Elftes Kapitel.

Wo nun Thompson für sein Geld nichts hat.

[420] »Mister Thompson!« rief Baker mit wilder Freude.

Es war in der Tat Thompson in Person, aber etwas verschämt, trotz seiner sonst außergewöhnlich entschiedenen Haltung. Im Kampf zwischen Furcht und Geiz, war dieser schließlich unterlegen, und besiegt, kroch Thompson zu Kreuze. Geduldig hatte er die Abfahrt abgewartet und unter dem Schutze der Nacht sich dem letzten Transporte angeschlossen.

»Mister Thompson! wiederholte Baker, indem er seinen Feind wie die Katze die Maus ansah. Wir hofften nicht das Vergnügen zu haben, Sie noch einmal wiederzusehen! Soll uns wirklich der Kummer bereitet werden, mit Ihnen nach England zurückzukehren?

– Ja freilich, antwortete Thompson, der auch noch andre Malicen ruhig verschluckt hätte. Ich werde aber für die Überfahrt bezahlen, setzte er eiligst hinzu, in der Hoffnung, seinen unversöhnlichen Feind damit zu entwaffnen.

– Oho! rief Baker, das ist ja etwas ganz Übernatürliches.

– Übernatürliches? wiederholte Thompson.

– Jawohl. Sie haben uns bisher an eine derartige Bereitwilligkeit nicht gewöhnt; doch, es ist ja nie zu spät, etwas wieder gut zu machen. Ja, welchen Preis sollen wir denn nun von Ihnen verlangen, mein Herr!

– Den Preis, den alle zahlen, denke ich, antwortete Thompson schon etwas ängstlich.

– Ja, das hat so seine Schwierigkeiten, entgegnete Baker mit dem Tone eines Biedermannes, da wir keinen Tarif haben. So wie Sie uns hier sehen,[420] bilden wir eine Gesellschaft auf Gegenseitigkeit, eine Kooperativgenossenschaft, wie man das nennt, bei der jeder seinen Anteil eingezahlt hat. Sie aber, Sie sind ein Fremder. Für Sie müssen wir erst einen besonderen Tarif festsetzen, und das ist eine heikle Sache.

– Es will mir jedoch scheinen, murmelte Thompson, ja, es scheint mir, als ob sechs Pfund...

– O, das wäre sehr wenig, fiel Baker nachdenklich ein.

– Also zehn Pfund...

– Hm! machte Baker.

– Zwanzig Pfund... dreißig Pfund...«

Baker schüttelte den Kopf und schien wirklich bekümmert zu sein, diese so verführerischen Angebote zurückzuweisen.

»Nun dann vierzig Pfund, preßte Thompson mit Mühe hervor, ebensoviel, wie ich von Ihnen verlangt habe für die ganze Reise...

– Bis zum Grünen Vorgebirge, und das obendrein gegen meinen Willen, sagte Baker, aus dessen Augen eine teuflische Malice leuchtete. Gut, lassen wir's bei vierzig Pfund bewenden. Eigentlich ist das nicht genug, ich tue damit Unrecht. Doch... na ja, der Kuckuck soll mich holen, wenn ich Ihnen etwas abschlagen kann. Wollen Sie die Summe gefälligst entrichten?«

Seufzend fügte sich Thompson dem Verlangen und entnahm seiner Geldkatze die betreffende Anzahl Banknoten, die Baker zweimal mit wunderbarer Frechheit durchzählte.

»Stimmt... es stimmt, ich erkenne das an. Daran ist ja übrigens nichts Außergewöhnliches,« bemerkte er noch, als er seinem Passagier schon den Rücken zukehrte, während dieser sich beeilte, einen Platz im allgemeinen Schlafraum zu belegen.

Während dieser Verhandlung hatte die »Santa-Maria« Segel beigesetzt und den Anker an Bord genommen. Um ein Uhr nachts verließ sie, von günstigem Ostwinde getrieben, ohne Hindernisse zu finden oder angehalten zu werden, die Bai von La Praya. Vor ihrem Bug lag bald das offne Meer, auf das sie hinaussteuerte.

Die Passagiere suchten jetzt einer nach dem andern ihre Lagerplätze auf. Als einer der ersten hatte sich Thompson auf einer Matratze ausgestreckt, die er sich gleich nach dem Eintreffen auf dem Schiffe gesichert hatte, und er war eben im Einschlafen, als er seine Schulter von einer Hand berührt fühlte, und als er ärgerlich die Augen aufschlug, sah er Baker über sich geneigt stehen.[421]

»Was gibt es denn? fragte Thompson etwas schlaftrunken.

– Einen Irrtum, oder vielmehr ein Mißverständnis, lieber Herr. Es tut mir leid, Sie stören zu müssen, es ging aber nicht anders, als ich Sie unberechtigterweise auf dieser Matratze liegen sah.

– Ich habe doch, glaube ich, meinen Platz bezahlt! rief Thompson in recht schlechter Laune.

– Ihre Überfahrt, mein Bester, nur Ihre Überfahrt, berichtigte ihn Baker. Ich bediene mich Ihres eignen Ausdrucks. Wir wollen hier die Dinge nicht untereinandermengen. Überfahrt bedeutet noch nicht Platz. Ich bin nur verpflichtet, Sie zu transportieren, und das geschieht ja auch, doch Ihnen Nachtlager zu gewähren, das ist damit nicht gesagt. Die Matratzen sind in La Praya jetzt über die Maßen teuer, und wenn Sie diese hier benutzen wollen, so bin ich gezwungen, von Ihnen dafür eine kleine Nachzahlung zu verlangen.

– Das ist ja der reine Diebstahl! Ich bin in eine Halsabschneiderhöhle geraten! platzte Thompson heraus, während er sich zum Sitzen aufrichtete und hilflos die Blicke rund umherschweifen ließ. Und wieviel denken Sie von mir für die Erlaubnis, hier schlafen zu dürfen, noch zu erpressen?

– Es ist mir unmöglich, erwiderte Baker salbungsvoll, eine so höfliche Frage nicht mit den gewähltesten Ausdrücken zu beantworten. Wollen mal sehen... Nun ja... zur Not... ja, für zwei Pfund ist es mir möglich, Ihnen diese Matratze zu leihen. Das erscheint ein bißchen teuer, ich leugne es nicht, doch auf São-Thiago waren jetzt die Matratzen...«

Thompson zog die Schultern in die Höhe.

»Nun, die hier ist keine zwei Pfund wert. Doch gleichviel, ich werde auch diese zwei Pfund entrichten, doch wohlverstanden in der Hoffnung, dafür während der ganzen Überfahrt Frieden zu haben.

– Während der ganzen Überfahrt? Was denken Sie denn?... Während der ganzen Überfahrt! Mein Wort darauf, meine Herren, dieser seine Herr ist übergeschnappt, rief Baker, indem er die Arme gen Himmel erhob, und die andern Passagiere zu Zeugen aufrief, die, auf ihren Lagern sitzend, das ganze Gespräch mit angehört hatten und es mit unbezwinglichem Lachen begleiteten. Nein, zwei Pfund für die Nacht, mein lieber Herr, verstehen Sie recht, für die Nacht!

– Für jede Nacht? Und folglich, wenn die Fahrt einen Monat dauert, sechzig Pfund? Nun wissen Sie, Herr, das bezahle ich auf keinen Fall. Auf[422] den Scherz falle ich nicht hinein, antwortete Thompson wütend, während er sich wieder ausstreckte.

– Dann, mein Herr, erklärte Baker mit unerschütterlichem Phlegma, dann bleibt mir nichts übrig, als Sie von hier auszuweisen.«

Thompson sah seinen Gegner an und erkannte, daß dieser nicht spaßte, und Baker streckte schon die Arme nach ihm aus.

Von den Zuschauern eine Hilfe zu erwarten, daran war nicht zu denken. Rein entzückt von dieser unerwarteten Revanche, verdrehten die sich vor Lachen.

Thompson zog es vor, klein beizugeben, statt es auf einen Kampf ankommen zu lassen, dessen Ausgang nicht zweifelhaft war. Er erhob sich ohne ein weitres Wort und ging auf die hinausführende Leitertreppe zu. Ehe er aber die erste Leitersprosse erstieg, glaubte er noch einmal protestieren zu müssen.

»Ich weiche der Gewalt, sagte er mit Würde, protestiere aber feierlichst gegen die mir angetane Behandlung. Jedenfalls mußte ich vorher darauf aufmerksam gemacht werden, daß ich für meine vierzig Pfund nicht einmal ruhig schlafen könnte.

– Die Sache ist doch aber sehr einfach, erwiderte Baker, der wie aus den Wolken gefallen schien, nein, Ihre vierzig Pfund geben Ihnen nicht das Recht, auf den Matratzen der Gesellschaft zu schlafen, ebensowenig wie an der Tafel der Gesellschaft aus den Gläsern zu trinken und aus den Schüsseln zu essen. Überfahrt, meine ich, ist doch nicht gleichbedeutend mit Matratzen, Lehnstühlen, Claret und Beefsteak! Wenn Sie solche Dinge haben wollen, müssen sie bezahlt werden, und die sind gerade jetzt überaus teuer!«

Baker streckte sich darauf ohne Umstände auf der eroberten Matratze aus, während Thompson blindlings die Sprossen der Leitertreppe hinaufkletterte.

Der Unglückliche hatte eingesehen, wie hier die Sachen lagen.

Daß er schlecht schlief, ist wohl einleuchtend. Er verbrachte die ganze Nacht auf dem Deck, um ein Mittel zu suchen, sich dem ihm drohenden Schicksal zu entziehen. Trotz seines erfinderischen Geistes entdeckte er keines; er hatte sich dummerweise in einer Sackgasse fangen lassen.

Allmählich beruhigte sich Thompson einigermaßen bei dem Gedanken, es wäre doch wenig wahrscheinlich, daß Baker seine Drohungen wirklich wahr machen werde. Es handelte sich hier, meinte er, nur um einen Scherz, der zwar recht unangenehm, aber doch nur ein Scherz wäre, wie sich das bald genug zeigen würde.[423]

Diese optimistischen Gedanken waren immerhin nicht imstande, Thompson Ruhe genug zu gewähren, um Schlaf zu finden. Bis zum Morgen ging er, alle Aussichten, die er hatte, sein Leben und seine Kasse zu retten, überlegend, auf dem Deck hin und her, wo die nächtliche Wache sich von Zeit zu Zeit ablöste.

Während Thompson ärgerlich umherlief, lagen die übrigen Passagiere der »Santa-Maria« in tiefem Schlafe. Das Wetter blieb ziemlich gut, trotz der Trockenheit des Ostwindes, der die Segel des Fahrzeugs aufblähte, das dabei recht schnell dahinglitt. Als der Tag graute, lag São-Thiago schon zwanzig Meilen im Süden.

In der frühen Morgenstunde kam das Schiff nahe an der Insel Maio vorüber, doch außer Thompson war niemand da, das wüste Land zu betrachten.

Anders war es vier Stunden später, als man, doch nicht so nahe, längs der Insel Boavista hinsegelte. Jetzt hatten sich an Bord der »Santa-Maria« alle erhoben und das Oberdeck war so gedrängt voll, daß noch viele aus Mangel an Platz auf dem untern Deck bleiben mußten.

Aller Augen richteten sich auf die Stadt Rabil, vor der jetzt deutlich verschiedene vor Anker liegende Schiffe zu erkennen waren. Boavista versank dann allmählich am Horizonte, als die Glocke zum Frühstück rief.

Baker, der für die Rückreise gewählte Chef, ordnete jetzt alles nach eignem Gutdünken. An Bord der »Santa-Maria« sollte die Verpflegung ganz so gehalten werden wie an Bord eines regelmäßig verkehrenden Paketbootes, und die Pünktlichkeit der Mahlzeiten lag ihm da ganz besonders am Herzen. Obwohl der auf Schiffen herrschenden Gewohnheit nicht entsprechend, hatte er die von seinem Vorgänger dafür angenommenen Stunden beibehalten. Auf seine Anordnung läutete die Glocke wie früher um acht, um elf Uhr und des Abends um sieben Uhr.


Baker wachte aber, und der Teller blieb leer. (S. 427.)
Baker wachte aber, und der Teller blieb leer. (S. 427.)

Trotz seines Wunsches konnte nicht davon die Rede sein, eine wirklich ordentliche Tafel herzurichten. In der gemeinsamen Kajüte war ja kaum für ein Dutzend Tischgäste Platz. Die meisten mußten sich also damit begnügen, im Deckhaus oder auf dem Deck selbst in Gruppen, zwischen denen das alte Personal der »Seamew«, jetzt der »Santa-Maria«, sich bewegte, so gut es anging Platz zu finden, eine Unannehmlichkeit, die immerhin einen gewissen Reiz hatte. Bei schlechtem Wetter mußte man sich da freilich nach dem allgemeinen Schlafraum im Zwischendeck flüchten. Regen war aber kaum zu befürchten, wenn das Schiff über die Gegend des »Grünen Vorgebirges« hinausgekommen war.[424]

Bei diesem ersten Frühstück, bei dem sich Thompson in keiner Weise beteiligte, machte der Kapitän Pip einen unerwarteten Vorschlag.

Nachdem er um Aufmerksamkeit gebeten hatte, erwähnte er zunächst die Gefahren einer solchen Reise auf einem Schiffe wie die »Santa-Maria«. Dann gestand er, bei der großen, auf ihm lastenden Verantwortlichkeit einen Augenblick daran gedacht zu haben, nicht erst an der Küste Spaniens oder Portugals ans Land zu gehen, sondern gleich an der Stadt Saint-Louis am Senegal. Er hatte das nur nicht in Vorschlag zu bringen gewagt, weil es, bei dem herrschenden[425] Ostwinde diesen Ankerplatz zu erreichen, fast ebenso lange Zeit in Anspruch genommen hätte, wie eine Fahrt nach den Kanarien oder selbst nach einem europäischen Hafen. Doch wenn nicht in Saint-Louis, könnte man ja in Porto-Grande von São-Vicente landen. Zu diesem Zwecke brauchte der Kapitän Pip das Schiff nur um zwei Quart abfallen zu lassen, und vor Anbruch der Nacht wären dann alle schon am Lande in Sicherheit, und könnten darauf rechnen, bald ein Paketboot zu finden.

Die Mitteilung des Kapitäns Pip hatte eine um so größere Wirkung, als dieser nicht gewohnt war, unnütze Worte zu machen. Jedenfalls mußte er etwaige Gefahren nicht zu gering schätzen, da er sich in eine so lange Rede eingelassen hatte.

Da war nun Baker, der als erwählter Verwalter sich der Rednerbühne bemächtigte.

»Ihre Worte klingen ernst, Kommandant, sagte er. Doch verhehlen Sie uns nichts, und sagen Sie frei heraus, ob Sie die Reise, die wir angetreten haben, für unklug halten.

– Wenn das mein Gedanke wäre, antwortete der Kapitän, so hätte ich es schon vor deren Antritt ausgesprochen. Nein, die Reise ist schon ausführbar, doch mit so vielen Menschen an Bord...

– Nun, unterbrach ihn Baker, wenn Sie nur Ihre Mannschaft allein an Bord hätten, würden Sie sich da auch beunruhigt fühlen?

– Nein, gewiß nicht, versicherte Pip; das ist aber auch etwas ganz andres. Auf dem Meere zu fahren, ist ja unser Beruf, und wir haben auch unsre Gründe...

– Wie wir die unsrigen, sagte Baker, und wäre es nur die Summe, die wir aufzubringen gezwungen waren, dieses Schiff zu chartern, wegen des schmutzigen Geizes dessen, der für uns alle hätte bezahlen sollen. Es liegt jedoch auch noch ein andrer Grund vor: die Quarantäne, die über die Insel São-Thiago, die wir eben verlassen haben, verhängt ist. Augenblicklich ist die Meldung von der Abfahrt der »Santa-Maria« wahrscheinlich schon auf allen Inseln des Archipels eingetroffen, und ich bin fest überzeugt, daß unsre Landung um so größere Hindernisse finden würde, da wir kein reines Patent und obendrein zwei Fieberkranke an Bord haben. Wenn es uns trotzdem gelänge, ans Land zu kommen, so erwartete uns gewiß nur eine Gefängnishaft, und diesmal eine wirkliche, das heißt eine weit strengere als die, der wir in »São-Thiago« zum[426] Opfer gefallen waren. Dagegen könnte man einwenden, daß das in Portugal und in Spanien nicht anders sein werde. Das ist wohl möglich, sicher ist es aber nicht. Auf jeden Fall wären wir dann an einem uns erwünschten Ziel angelangt, und das würde allen neuen Mut einflößen. Deshalb stimme ich für eine Fortsetzung der angefangenen Reise, und glaube, daß alle hier Anwesenden meiner Meinung sind.«

Bakers Worte fanden einstimmigen Beifall, und der Kapitän Pip begnügte sich, darauf mit einer beruhigenden Geste zu antworten, der Entschluß befriedigte ihn aber nur halb, und wer ihm an diesem Abende nahe gewesen wäre, würde gehört haben, wie er mit sorgenvoller Miene seinen getreuen Artimon ansprach:

»Du willst meine Ansicht wissen. Master? Nun also, das ist eine unerwartete Wendung, für deren Erfolg ich nicht stehen kann.«

Gar so bald sollte aber nichts vorkommen, was seine Zweifel nach irgendeiner Seite bestätigt hätte. Nachmittag gegen zwei Uhr drehte sich der Wind und die »Santa-Maria« fuhr vor günstigem Rückenwinde hin. Eine Rückkehr war ihr damit unmöglich gemacht. Der einzige für sie offen stehende Weg war der nach Europa oder nach den Kanarischen Inseln.

Unter Einhaltung dieses Kurses kam man gegen einhalbfünf Uhr wieder an der Salzinsel vorüber, die keiner ohne lebhafte Erregung betrachten konnte. Alle Fernrohre richteten sich nach diesem Lande, in dessen Nähe die alte »Seamew« ihren Tod gefunden hatte.

Kurz vor der Nacht verlor man diese letzte Insel des Archipels des Grünen Vorgebirges aus den Augen, und nun sollte nichts mehr die Kreislinie des Horizontes unterbrechen bis zu der Stunde, wo man die Kanarischen Inseln wieder zu Gesicht bekam. Das war, wenn die jetzige Brise Bestand hatte, binnen drei bis vier Tagen zu erwarten. Im ganzen konnte sich niemand über diesen ersten Tag beklagen. Alles war nach Wunsch gegangen, und man konnte hoffen, auch weiter vom Glücke begünstigt zu werden.

Nur einer von den Passagieren hatte das Recht, etwas weniger zufrieden zu sein, und es ist wohl unnötig, ihn zu bezeichnen, ihn mit seinem Namen Thompson zu nennen. Beim Mittagessen hatte er sich einen Teller zu verschaffen gewußt und hielt ihn bei der allgemeinen Austeilung der Speisen hartnäckig mit hin. Baker wachte aber, und der Teller blieb leer. Und als er am Nachmittag versucht hatte, sich mit Roastbeaf darüber zu besprechen, in der Meinung, daß der nicht die Stirn haben werde, seinem frühern Chef etwas abzuschlagen,[427] da stieß er wieder auf Baker, der ihn mit nie ermüdendem Eifer überwachte. Offenbar schien die Geschichte ernst zu werden.

Thompson, der vor Hunger fast umkam, mußte schließlich nachgeben, und entschied sich dafür, seinen unerbittlichen Henker aufzusuchen.

»Herr Baker, begann er, ich sterbe vor Hunger.

– Das freut mich, antwortete Baker phlegmatisch, denn das beweist, daß Sie einen gesunden Magen haben.

– Lassen Sie mich mit derlei Scherzen in Ruhe, sagte Thompson, dessen Charakter seine Qualen ganz verändert hatten, und sagen Sie mir gefälligst, wie weit Sie die noch treiben wollen, als deren Opfer Sie mich ausersehen haben.

– Scherze? Von welchen Scherzen reden Sie denn? fragte Baker, während er sich den Anschein gab, darüber ernstlich nachzudenken. Ich glaube mir mit Ihnen nicht den geringsten Scherz erlaubt zu haben.

– Sie haben also wirklich die Absicht, mich Hungers sterben zu lassen? rief Thompson.

– Ei, rief Baker, wenn Sie eben nicht bezahlen wollen!

– Es ist gut, gab Thompson zur Antwort, ich werde bezahlen. Unsre Rechnung werden wir später regulieren...

– Gleich mit den andern, stimmte ihm Baker in liebenswürdigem Tone zu.

– Wollen Sie mir also gefälligst sagen, für welchen Preis ich mir die Erlaubnis erkaufen kann, bis zum Ende der Reise hier zu schlafen und zu essen?

– Wenn es sich um eine Pauschalsumme handelt, sagte Baker mit Nachdruck, da ist ja die Sache sehr einfach.«

Er zog dabei sein Notizbuch hervor und blätterte darin umher.

»Also richtig!... Hm!... Sie haben bereits eine Summe von vierzig Pfund entrichtet... Ja ja... hm... Völlig in Ordnung! Nun gut, da handelt es sich also bloß noch um eine kleine Nachzahlung von zweiundsiebzig Pfund einem Schilling und zwei Pence (1800 Francs 45 Centimes), dafür genießen Sie dann dieselben Rechte an Bord wie alle andern.

– Zweiundsiebzig Pfund! schrie Thompson. Das ist eine Tollheit! Ehe ich auf eine solche Forderung eingehe, appelliere ich an alle Passagiere. Was Teufel, ich werde doch einen anständigen Menschen darunter finden!

– Ich werde sie in Ihrem Namen darum befragen, schlug Baker in liebenswürdiger Weise vor. Vorher würde ich Ihnen aber doch empfehlen zu[428] prüfen, wie diese Summe entstanden ist. Die Heuer für die »Santa-Maria« hat uns rund zweihundertvierzig Pfund gekostet, zweihundertneunzig Pfund neunzehn Schillinge haben wir für die während der Fahrt nötigen Lebensmittel aufwenden müssen, ferner hat die unumgängliche Einrichtung des Schiffes eine Ausgabe von einundneunzig Pfund zwei Schillingen und zwei Pence verursacht, das macht zusammen sechshundertzwölf Pfund einen Schilling und zwei Pence, wovon ich die von Ihnen gezahlten vierzig Pfund bereits abgezogen habe. Ich glaube also nicht, daß Sie mit einem Einspruche gegen dieses gerechte Verlangen Unterstützung bei denen finden werden, die Sie vorher geplündert haben. In jedem Falle, wenn das Herz Ihnen sagt...«

Nun, das Herz sagte Thompson nichts davon, wie sich aus seiner Haltung entnehmen ließ. Ohne weitern Widerspruch, der ja doch nichts genützt hätte, öffnete er seine kostbare Geldtasche und holte daraus ein Bündel Banknoten hervor, zählte die verlangte Summe ab und steckte das übrige mit derselben Sorgfalt ein.

»Es bleibt ja noch ein hübsches Sümmchen drin,« meinte Baker, mit einem Hinweis auf die Tasche.

Thompson antwortete nur durch ein bleiches, unverständliches Lächeln.

»Doch nicht mehr lange, setzte der mitleidlose Baker hinzu, während das flüchtige Lächeln Thompsons von seinen Lippen verschwand. Wir werden bald die kleinen Rechnungen abzumachen haben, die uns persönlich angehen.«

Ehe er seinen unversöhnlichen Gegner verließ, wollte Thompson wenigstens etwas für sein Geld haben. An Bord der »Santa-Maria« hatte er den treuen Piperboom wiedergefunden, und der Holländer sich, als ob die Sache sich von selbst verstände, von neuem an den angeschlossen, den er noch immer für den Gouverneur der umherirrenden Kolonne ansah. Thompson schleppte überall diesen dreifachen Schatten seiner selbst mit umher, und die Hartnäckigkeit des außerordentlich beleibten Passagiers fing an, ihm über die Maßen lästig zu werden.

»Es ist also abgemacht, fragte er, daß ich von nun an ganz dieselben Rechte wie alle andern genieße, daß ich ein Passagier bin wie die übrigen?

– Endgültig abgemacht.

– In diesem Falle würden Sie mich zu Dank verpflichten, mich von dem unerträglichen Herrn Piperboom zu befreien, den ich auf keine Weise von mir abschütteln kann. So lange ich hier der General-Unternehmer war, mußte ich mir ihn wohl oder übel gefallen lassen; jetzt aber ist es doch das Geringste, was ich...[429]

– Natürlich, natürlich, unterbrach ihn Baker. Leider bin ich nur ebensowenig Unternehmer wie Sie. Übrigens wird es für Sie nichts Leichteres geben, setzte der gefühllose Spötter, seine Worte besonders betonend, hinzu, als dem Herrn Van Piperboom »verständlich zu machen«, wie sehr er Ihnen zur Last fällt.«

Bleich vor Zorn, mußte sich Thompson doch mit diesem freundschaftlichen Rate begnügen, und von demselben Augenblicke an wandte ihm Baker auch nicht mehr die geringste Aufmerksamkeit zu.

Am 6. Juli hatten die Passagiere, als sie erwachten, die Überraschung, die »Santa-Maria« fast unbeweglich still liegen zu sehen. Schon in der Nacht war der Wind abgeflaut, und mit Sonnenaufgang herrschte völlige Windstille, bei der sich das Meer nur in langer Dünung und ohne jede Kräuselung erhob und wieder senkte. Von diesem vom westlichen Horizonte kommenden Wogengang geschaukelt, schlugen auf der »Santa-Maria« die Segel klatschend an die Maste, und das Schiff rollte in recht lästiger Weise hin und her.

Trotz der wirklichen Befriedigung, die alle darüber empfanden, daß sich der Gesundheitszustand Hamiltons und Blockheads unter dem Einflusse der reinen Seeluft wesentlich gebessert hatte, verlief der Tag doch recht traurig. Die unerwartete Windstille bedeutete ja eine weitre Verlängerung der Reise. Immerhin war etwas zu wenig Wind noch erwünschter als zuviel davon, und man nahm mit Geduld eine Widerwärtigkeit hin, die wenigstens mit keiner Beunruhigung verbunden war.

Man hätte indes glauben können, daß der Kapitän Pip nicht so dachte, wenn man ihn sah und bemerkte, daß seine Pupillen ganz wie bei ernsten Vorfällen weit auseinanderwichen und wie grausam er seine Nasenspitze behandelte. Offenbar genierte etwas den braven Kapitän Pip, dessen Blicke beständig nach dem westlichen Horizont hinaus gerichtet waren, von dem die langen glatten Wellen herkamen, auf denen sich die »Santa-Maria« wiegte.

Viel zu sehr eingeweiht in die Schrullen und das Verhalten ihres Kapitäns, als daß sie seine geheimnisvolle Sprache nicht verstanden hätten, blickten auch die Passagiere auf den westlichen Horizont hinaus, ohne doch da etwas Außergewöhnliches bemerken zu können. Auch da draußen wie überall glänzte ein blauer Himmel, über den nicht das schwächste Wölkchen hinzog.

Erst Nachmittag gegen zwei Uhr wurde ein leichter Dunst bemerkbar, der dann langsam zunahm und sich von Weiß zu Grau und von Grau zu Schwarz veränderte.[430]

Gegen fünf Uhr versank die Sonne in dem Dunste und das Meer nahm sofort eine unheimliche kupferrote Färbung an. Um sechs Uhr hatte die rauchartige Wolke bereits den halben Himmel eingenommen, als die ersten Kommandos des Kapitäns hörbar wurden.

»Außenklüver einbinden! Oberbramsegel und Gaffeltoppsegel einbinden! Das Großbramsegel reffen!«

Eine Viertelstunde später wurde das Großbramsegel ganz eingebunden, weitre Segel teils gerefft, teils ganz eingezogen und nur ein Schönfahrsegel gesetzt.

Diese Arbeiten waren vollendet, als der Kapitän auch das Großsegel, die Focksegel und die Toppsegel ganz einziehen ließ, so daß nur noch ein Klüversegel und ein Schönfahrsegel am Besanmaste übrigblieben.

Die Luft war inzwischen immer noch ruhig. Die tiefe Stille hatte etwas Unheimliches an sich.

Genau um acht Uhr brach das Unwetter blitzartig schnell und von einer wahren Sündflut von Regen begleitet los. Die »Santa-Maria« neigte sich fast zum Kentern und fing dann, da sie den Bug dem Meere zuwendete, auf den hohen Wogen zu stampfen an.

Der Kapitän veranlaßte nun die Passagiere, lieber schlafen zu gehen, da jetzt doch nichts zu machen wäre, als zu warten. Bis zum Morgen lag die »Santa-Maria« auf den tollen Wellenbergen, und die Passagiere wurden auf ihren Lagerstätten furchtbar umhergeworfen. Der Sturm zeigte zum Unglück auch in der Nacht keine Neigung, schwächer zu werden, im Gegenteil raste er am Morgen eher mit verdoppelter Wut.

Der Kapitän Pip war übrigens keineswegs unzufrieden mit der Weise, wie die »Santa-Maria« sich dabei hielt. Sie stieg ruhig auf den Wellen empor, wobei das Deck kaum von Spritzern eingenäßt wurde. Weniger zuverlässig erschien ihm das Tauwerk, und er murrte recht sehr, auf São-Thiago nur eine recht minderwertige Sorte davon erhalten zu haben. Die Wanten und die Stagtaue hatten bei den Stößen, die sie vom Meere erhielten, sich schon recht bedenklich verlängert, und die Untermasten standen in ihrer Spur nicht mehr fest.

Den ganzen Tag über wuchs nun noch die Gewalt des Sturmes. Zweifellos hatte man hier mit einem jener Zyklone zu kämpfen, die manchmal ganze Länder verwüsten. Vor der Mittagstunde wurden die Wellen haushoch und wälzten sich wütend durcheinander. Häufig gingen sie auch über das Deck der »Santa-Maria« hinweg.[431]

Der Kapitän versteifte sich darauf, das Schiff dem Sturme entgegenzuhalten. Gegen sieben Uhr abends hatte sich der Wind so sehr verstärkt und der Wogengang war so bedrohlich geworden, während die Masten in beunruhigender Weise hin- und herschwankten, daß er es endlich für unmöglich ansah, diese Lage beizubehalten. Er beschloß also, vor dem Sturm – wie man sagt – zu reiten.

Bei den Verhältnissen, in denen sich die »Santa-Maria« befand, ist eine volle Wendung immer ein gefährliches Manöver. Zwischen dem Augenblick, wo ein Schiff seinen Bug den tobenden Wellen zuwendet, und dem, wo es Geschwindigkeit genug erreicht hat, daß diese unter seinen Bordrand hinweggleiten, liegt allemal einer, wo es den Wogen seine Seitenwand zukehrt. Ein Schiff, das in diesem Augenblick von einer stark anprallenden Welle getroffen wird, würde wie ein Pfropfen umhergeschleudert werden. Es kommt viel darauf an, das Meer zu beobachten und eine verhältnismäßig ruhige Minute abzuwarten. Die Wahl dieser Minute ist von größter Wichtigkeit.

Der Kapitän Pip hatte selbst die Ruderpinne ergriffen, während die Mannschaft sich bereit hielt, das Marssegel nach Backbord umzulegen.

»Räumen lassen!« kommandierte der Kapitän, der mit Verständnis den richtigen Zeitpunkt zum Wenden erfaßt hatte und das Ruder schnell umlegte.

Das Schiff wendete sofort nach Steuerbord und fiel in den Wind. Doch noch war nicht alles überwunden. Es genügt nicht, daß ein Fahrzeug den Wellen seinen Achter zukehrt, es muß auch erst eine gewisse Geschwindigkeit angenommen haben, um die Gewalt der anstürmenden Wogen zu mildern.

»Scharf in den Wind!« lautete der weitre Befehl des Kapitäns, sobald das Schiff sich gedreht hatte. Focksegel nachfieren!... Den Jager aufgeien!«

Das Manöver war geglückt. Unter dem Druck des Bramsegels, das dem Winde seine breite Fläche bot, durchschnitt die »Santa-Maria« nach einigen Sekunden die Wellen mit der Geschwindigkeit eines galoppierenden Pferdes. Aus übergroßer Vorsicht schleppte sie noch ein Fischernetz hinter sich her, das sich in der Segelkammer gefunden hatte und nun dazu diente, das Überschlagen der Wellen zu verhindern.

Daß das Schiff jetzt mit dem Winde im Rücken lief statt vor dem Bug, gewährte den Passagieren eine verhältnismäßige Ruhe. Das empfanden sie auch alle, und jede Gefahr erschien ihnen jetzt merklich vermindert.

Der Kapitän war jedoch andrer Ansicht. Nach Westen zu fliehen, bedeutete für ihn, daß er auf die Küste Afrikas stoßen würde, ehe nur dreihundertfünfzig[432] Seemeilen in dieser Richtung zurückgelegt waren, und für dreihundertfünfzig Seemeilen bedurfte es bei der rasenden Geschwindigkeit, die der Sturm der »Santa-Maria« verlieh, keiner langen Zeit.

Er blieb deshalb die ganze Nacht auf Wache. Am 8. Juli stieg aber die Sonne empor, ohne daß sich seine Befürchtungen bewahrheitet hätten. Auf allen Seiten lag der Horizont frei. Der Kapitän hoffte schon, sich in seiner Schätzung getäuscht zu haben, und wünschte, daß ein Nordwind es ihm ermöglichte, schnell in Saint-Louis am Senegal einzulaufen.

Unglücklicherweise stellte sich dieser Nordwind nicht ein, dagegen hielt der Westnordwest unverändert an, und die »Santa-Maria« trieb wie ein Schnellzug auf die Küste Afrikas zu.

Durch einige schwatzhafte Leute von der Besatzung von der Sachlage unterrichtet, teilten die Passagiere jetzt die Besorgnis ihres Kapitäns, und aller Augen suchten im Osten nach dem Lande, dem das Schiff unaufhaltsam zusteuerte.

Erst am Abend gegen sechs Uhr wurde Land vor Backbord sichtbar. Die Küste bildete hier eine Art Golf, denn die »Santa-Maria« flog daran wie ein Pfeil hin, statt normalerweise auf sie zuzufahren.

Bald aber wich die Küstenlinie mehr nach Westen ab, und schnell verkleinerte sich die Entfernung, die die »Santa-Maria« von ihr trennte.

Am Backbord allein stehend, starrte der Kapitän auf das niedrige, sandige, im Hintergrunde von Dünen begrenzte und von davor aufragenden Klippen umgebene Ufer. Plötzlich richtete er sich hoch auf, und nachdem er tüchtig ins Wasser gespuckt hatte, sagte er zu Artimon:

»In einer halben Stunde sind wir der Katze, Master, so leicht aber – beim Barte meiner Mutter – ergeben wir uns nicht!«

Da Artimon die Ansicht seines Herrn zu teilen schien, kommandierte der Kapitän mitten im Heulen des Sturmes und im Brausen der Wogen:

»Ruder scharf Backbord! Die Besansegel fieren, Jungens!«

Die Mannschaft stürzte sich an die Trissen, zwei Minuten später lag die »Santa-Maria« wieder mit dem Bug nach vorn und drehte langsam von der Küste ab. Wiederum wurde sie vom Wogengang auf- und niedergeworfen, während starke Sturzseen von einem Ende zum andern über das Deck rollten.

Der Kapitän spielte hiermit seine letzte Karte aus. Ob das eine gute war und er das Spiel damit gewinnen sollte? Fast hätte man es anfänglich glauben können.[433]

Wenige Minuten, nachdem das Schiff aufgehört hatte, vor dem Winde zu laufen, schienen Wind und Meer sich etwas beruhigen zu wollen. Bald ließ nun der Kapitän die Großsegel setzen und um ein Quart anluven. Unter diesen Verhältnissen war es wenigstens nicht unmöglich, wieder in freies Wasser zu kommen.

Leider veränderte sich das Wetter aber nun plötzlich ins Gegenteil. Der vorher so starke Wind wurde schnell schwächer und schwächer. Nach wenigen Stunden blieb die von dem noch immer hohen Wogengang auf- und abgeschüttelte »Santa-Maria« in der Windstille, die kein Hauch mehr unterbrach, auf derselben Stelle liegen.

Der Kapitän schloß aus dieser plötzlichen Veränderung, daß er sich jetzt im Mittelpunkt des Zyklons befand, und zweifelte keinen Augenblick, sehr bald wieder von dem Sturme gepackt zu werden. Augenblicklich waren nun alle Segel nutzlos, die »Santa-Maria« gehorchte dem Steuer nicht mehr, sie war nun gleich einem Wrack, das der Seegang nach und nach an die Küste wirst.

Um sieben Uhr lag das Ufer nur noch fünf Faden entfernt.

Dreihundert Meter vom Backbord brachen sich die Wellen wütend an dem gefährlichen Klippengürtel.

Es ist nur selten, daß man an die afrikanische Küste so nahe herankommen kann. Meist dehnen sich vor ihr, und zuweilen bis auf fünfzehn Kilometer weit hinaus, Untiefen aus. So mußte man es hier einem glücklichen Zufall Dank wissen, die »Santa-Maria« trotz allen sonstigen Ungemachs nach einem der wenigen Punkte verschlagen zu haben, wo diese ungeheuern Sandbänke durch Strömungen und die Brandung weggespült worden waren.

Weiter durfte man sich diesem freilich nicht nähern; der Meeresgrund erhob sich schnell. Die ununterbrochen benutzte Sonde zeigte schon nicht mehr als zwanzig Faden Tiefe an. Der Kapitän beschloß deshalb, um jeden Preis Anker zu werfen.

Wenn man sich vor drei Anker – die beiden Anker der Kranbalken und vor den der großen Luke – legte, und jedem davon hundert Faden Kette nachschießen ließ, hoffte er den Sturm abreiten zu können, wenn der von neuem losbrach.

Mit Sicherheit war darauf leider nicht zu rechnen; weit eher mußte man befürchten, daß die Ketten sprängen und die Anker verloren gingen. Immerhin war das Gegenteil einigermaßen zu hoffen, und diese letzte Hoffnung wollte ein so energischer Mann wie Pip nicht unnötig aufgeben.[434]

Der Kapitän ließ also die Anker vor die Balken legen und die Kette zum Ablaufen fertig machen. Der letzte Befehl zum Ankern sollte erst erfolgen, wenn die Verhältnisse das unumgänglich nötig machten.

Plötzlich hatte das Meer, ohne daß etwas die seltsame Erscheinung angekündigt hätte, rings um die »Santa-Maria« geradezu zu kochen angefangen. Das Wasser wirbelte tosend und mit lautem Klatschen an die Schiffswand schlagend durcheinander.

An Bord des Schiffes erhob sich ein ängstliches Geschrei. Nur der Kapitän behielt seine Ruhe und beobachtete scharfen Auges den neuen Angriff, dem das Fahrzeug ausgesetzt war. Ohne viel Zeit zu verlieren, die Ursache der unerwarteten Erscheinung zu erkennen, beeilte er sich, sie bestens zu benutzen. Die Brandung trieb die »Santa-Maria« der Küste zu, und dank einem günstigen Zufall unter einer schwachen westlichen Brise gehorchte sie jetzt wieder einigermaßen dem Steuer. Vielleicht gelang es nun doch, sich dem Ufer noch mehr zu nähern und unter bessern Verhältnissen zu ankern.

Vor dem Bug unterbrach auch ein schmaler Kanal den Kranz der Klippen, hinter dem eine Fläche ruhigen Wassers vor einem zweiten Klippengürtel sichtbar wurde. Gelang es dahin zu kommen, so konnte man alles und alle als gerettet betrachten. In dem Naturhafen mußte die von ihren Ankern festgehaltene »Santa-Maria« auch einer Wiederkehr des zu erwartenden Orkans Widerstand leisten können. Wenn sich das Wetter dann endgültig zum Bessern wendete, sollte sie durch den engen Kanale aufs neue aufs offene Meer hinausgehen.

Der Kapitän ergriff selbst das Steuer und wendete den Bug dem Lande zu. Das eigentümliche Aussehen des Meeres beunruhigte ihn aber doch noch immer, und er ließ zunächst das Deck von allem säubern, was sich da und dort darauf befand. Ebenso mußten alle Passagiere und alle, die nicht als Seeleute tätig waren, sich ins Innere des Schiffes begeben.

Nachdem das geschehen war, fühlte sich der Kapitän ordentlich erleichtert. Unter der Hand ihres Meisters fuhr die »Santa-Maria« in den Kanal ein und gelangte auch glücklich hindurch.

Da rief der Kapitän: »Anker werfen!«

Dazu fehlte es aber an Zeit.

Urplötzlich hatte sich auf dem Meere eine ungeheure, riesige Welle erhoben, und dieser Schnelläufer des Ozeans wälzte sich im Galopp über die Wasserfläche hin. Binnen drei Sekunden hatte sie das Schiff erreicht.[435]

Wenn es von dieser an der Langseite getroffen wurde, wäre es umgeworfen, zerstört, völlig vernichtet und in kleine Stücke zerschmettert worden. Dank dem Manöver seines Kapitäns aber bot es der furchtbaren Woge seinen Achter, und das war seine Rettung. Die »Santa-Maria« wurde wie eine Feder in die Höhe gehoben, während eine wahre Wasserhose auf das Deck niederschlug, dann lief sie, von deren schäumendem Kamm getragen, mit der Geschwindigkeit einer Kanonenkugel auf das Land zu.

An Bord war alles in schrecklichster Verwirrung. Die einen hielten sich fest, wo sie konnten, andre wurden vom Wasser bis in die gemeinschaftliche Kajüte überflutet, und Mannschaft und Passagiere hatten völlig den Kopf verloren.

Nur der Kapitän Pip bewahrte seine unerschütterliche Ruhe.

Fest auf seinem Posten, überwachte er das Schiff, und seine Hand hatte das Steuer nicht losgelassen, an das er sich bei diesem Aufruhr der Elemente anklammerte. Als ein Mann, der ja den Gewalten der Natur gegenüber so klein ist, beherrschte er sie doch noch immer, mochte es auch ihr Wille sein, ihn dem Tode entgegenzutreiben. Nichts entging seinem Blicke, der jetzt nicht einmal durch den gewöhnlichen Strabismus getrübt war. Er sah die Wogen donnernd an die Klippen anprallen, daran zerschellen, dann als Schaumberg desto höher aufsteigen und sich über das Ufer ergießen, während die Katarakten des Himmels, die sich plötzlich geöffnet hatten, ihre Verwüstung mit der der Erde vermengten.

Die »Santa-Maria« hatte sich, ein gutes Fahrzeug, leicht auf dem Wasserberge erhoben. Mit ihm war sie emporgestiegen und mit ihm sank sie herunter. Da hielt sie ein entsetzlicher Stoß in ihrer Bewegung auf.

Ein furchtbares Krachen, alles wurde umgestürzt, alles an Bord zerbrochen. Eine ungeheure Sturzsee überschwemmte das Deck von vorn bis hinten. Mit einem Schlage waren die Masten und mit ihnen die gesamte Takelage heruntergebrochen.

In einem Augenblick war die Katastrophe vollendet, und die »Santa-Maria«, wenigstens was von ihr übriggeblieben war, lag unbeweglich in der Finsternis da unter einem sündflutähnlichen Regen, während der wieder losbrechende Sturm rings um sie heulte.[436]

Quelle:
Michel Verne: Das Reisebüro Thompson und Comp. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XCI–XCII, Wien, Pest, Leipzig 1909, S. 420-437.
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