn für sehr wichtig hielten. Ja, wenn Mistreß Lindsay mich liebte, das würde die Lage der Dinge natürlich ändern. Mistreß Lindsay liebt mich aber nicht, und ich habe auch nicht den Dünkel, daß das jemals der Fall sein könne, da ich doch nichts tue, ihr ein solches Gefühl zu erwecken.

– Nun ja, das mag ja so sein, aber... murmelte Roger halb für sich.

– Was sagten Sie?

– Ach, nichts; höchstens, daß Sie mit völliger Blindheit geschlagen sein müssen, wenn Sie nicht vorsätzlich blind sind. Übrigens hat mich Mistreß Lindsay nicht beauftragt, Sie zu belehren, was Sie selbst sehen sollten. Doch nehmen wir einmal an, sie hätte die Gefühle, die ich bei ihr vermute, wäre es dann für Sie nötig, daß sie es Ihnen selbst gestände, damit Sie es glauben lernten?

– Auch das würde vielleicht nicht genügen, antwortete Morgan ruhig.

– Wie, rief Roger, auch dann würden Sie noch die Stirn haben, daran zu zweifeln?

– Äußerlich dürfte mir das wohl unmöglich sein, sagte Morgan trübsinnig, im Herzen würde ich aber doch noch immer eine grausame Angst fühlen. Mistreß Lindsay ist – oder sie glaubt es wenigstens – mir zu einigem Danke verpflichtet, und für Seelen, wie die ihrige, sind solche Schulden heiliger als andre. Ich würde also immer denken, daß ihre Liebe nichts andres sein[412] konnte, als die zarte Verkleidung eines sie bedrückenden Gefühles von Erkenntlichkeit.

– Ein unverbesserlicher Starrkopf! rief Roger, der seinen Freund höchst verwundert ansah Ich gestehe, daß ich es nicht verstände, so gegen mein Glück zu streiten. Ihre bleierne Zunge leichter zu machen, dazu wird wohl das Ende der Reise notwendig sein. Vielleicht wird dann der Schmerz, Alice für immer zu verlieren, sich stärker erweisen als Ihr Stolz.

– Ich glaube es nicht, erklärte Morgan.

– O, das wird sich schon zeigen, schloß Roger, der schon aufstand, das Gespräch. Für den Augenblick erkläre ich, daß unsres Verbleibens hier nicht länger sein kann. Ich suche sofort den Kapitän Pip auf und denke mit ihm ein Mittel auszuklügeln, daß wir uns, wie man sagt, französisch drücken können. Was zum Teufel, draußen auf der Reede liegen ja Schiffe, und was die portugiesischen Festungswerke angeht, sind die schon zu einem alltäglichen Spaß geworden.«

Die beiden Franzosen entfernten sich nach der Stadt zu, und Alice folgte ihnen mit den Blicken. Auf ihrem Gesichte waren die Spuren heimlichen Kummers verwischt. Sie kannte ja nun die Wahrheit, die Wahrheit, die sie freudiger stimmte. In Zukunft konnte sie nicht mehr zweifeln, geliebt zu sein, geliebt, wie ein Weib sich das nur ersehnen konnte: um ihrer selbst willen, ohne daß ein ungehöriger Gedanke die Reinheit dieses Gefühles trübte.

Eine noch größere Freude war es ihr, daß sie nun den Zwang ablegen konnte, der so lange lähmend auf ihr gelastet hatte. Sicherlich hatte sie die Aufklärungen nicht erwartet, die sie eben vernommen hatte, um sich zu Robert Morgan hingezogen zu fühlen, um nicht schon nach dessen Erscheinung und Auftreten sicher zu sein, daß dieser ein Geheimnis von der Art bewahre, wie es ihr jetzt auf ungewöhnliche Weise verraten worden war. Immerhin üben die Vorurteile der Menschen doch einen so mächtigen Einfluß aus, daß die warme Zuneigung, die sie erfüllte, ihr eigentlich mehr Kummer als Freude bereitet hatte. Den Dolmetscher-Cicerone der »Seamew« zu lieben, selbst wenn er hundertmal Professor war, damit hätte sich die steinreiche Amerikanerin gesellschaftlich doch gar zu sehr erniedrigt gefühlt, und seit der Abfahrt von Madeira hatte der Kampf zwischen ihrem Stolz und ihrem Herzen sie fortwährend mit sich selbst und mit andern unzufrieden gemacht.

Jetzt war die Lage einfacher geworden: beide standen einander gleich.[413]

Der einzige Punkt, der noch eine zarte Behandlung erforderte, war der, die etwas übertriebenen Bedenklichkeiten Morgans zu überwinden. Darum machte sich Alice jedoch nicht zuviel Sorge. Sie wußte recht gut, welche Kraft der Überredung eine liebende und geliebte Frau von Natur besitzt. Im übrigen war diese Insel nicht der Ort für die entscheidenden Worte. Ehe dieser Tag kam, konnte Alice ja in einer oder der andern Weise ihre Dankesschuld abgetragen und auch in den Augen Roberts die völlige Unabhängigkeit ihres Herzens wieder erlangt haben.

Roger tat, wie er gesagt hatte. Er besprach auf der Stelle mit dem Kapitän seinen Plan, zu entfliehen, und es braucht nicht erst gesagt zu werden, daß der alte Seemann mit Eifer auf diesen Gedanken einging. Sicher war alles andre besser, als auf dieser verwünschten Insel zu verschimmeln, wo er, wie er sagte, »landkrank« würde. Er wünschte nur, Thompson und die andern Passagiere ins Vertrauen gezogen zu sehen, und das war recht und billig genug, so daß Roger sich dem nicht widersetzen konnte.

Der Gedanke fand einstimmigen Beifall. Die einen waren des zu häufigen Besuches der Stadt überdrüssig, die andern erschreckt durch die vielen Leichenzüge, die an ihren Fenstern vorüberkamen, alle aber waren am Ende ihres Mutes und ihrer Geduld.

Die Meinung zweier Passagiere war überflüssig zu hören. An Bord des spätern Schiffes würde jedenfalls Überfluß an Speisen und Getränken vorhanden sein. Was hätte es also nützen können, Johnson und Piperboom um ihre Ansicht bezüglich der Flucht erst zu fragen?

Nachdem man sich für diese entschieden hatte, galt es, sie ins Werk zu setzen.

Wenn auf der Reede, wie Roger behauptete, wirklich Schiffe verankert lagen, so waren es deren doch nur wenige. Und alles in allem sahen drei dort liegende Segelfahrzeuge von siebenhundert bis tausend Tonnen für den Kenner recht mitgenommen und schadhaft aus. Alle wirklich seetüchtigen Schiffe waren jedenfalls vor der Verhängung der Quarantäne schon abgefahren, und im Hafen hatte man nur die außer Dienst gesetzten zurückgelassen.

Außerdem durfte man nicht aus dem Gesicht verlieren, daß die Abfahrt, wenn sie überhaupt möglich wurde, unbemerkt erfolgen mußte. Wie sollte man aber die Einschiffung etwa von hundert Personen, ebenso wie die der Nahrungsmittel und alles für eine so große Zahl Passagiere notwendigen Materials verheimlichen können?[414]

Das war noch eine schwierige Aufgabe. Der Kapitän Pip versprach aber, sie zu lösen und man erteilte ihm dazu unbeschränkte Vollmacht.

Wie er das ausführen wollte, verriet er nicht. Tatsächlich besaß er aber schon am Morgen des nächsten Tages eine reiche Ernte näherer Aufschlüsse, die er nun seinen auf dem Schwarzen Gestade versammelten Gefährten und vor allem Thompson mitteilte, dem ja bezüglich der Heimbeförderung die wichtigste Rolle zufiel.

Von drei auf der Reede verankerten Schiffen waren zwei höchstens noch gut, zu Brennholz, und auch nur noch zu schlechtem, setzte der Kapitän hinzu, zerhackt zu werden. Das letzte, »Santa-Maria« mit Namen, war sicherlich ein altes und schon stark abgenutztes Fahrzeug, zur Not aber noch einmal zu gebrauchen. Man konnte sich ihm ohne gar zu schreiende Unklugheit also wohl für eine ja nur kurze Fahrt anvertrauen.

Nachdem der Kapitän dieses Schiff innen und außen, von oben bis unten besichtigt hatte, wagte er, bei dessen Reeder das Terrain zu sondieren, und hier fand er überraschend leichte Arbeit. Da die Quarantäne allen Handel der Insel auf unbestimmte Zeit lahm legte, war der Reeder sofort bereit, auf die Vorschläge des Kapitäns einzugehen. Es ließ sich also erwarten, daß man mit ihm zu annehmbaren Bedingungen einen Vertrag abschließen könnte.

Bezüglich weitrer noch zu fassender Entschlüsse wollte der Kapitän sich jedes Ratschlages enthalten. Er beabsichtigte auch nicht zu verschweigen, daß immerhin einige Gefahr damit verbunden sei, sich unter den gegebenen Verhältnissen einzuschiffen, wenigstens im Fall stürmische Witterung eintreten sollte. Es wäre also die Sache jedes Reisenden, sich für das Risiko zu entscheiden, das er für geringer hielt: die Gefahren von der Krankheit oder die des Meeres.

In bezug auf die zweiten bemerkte der Kapitän nur noch, daß diese bedeutend vermindert würden, wenn die Reisenden zustimmten, den Golf der Gascogne zu vermeiden, indem man in einem Hafen Portugals oder Spaniens ans Land ginge. Dann verliefe der größte Teil der Fahrt im Gebiete der Passate, wo grobes Wetter sehr selten wäre. Endlich empfahl der Kapitän in seinem eignen Namen, möglichst bald abzufahren, da er das mögliche Ertrinken dem gewissen Tode durch die hiesige Krankheit oder durch Langeweile doch entschieden vorzöge.

Die Verhandlung hierüber dauerte nicht lange. Einstimmig und auf der Stelle erklärten sich die Anwesenden für die schleunigste Abfahrt, und der Kapitän[415] erhielt den Auftrag, die dazu nötigen Vorbereitungen zu treffen. Dieser nahm das Mandat an und verpflichtete sich, vor Ablauf von vier Tagen, und ohne Argwohn erweckt zu haben, mit allem fertig zu sein.

Vorher galt es natürlich noch, mit dem Eigentümer des Schiffes ein Übereinkommen zu treffen, und diese Sorge fiel Thompson zu. Man konnte den General-Unternehmer aber an allen Ecken und Enden suchen, Thompson war und blieb gerade, wo man ihn brauchte, verschwunden.

Nachdem die Touristen ihrer Entrüstung darüber ohne Scheu Luft gemacht hatten, beschlossen sie, einem von ihnen die Befugnisse des General-Abtrünnigen zu übertragen und diesen zum Reeder zu entsenden, mit welchem er zu einem möglichst günstigen Abschluß zu kommen suchen sollte. Natürlich fiel die Wahl auf Baker, dessen geschäftliche Erfahrungen, und vorzüglich in derartigen Angelegenheiten, ihn von vornherein zum Unterhändler bestimmten.

Zwei Stunden später war dieser wieder zurück.

Er hatte sich mit dem Reeder verständigt; der Vertrag mit ihm war aufgesetzt und unterzeichnet. Nach einigem Hin- und Herreden hatte man sich über eine Summe von sechstausend Francs geeinigt, mit der Berechtigung, das Schiff bis nach Europa zu benützen. Der Reeder sollte nur noch die geeigneten Schritte tun, sein Verfügungsrecht über das Schiff vorläufig offiziell aufzugeben, über dessen Rückkehr keine besondern Abmachungen zu treffen nötig waren. Wegen der Besatzung brauchte man sich auch keine Sorge zu machen: Offiziere und Mannschaften der »Seamew« waren bereit, ihren Dienst ohne andre Entschädigung als freie Reise und Verpflegung wieder anzutreten, und ebensowenig über die Takelage der »Santa-Maria«, deren Segel alle angeschlagen waren. Bei dieser handelte es sich nur um einzelne Veränderungen im Innern, um eine so große Zahl von Passagieren in der gemeinschaftlichen Kajüte und im Zwischendeck unterzubringen, sowie hinreichenden Proviant für eine einmonatliche Reise verstauen zu können. In dieser Beziehung würde man vom Reeder der »Santa-Maria« erfolgreich unterstützt werden, denn er hatte versprochen, die notwendigen Veränderungen unter irgendwelchem Vorwande von seinen eignen Arbeitern ausführen zu lassen und ebenso ganz unbemerkt alle Lebensmittel zu liefern, die die englischen Seeleute in der Nacht an Bord befördern sollten.

Als diese Abmachungen von allen gutgeheißen waren, trennte sich die Gesellschaft und der Kapitän ging sofort an die Arbeit.[416]

Vier Tage mußte man sich freilich noch in Geduld fassen. Unter gewöhnlichen Umständen ist das ja nicht gerade viel. Vier Tage kommen einem aber unendlich lang vor, wenn sie sich an acht schreckliche und langweilige Tage anschließen.

Diese vier Tage wurden nun wie die vorhergegangenen hingebracht, die einen hielten sich in ihren Zimmern verrammelt, gewisse andre – welche, ist ja leicht zu erraten – weideten sich an ununterbrochenen Schmausereien, und die übrigen unternahmen Spaziergänge, in die sie, soweit es möglich war, einige Abwechslung zu bringen suchten.

Ohne mehr als früher von Jack Lindsay, der meist unsichtbar blieb, belästigt zu werden, streiften Mrs. Lindsay und ihre gewohnten Begleiter in der Umgebung La Prayas umher. Alice schien ihr glückliches Gleichgewicht der ersten Reisetage wiedergefunden zu haben. Unter dessen wohltätigem Einfluß gestalteten sich diese Spaziergänge zu ebenso vielen erfreulichen und belebenden kleinen Ausflügen.

An entferntere solche, etwa ins Innere der Insel, die nur von vereinzelten und obendrein sehr schlechten Straßen durchschnitten wird, war gar nicht zu denken. Die unmittelbaren Umgebungen von La Praya waren dagegen leichter zugänglich, und die vier Touristen durchstreiften sie nach allen Richtungen.

Ein voller Tag wurde der Stadt Ribeira Grande gewidmet, der alten Hauptstadt der Insel und des ganzen Archipels, die 1712 von den Franzosen zerstört worden war. Ribeira Grande, das übrigens noch ungesunder ist als La Praya, hat sich seit jener Zeit nicht wieder aus seinen Ruinen erheben können, seine Bevölkerung ist ununterbrochen im Abnehmen begriffen und ist jetzt auf eine ganz geringe Zahl zusammengeschmolzen. Man fühlt einen Stich im Herzen, wenn man die öden Straßen der dem völligen Verfall zueilenden Stadt durchwandert.

An den andern Tagen wurden die zahlreichen Täler besucht, die die Hauptstadt umgeben. Auf dem nur mittelmäßig angebauten Lande sitzt eine ausschließliche Negerbevölkerung, teils Katholiken, teils Heiden, mitten in der Pflanzenwelt ihrer eigentlichen Heimat. Hier findet man Palmen, Bananenbäume, Goyaven, Kokospalmen, Papayabäume und Tamarinden, in deren Schatten sich eine Menge afrikanische Hütten, doch so zerstreut erheben, daß sie nirgends den Namen eines Dorfes verdienen.

In diesen vier Tagen schien das Glück, das die Reisenden bisher vor der eben herrschenden Epidemie beschützt hatte, sie etwas zu verlassen. Am[417] 2. Juli standen zwei von ihnen, Mr. Blockhead und Sir Georges Hamilton, mit dumpfem Kopfschmerz, einem teigigen Gefühl im Munde auf und erlitten auch lästige Anfälle von Schwindel. Ein sofort herbeigerufener Arzt konnte nur einen schweren Fall des gefährlichen Fiebers diagnostizieren. Das war ein neuer Schreck für die übrigen. Jeder sagte sich: »Wann bin ich nun an der Reihe?«

Der nächstfolgende Tag war der zur Abfahrt bestimmte. Von früh an hatten die Touristen da zu ihrem großen Erstaunen Mühe, das Land wieder zu erkennen, in dem sie erwachten. Der Himmel hatte eine ockergelbe Farbe, die Umrisse aller Gegenstände verschwammen gänzlich in einem Nebel von besonderer Art, der wie überhitzte Luft zu zittern schien.

»Das ist nur vom Ostwinde hergetriebner Sand,« erklärten die darüber befragten Eingebornen.

In der Tat war der Wind in der Nacht von Nordwesten nach Osten umgeschlagen.

Sollte dieser Richtungswechsel vielleicht die Pläne des Kapitäns Pip umstürzen? Nein, denn noch denselben Abend meldete er, daß die letzten Vorbereitungen zur Abfahrt vollendet wären. Auch die Passagiere waren dazu bereit. Seitdem die Flucht von hier beschlossen war, hatten sie aus ihren Wohnungen jeden Tag einen Teil ihres Gepäcks weggeschafft, das die Matrosen in der Nacht nach der »Santa-Maria« beförderten. Nur die leeren Kasten und Reisesäcke blieben in ihren Zimmern zurück, als sie diese endgültig verließen, da sich deren Fortschaffung nicht unbemerkt ausführen ließ. Das war aber eine Sache, worüber sich alle leicht hinwegsetzten.

»Übrigens, hatte Baker erklärt, wird Thompson uns diesen Verlust neben dem sonstigen Reste zu ersetzen haben.«

Wenn auf Thompsons Haupt jedoch alle die vielen Verurteilungen fallen sollten, womit ihn Baker bedrohte, konnte man doch mit Wahrscheinlichkeit annehmen, daß diese nur ins Blaue hinein ausgesprochen werden würden. Was war denn geschehen? Keiner hätte es sagen können. Man hatte den Agenten nie wiedergesehen, seitdem er sich der bedrückenden Verpflichtung, die ganze Gesellschaft heimzubefördern, durch die Flucht entzogen hatte.

Übrigens kümmerte sich niemand um ihn. Gefiel es dem Manne auf São-Thiago, so würde man ihn einfach da zurücklassen, das war alles.

Die Einschiffung mußte unbedingt in der Nacht vor sich gehen. Am Abend um elf Uhr, der für die Abfahrt vom Kapitän bestimmten Stunde, waren alle[418] ohne Ausnahme auf dem Schwarzen Gestade beisammen, an einer Stelle, wo etwas zurückstehende Felsen die Wucht der Brandung schwächten. Sofort begann nun die Einschiffung.

Hamilton und Blockhead wurden zuerst auf die »Santa-Maria« übergeführt, nachdem sie nahe daran gewesen waren, auf São-Thiago zurückgelassen zu werden.

Viele ihrer Gefährten hatten sich ernstlich gegen den Gedanken gesträubt, die beiden Kranken mitzunehmen, weil sie ja eine Ansteckungsgefahr für die Gesunden bildeten. Daß man davon absehen sollte, sie ohneweiters sitzen zu lassen, dafür waren Roger und die beiden Amerikanerinnen vergeblich mit allen Kräften eingetreten, bis zu dem Augenblick, wo der Kapitän Pip das Gewicht seiner Autorität in die Wagschale warf und entschieden erklärte, er werde von der Führung des Schiffes gänzlich absehen, wenn nur ein einziger von den Passagieren hier zurückgelassen würde.

Hamilton und Blockhead verließen also die Insel des Grünen Vorgebirges gleichzeitig mit den andern, freilich, ohne daß sie sich dessen bewußt waren. Seit gestern hatte sich ihr Zustand wesentlich verschlimmert. An Stelle des klaren Bewußtseins waren fortwährende Delirien getreten, und es erschien recht zweifelhaft, ob man sie überhaupt noch lebend nach England mitbringen würde.

Nicht wenige Fahrten wurden nötig, alle Passagiere mit den zwei einzigen Boten der »Santa-Maria« auf das Schiff zu befördern. An der Bordwandöffnung stand hier Baker, der seine Pflichten als Leiter des Ganzen sehr ernst nahm und jedem den ihm vorbehaltnen Platz anwies.

Da hatte man nun alle Ursache, den Verlust der »Seamew« zu beklagen. Etwas Unzulänglicheres als die überhastete Einrichtung eines Frachtschiffes zu einem Personenschiffe konnte man sich kaum vorstellen. Wenn die Damen, die unter dem Hinterdeck in der gemeinschaftlichen Kajüte untergebracht wurden, mit ihren beschränkten Kabinen halbwegs zufrieden sein konnten, mußten sich die Herren mit einem großen Schlafraum begnügen, der unten im Schiffe durch Bretterwände in einzelne Teile geschieden und mit einem auf den trocknen Querbalken des Zwischendecks angebrachten Fußboden versehen war.

Die einzelnen Überführungen gingen ohne Unfall vonstatten. Kein Mensch auf der Insel schien von dem Auszuge etwas bemerkt zu haben. Ungehindert stießen die Boote zum letzten Male vom Lande ab und legten sie an der »Santa-Maria« an.[419]

Da wurde aber dem auf seinem Posten an der Bordwandöffnung wachenden Baker eine Überraschung ohnegleichen beschert. Unter andern Passagieren kam einer, der sich so klein wie möglich machte, hurtig auf das Deck des Schiffes gesprungen... das war Thompson.

Quelle:
Michel Verne: Das Reisebüro Thompson und Comp. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XCI–XCII, Wien, Pest, Leipzig 1909, S. 403-420.
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