Dreizehntes Kapitel.

Worin der Reiseausflug der Agentur Thompson ganz ungeahnte Verhältnisse anzunehmen droht.

[447] Längs des flüssigen Saumes, womit das Meer, die Dünen hier bespülend dort ohne sie zu erreichen, die Küste begrenzt, folgte Robert Morgan elastischen regelmäßigen Schrittes der Richtung nach Süden. Um ihnen mehr Mut zu machen, hat er für seine Gefährten die tatsächliche Lage etwas rosiger gefärbt, er selbst täuschte sich darüber jedoch in keiner Hinsicht. Er hatte wenigstens hundertsechzig Kilometer zurückzulegen, ehe er das unter französischem Einfluß stehende Gebiet erreichte.

Hundertsechzig Kilometer, die verlangen, bei der Überwindung von sechs Kilometern in der Stunde, eine dreitägige Wanderung, wenn sie jeden Tag zehn Stunden fortgesetzt wird.

Die ersten zehn Stunden des Marsches wollte Morgan noch heute vollenden. Nachmittag drei Uhr aufgebrochen, gedachte er erst in der Nacht um eins Halt zu machen, und mit Sonnenaufgang weiterzugehen. Damit hoffte er, vierundzwanzig Stunden zu gewinnen.

Die Sonne neigte sich dem Horizonte zu. Noch ist heller Tag, vom Meere strömt aber eine erfrischende Kühle her, die den Mut des Wanderers belebt, der fast seit fünf Stunden beharrlich seinem Wege folgt. Nach einer weitern Stunde wird es Nacht sein, und dann hofft er noch leichter über den ziemlich festen Sand hinzukommen, der dem Fuße einen elastischen Stützpunkt bietet.

Ringsum von Morgan nichts als die Wüste mit ihrer entsetzlichen Traurigkeit. Kein Vogel, kein lebendes Wesen in der grenzenlosen Einöde, die er dann und wann bis zum Horizonte übersehen kann, je nachdem der launische Verlauf der Düne das gestattet.

In dieser düstern Einöde verraten nur selten Gruppen von Zwergpalmen, daß das Leben hier nicht gänzlich erloschen ist.

Der Sturm hat ausgetobt und vom Himmel senkt sich die Majestät des Abends hernieder. Alles ist ruhig und still. Kein Geräusch, außer dem des noch bewegten Meeres, dessen sanftere Wellen an die Küste anschlagen.[447]

Plötzlich bleibt Morgan stehen. Täuschung oder Wirklichkeit? Er glaubt, zwei Zentimeter neben seinem Ohr das Vorbeizischen einer Kugel gehört zu haben, dem ein dumpfer, in der Weltweite des echolosen Strandes bald erstickter Knall folgte.

Mit einem Sprunge hat sich Morgan umgekehrt, und kaum zehn Schritte hinter sich, wohin sich einer auf dem den Laut der Schritte dämpfenden Sande herangeschlichen hatte, sieht er... Jack Lindsay, der noch auf ihn zielt.

Ohne einen Augenblick zu verlieren, stürzte sich Morgan auf den elenden Mordbuben. Da fühlt er sich im Laufe gehemmt. Ein brennender Schmerz wütet in seiner Schulter, und gleich einer trägen Masse sinkt er vorwärts, das Gesicht im Sande vergrabend, nieder.

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Nachdem er seine Schandtat vollbracht hat, entfernt sich Jack Lindsay eiligen Schrittes. Er nimmt sich nicht einmal die Mühe, sich von dem Tode seines Feindes zu überzeugen. Wozu auch? Tot oder verwundet, das ist in dieser Wüstenei ja gleich. So oder so, würde der Sendbote der Schiffbrüchigen sein Ziel nicht erreichen können und jede Hilfe zu spät kommen.

Den Kurier seiner Gefährten aufgehalten zu haben, das war ja etwas, aber doch noch nicht alles. Damit Jack Lindsay seinen ehrlosen Zweck erreichte, mußte die ganze Gesellschaft in seine Hände fallen.

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Morgan lag – ein Leichnam oder ein Verwundeter? – auf dem Sande. Seit er an dieser Stelle zusammenbrach, ist die Nacht verflossen, und die Sonne hat ihren täglichen Kreislauf am Himmel bis zum Versinken unter dem Horizont vollendet, dann ist auch eine zweite Nacht gekommen und schon fast vergangen, denn am östlichen Himmel zieht bereits eine schwache Röte herauf.

In diesen langen Stunden hat keine Bewegung verraten, ob in Morgan noch eine Spur von Leben übriggeblieben war. Doch wenn er auch noch lebte, würde die Sonne, wenn sie zum zweiten Male ihre glühenden Strahlen über ihn ergoß, voraussichtlich seine letzte Stunde bezeichnen.

Da hat sich aber etwas geregt neben dem bewegungslosen Körper. Ein Tier, das in dem noch herrschenden Halbdunkel nicht gut zu erkennen war, scharrt eifrig den Sand weg, worin das Gesicht des Daliegenden ruht. Bald kann die Luft freier in dessen Lungen eindringen, wenn diese die Fähigkeit zu atmen überhaupt noch haben.[448]

Die Folge dieser Veränderung läßt nicht auf sich warten. Morgan stößt einen schwachen Seufzer aus und versucht sich dann zu erheben. Ein grausamer Schmerz im linken Arm streckt ihn wieder keuchend zu Boden.

Es ist ihm aber doch gelungen, seinen Retter zu erkennen.

»Artimon!« ruft er schwach und einer neuen Ohnmacht nahe.

Auf die Nennung seines Namens antwortet Artimon mit lautem Kläffen. Er weiß kaum, was er beginnen soll. Mit feuchter, warmer Zunge leckt er das Gesicht des Verwundeten ab, den er dadurch von dem daran haftenden Sande und darauf angesammelten Schweiße befreit.

Jetzt fängt Morgans Herz wieder an etwas kräftiger zu schlagen. Das Blut strömt durch seine Arterien, die Schläfen klopfen, die Kräfte kehren schnell zurück. Gleichzeitig erwacht auch die Erinnerung wieder und er ruft sich die Umstände ins Gedächtnis zurück, unter denen er zusammengebrochen war.

Jetzt erneuert er vorsichtig seine Bemühung und bald kniet er wenigstens im Sande. Dann schleppt er sich bis zum Meere hin, und das frische Wasser gibt ihn vollends dem Leben zurück.

Nun ist es heller Tag geworden. Mit größter Mühe gelingt es ihm, sich soweit zu entkleiden, daß er seine Verletzung untersuchen kann. Die Kugel hat sich am Schlüsselbein, ohne es zu zertrümmern, platt gedrückt. Nur die Verletzung eines Nervenstranges ist die Ursache des unleidlichen Schmerzes, und seine Ohnmacht hat sich nur infolge des Blutverlustes und der durch den Sand erschwerten Atmung so lange Zeit erhalten. Morgan gibt sich klar Rechenschaft über das alles, und regelrecht verbindet er die Wunde mit seinem in das salzige Wasser getauchten Taschentuche. Das gelähmte Glied erlangt bald wieder einige Beweglichkeit. Wäre nur der Schmerz nicht, der ihn noch quält, so wäre Morgan imstande gewesen, seinen Weg fortzusetzen. Diese Schwäche muß er bezwingen, und auf der Stelle geht er an seine erste Mahlzeit, die er mit Artimon teilt.

Artimon scheint aber nur ungern anzunehmen, was ihm dargeboten wird. Er läuft hierhin und dorthin, scheint offenbar von einer gewissen Unruhe erregt zu sein, was dem Verwundeten mehr und mehr auffällt. Er nimmt den Hund auf den Schoß und streichelt ihn... da bemerkte er plötzlich ein durchnäßtes Papier am Halsbande des Tieres.

»Das Lager überfallen. Von Mauren gefangen genommen. Pip.« Das war die erschreckende Kunde, die Morgan empfing, als er das Blatt mit fieberhafter Hast entfaltet hatte.[449]

Von Mauren gefangen! Alice also auch und Roger ebenfalls, so gut wie Dolly?

Im nächsten Augenblicke hatte Morgan den Rest seiner Lebensmittel schon eingepackt und war aufgestanden. Jetzt galt es keine Minute mehr zu verlieren. Er mußte weitergehen, und er würde gehen. Die karge Mahlzeit hatte ihm die Kraft wiedergegeben, die seinen Willen verdoppelte.

»Artimon!« rief Morgan, schon zum Aufbruche bereit.

Artimon war aber nicht mehr da, und als Morgan sich umsah, bemerkte er einen kaum zu erkennenden Punkt, der sich weiter entfernte und schnell kleiner wurde, längs des Meeres verschwinden. Das war der Hund, der nach Erfüllung seiner Aufgabe zurückeilte, dem, dem sie zukam, Rechenschaft zu geben. Den Kopf gesenkt, den Schwanz zwischen den Beinen und mit rundem Rücken fliegt er dahin, ohne Aufenthalt, ohne sich ablenken zu lassen, so schnell er kann, nur mit dem Gedanken an seinen Herrn.

»Braves Tier!« murmelte Morgan, als er sich zum Weitergehen anschickte.

Mehr mechanisch ließ er einen Blick auf seine Uhr fallen und bemerkte mit Erstaunen, daß sie um vier Uhr fünfunddreißig Minuten stehen geblieben war. Des Morgens oder des Abends? Er erinnerte sich jedoch sehr gut, sie kurz vor dem hinterlistigen Überfall Jacks aufgezogen zu haben. Ihr kleines Stahlherz hat demnach die Nacht und einen ganzen Tag hindurch geschlagen, und erst in der nächsten Nacht hat sein regelmäßiges Ticktack geschwiegen. Bei diesem Gedanken fühlt Morgan Schweißtropfen von seiner Stirn herabrieseln. Er hat also fast dreißig Stunden unbeweglich auf der Erde gelegen. Am Abend des neunten Juli ist er niedergestürzt und erst am Morgen des elften wieder erwacht. Was wird nun aus denen werden, die auf ihn hoffen?

Doch das ist nur ein neuer Grund, sich zu beeilen, und Morgan schreitet tüchtig aus, nachdem er seine Uhr schätzungsweise nach der Sonne gestellt hat, die ungefähr die fünfte Morgenstunde anzeigt.

Bis elf Uhr geht er rasch weiter, dann gönnt er sich eine kurze Rast und fällt, mit dem Kopfe im Schatten einer Zwergpalmengruppe liegend, in erquickenden Schlummer, der ihm außerordentlich wohltut. Nach dem Erwachen um vier Uhr fühlt er sich so energisch und kräftig wie je. Er geht weiter und hält bis zum Abend zehn Uhr nicht wieder an.

Das ergibt zwölf Stunden beschwerlichen Marsches, in denen er mindestens fünfundsiebzig Kilometer zurückgelegt haben muß.[450]

Am andern Morgen bricht er von neuem auf und geht ohne auszuruhen weiter. Da übermannt die Müdigkeit den rastlosen Wanderer. In heftigen Anfällen schüttelt ihn das Wundfieber und seine Verletzung macht ihm unsägliche Schmerzen.

Nach der Mittagsruhe kostet es ihm Mühe, sich wieder auf den Weg zu machen. Leichte Anfälle von Schwindel bringen ihn zum Schwanken, dennoch geht er weiter... noch zehn Kilometer, von dem ihm jeder nächste schwerer fällt als der erste.

Endlich erblickt er in der Dämmerung dunkle Massen. Es ist das Gebiet der Gummibäume. Morgan schleppt sich noch bis zu den ersten hin, sinkt erschöpft davor zusammen und fällt in langen, tiefen Schlaf.

Als er wieder erwacht, steht die Sonne schon hoch über dem Horizonte. Nun ist es der dreizehnte Juli, und Morgan macht sich Vorwürfe, so lange geschlafen zu haben. Die verlorne Zeit muß und wird er wieder einbringen.

Doch wie soll das gelingen bei der Schwäche, die ihn befallen hat? Seine Beine sind schlaff, die Zunge trocken, der Kopf ist ihm schwer. Das Fieber verzehrt ihn, den Arm kann er wegen starker Anschwellung der Schulter nicht bewegen. Doch gleichviel, er muß weiter, weiter, und sollte er sich auf denn Knien fortschleppen.

Im Schatten des Gummibaumes, in dem er sich gestern hingestreckt hat, zwingt ihn der rebellierende Magen, etwas Nahrung zu sich zu nehmen. Er muß essen, um einigermaßen zu Kräften zu kommen; so verzehrt er denn sein letztes Stück Zwieback und schlürft den letzten Tropfen Wasser.

Nun denkt er vor Erreichung seines Zieles nicht wieder Halt zu machen.

Es ist jetzt Nachmittag zwei Uhr. Seit früh um sechs verfolgt Morgan, ohne einmal auszuruhen, seinen endlosen Weg. Schon lange fühlt er, daß er nur noch dahinschleicht und in der Stunde wenig mehr als einen Kilometer zurücklegt. Doch gleichviel, er hat sich gelobt, gegen alles Ungemach zu kämpfen, so lange ihm noch ein Atemzug übrig bleibt.

Doch auch dieser Kampf wird ihm unmöglich. Seine Augen versagen den Dienst, und vor seinen erweiterten Pupillen tanzt es umher wie Bilder eines Kaleidoskops. Sein Herz schlägt matter und matter, als sollte es bald still stehen, der Lunge fehlt es an Luft... Morgan fühlt nur noch, daß er an dem Gummibaume niedergleitet, an den er sich voller Verzweiflung gelehnt hatte.

Da glaubt er – es ist unzweifelhaft eine Halluzination im Fieber – unter dem glänzenden Laubdache der Bäume eine zahlreiche Truppe hinziehen[451] zu sehen. Gewehrläufe blitzen dann und wann auf, weiße Tropenhelme werfen die Strahlen der Sonne zurück.

»Hierher! Zu Hilfe!« versucht Morgan zu rufen.

Doch ach! Dazu fehlt ihm selbst die Stimme. Von der Truppe, die er zu sehen glaubt, hört ihn keiner, alle setzen ihren Weg unbeirrt fort.

»Zu Hilfe!« ruft Morgan noch einmal mit schwacher Stimme, und sinkt, aller Kräfte beraubt, auf der Erde zusammen.

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Die Stunde, wo Morgan dem verzehrenden Klima Afrikas unterlag, war gerade die, zu der er bei seinem Weggange zurückzukehren versprochen hatte. Die Schiffbrüchigen hatten das auch nicht vergessen und zählten die Stunden, bis ihnen die ersehnte Erlösung kommen sollte.

In ihrer Lage war keine größere Veränderung eingetreten, seit sie den Mauren in die Hände gefallen waren. Das Lager befand sich noch immer neben der auf den Strand geworfenen »Santa-Maria«.

Sobald der Kapitän Pip sich darüber klar geworden war, welches neue Unglück die Gesellschaft betroffen hatte, die er zu beschützen bemüht gewesen war, versuchte er überhaupt keinen nutzlosen Widerstand. Er ließ sich mit allen übrigen zu einer bunt durcheinandergewürfelten Menge zusammendrängen, die von einer dreifachen Reihe bewaffneter Afrikaner umringt wurde. Ja, er grollte nicht einmal den beiden wachthabenden Matrosen, die ihre Aufgabe so schlecht erfüllt hatten, daß sie sich ohneweiters überraschen ließen. Das Unheil war nun einmal da, was hätte es also genützt, sich über die beiden Leute zu ereifern?

Der Kapitän Pip zermarterte sich jetzt allein den Kopf darüber, ob er in dieser verzweifelten Lage doch nicht etwas zum allgemeinen Besten tun könnte. Da erschien es ihm sofort geboten, Morgan von den letzten Ereignissen zu unterrichten, wenn es irgend möglich wäre, ihm eine Mitteilung zugehen zu lassen. Ein Mittel dazu besaß der Kapitän, und er beschloß, sich dessen sofort zu bedienen.

Im Halbdunkel schrieb er noch einige Worte auf ein Stück Papier und befestigte es am Halsbande Artimons, dem er sogar noch einen Kuß gab. Dann ließ er den an einem Morgan gehörigen Gegenstande riechen, setzte das Tier auf die Erde und wies es, ihm zuredend, nach Süden hin.

Artimon flog pfeilgeschwind davon und war nach wenigen Sekunden in der zunehmenden Finsternis verschwunden.[452]

Das war ein großes Opfer für den armen Kapitän. Seinen Hund so drohender Gefahr auszusetzen! Weit lieber wäre er gleich selbst gegangen. Er hatte aber doch nicht gezögert, da er es für unumgänglich hielt, Morgan über die Vorkommnisse aufzuklären, die über dessen Beschlüsse ja von Einfluß sein konnten.

Trotzdem daß er sich das sagte, war die nächste eine recht schlechte Nacht für den Kapitän, der in Gedanken seinen Hund längs der von den Wogen des Ozeans gepeitschten Ufer begleitete.

Der anbrechende Tag zeigte erst den ganzen Umfang des Unglücks. Das Lager war verwüstet, alle Zelte waren umgerissen. Die aufgesprengten Kisten des Walles ließen ihren Inhalt sehen. Alles persönliche Eigentum der Schiffbrüchigen lag zu einem Haufen zusammengeworfen da: die spätere Beute des brutalen Siegers.

Außerhalb des Lagers bot sich dem Auge ein noch traurigerer Anblick. Auf dem Sande, worüber das Licht des Morgens hinwegstrich, lagen zwei im noch herrschenden Halbdunkel doch deutlich sichtbare Körper, und in den beiden Leichen erkannte der Kapitän die zwei Seeleute. Wie froh war er da, die beiden Armen nicht erst in seinem Innern angeklagt zu haben. Beiden war fast genau an gleicher Stelle ein Dolch bis ans Heft in die Brust gestoßen.

Als es heller Tag geworden war, kam unter die Afrikaner eine gewisse Bewegung. Plötzlich trat einer, jedenfalls der Scheik, aus ihrer Mitte hervor und ging auf die Gruppe der Schiffbrüchigen zu. Der Kapitän trat ihm sofort entgegen.

»Wer bist du? fragte der Scheik in schlechtem Englisch.

– Der Kapitän.

– Du hast den Befehl über diese Leute hier?

– Über die Seeleute, ja; die andern sind Passagiere.

– Passagiere? wiederholte der Maure etwas ungläubig. Nimm die, die dir zu gehorchen haben, mit dir weg. Ich will mit den übrigen sprechen,« setzte er nach kurzem Stillschweigen hinzu.

Der Kapitän wich aber nicht von der Stelle.

»Was willst du mit uns anfangen?« wagte er ruhig zu fragen.

Der Maure machte eine ausweichende Bewegung.

»Das wirst du gleich erfahren, sagte er. Geh!«

Ohne weitern Widerspruch führte der Kapitän den erhaltenen Befehl aus. Bald bildeten er und seine Leute eine von den Touristen abgesonderte Gruppe.[453]

Der Scheik schritt mitten durch diese langsam hindurch und fragte einen nach dem andern nach allen Seiten aus. Wer war der hier? Wie war sein Name? Welches sein Vaterland? Wie groß sein Vermögen? Hatte er zu Hause noch Familie zurückgelassen? Es sah fast aus wie ein wirkliches Frage- und Antwortspiel, das er unablässig wiederholte und bei dem jeder nach seiner Weise antwortete. Der eine sagte unbefangen die Wahrheit, der zweite schrieb sich einen ihm nicht zukommenden höhern gesellschaftlichen Rang zu, und noch andre machten sich ärmer, als sie es tatsächlich waren.

Als die Reihe an die amerikanischen Damen kam, antwortete Roger für diese, und hielt es für geraten, ihnen eine besondere Wichtigkeit beizulegen. Er meinte, das wäre das beste Mittel, ihnen eine rücksichtsvolle Behandlung zu sichern. Der Scheik unterbrach ihn jedoch gleich nach den ersten Worten.

»Mit dir rede ich jetzt nicht, sagte er ohne barsche Stimme. Sind diese Frauen denn stumm?«

Roger schwieg bestürzt einige Augenblicke.

»Bist du ihr Bruder... ihr Vater... oder vielleicht ihr Mann?

– Diese hier ist meine Frau,« glaubte Roger jetzt angeben zu können, indem er auf Dolly wies.

Der Scheik schien befriedigt zu sein.

»Gut, erklärte er. Und die da...?

– Das ist die Schwester meiner Frau, antwortete Roger. Alle beide sind in ihrer Heimat sehr hochangesehene Damen.

– Hochangesehene Damen? knurrte der Scheik, auf den diese Worte offenbar nicht den geringsten Eindruck machen.

– Ja, sehr hohe Damen... Königinnen.

– Königinnen, wiederholte der Scheik.

– Kurz, ihr Vater ist ein großer Häuptling,« erklärte Roger, um sich durch ein bekanntes Bild verständlicher zu machen.

Diese Bildersprache hatte auch die erwünschte Wirkung.

»Ja ja, General, General, lautete die freie Übersetzung des Mauren, der dazu ein recht zufriedenes Gesicht machte. Wie heißt denn die Tochter des großen Häuptlings?

– Lindsay, antwortete Roger.

– Lindsay, wiederholte der Maure, der die Nennung dieses Namens aus unerklärlichen Gründen mit besonderer Befriedigung zu vernehmen schien. Lindsay,[454] ja, das ist gut!« setzte er noch hinzu, während er sich schon einem andern Gefangenen zuwandte, und sich von Roger de Sorgues und dessen beiden Schützlingen fast freundlich verabschiedete.

Der nächste Gefangene war kein andrer als Thompson. Wie hatte der in seiner Wichtigtuerei nachgelassen, der unglückliche General-Unternehmer! Jetzt ebenso schüchtern wie früher überlegen, duckte er sich möglichst zusammen.

»Was trägst du da? fragte der Scheik barsch.

– Das hier? stammelte Thompson wie vor den Kopf geschlagen.

– Ja... den Sack da, meine ich. Gib ihn her!« befahl der Maure, der schon nach der kostbaren Geldkatze faßte, die Thompson gleich einem Gürtel am Leibe trug.

Dieser wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Zwei Afrikaner stürzten sich auf ihn, und im Augenblicke sah sich Thompson seiner teuern Last entledigt, ohne daß er sich der Beraubung im geringsten zu widersetzen wagte.

Der Scheik öffnete den eroberten Geldsack. Seine Augen leuchteten vor Freude.

»Gut!... Sehr schön!« rief er.

Sein völlig niedergeschmetterter Gegner war freilich nicht derselben Ansicht.

Wie sich's gehörte, präsentierte nach Thompson gleich Van Piperboom – aus Rotterdam – seine umfängliche Persönlichkeit. Der schien aber dabei sehr gleichgültig zu sein. Friedlich verwandelte er große Mengen Tabak in Rauchwolken, während er die kleinen Augen neugierig umherschweisen ließ.

Der Scheik betrachtete den blonden Riesen eine Zeitlang mit deutlicher Bewunderung.

»Dein Name? fragte er endlich.

Ik begrijp niet wat U van mij wilt. Mynheer de Chejk, mar ik verondenset, dat U wenscht te weten, welke mijn nam is en uit welk land ik ben. Ik ben Heer Van Piperboom en woon te Rotterdam, een der voornaamste steden van Nederland

Der Scheik spitzte die Ohren.

»Dein Name? fragte er noch einmal.

Ik ben Heer Van Piperboom uit Rotterdam, wiederholte Van Piperboom, indem er melancholisch hinzusetzte:

Overigens, wardoe dient het, U dit te zeggen? Het is blijkhaar, dat ik toch maar Hebreensch voor U spreek, zooals ik dit voor den anderen ook doe[455]

Der Scheik zuckte mit den Schultern und setzte seine Ausfragung fort, ohne den unverständlichen Holländer eines höflichen Grußes zu würdigen.

Die Wiederholung derselben Fragen hörte nicht auf. Er richtete sie an alle und horchte aufmerksam auf die Antworten. Nichts entging seiner sorgfältigen Erkundigung.

Auffällig blieb es jedoch, daß er – ob infolge einer unerklärlichen Zerstreutheit oder absichtlich – nur einen nicht fragte, und das war Jack Lindsay.

Als Alice die Reihen der Schiffbrüchigen musterte, bemerkte sie zu ihrer Verwunderung ihren Schwager, der sich unter die andern gemischt hatte. Seitdem verlor sie ihn nicht mehr aus den Augen und bemerkte mit Beunruhigung, daß er allein von der allgemeinen Regel eine Ausnahme bildete.

Die vorherige Abwesenheit Jack Lindsays, seine Rückkehr und die Art und Weise, wie er von dem Mauren jetzt übergangen wurde, diese Reihe von Tatsachen flößte Alicen eine peinliche Beängstigung ein, die sie mit aller Energie kaum zu unterdrücken vermochte.

Nach Schluß der Befragung wollte sich der Scheik schon unter seine Leute zurückziehen, als der Kapitän Pip ihm mutig den Weg vertrat.

»Willst du mir nun sagen, was du eigentlich mit uns vor hast?« fragte er nochmals mit einer Seelenruhe, die nichts zu stören imstande war.

Der Scheik runzelte die Brauen und schüttelte nach kurzem Sinnen leicht den Kopf.

»Nun ja, antwortete er dann, denen, die Lösegeld bezahlen können, wird die Freiheit wiedergegeben werden.

– Und die andern?

– Die andern!« wiederholte der Maure.

Dann wies er mit der Hand nach dem Horizonte.

»Unser Afrika braucht Sklaven sehr nötig, sagte er. Die Jungen haben die Kraft und die Alten die Weisheit.«

Unter den Schiffbrüchigen führte dieser Ausspruch zu einer wahren Explosion der Verzweiflung. Der Tod oder die Sklaverei war es also, was sie erwartete.

Nur Alice bewahrte inmitten dieser allgemeinen Bestürzung ungeschwächt ihren Mut, den sie aus dem Vertrauen auf Morgan schöpfte. Morgan würde auf jeden Fall die französischen Vorposten erreichen. Er würde seine Unglücksgenossen schon zur rechten Zeit erretten. Hiergegen konnte in ihr kein Zweifel aufkommen.[456]

Eine so gewisse Zuversicht hat allemal eine große Kraft der Überredung, und an ihrem hartnäckigen Glauben richtete sich auch die Hoffnung der andern wieder mehr auf.

Wie viel stärker wäre aber ihre vollkommene Zuversicht erst gewesen, wenn sie an Stelle des Kapitäns Pip gestanden hätte. Am Abend gegen acht Uhr hatte dieser eine ungemessene, von ihm aber sorgfältig verheimlichte Freude, als er Artimon wieder auftauchen sah, dessen Rückkehr übrigens ebenso unbemerkt wie sein Weggang erfolgte.[457]

Artimon kam fast gar nicht der Name eines Tieres zu. Statt in gestrecktem Galopp wie ein Wahnsinniger hergelaufen zu kommen, war er erst längere Zeit sorglos um das Lager herumgetrottet, ehe er vorsichtig in dieses hineinschlüpfte. Wie hätte den Mauren etwas daran auffallen sollen, daß dieser Wauwau in der Umgebung eine kleine Morgenpromenade machte?


Der Scheik öffnete den eroberten Geldsack. (S. 455.)
Der Scheik öffnete den eroberten Geldsack. (S. 455.)

Der Kapitän nahm den Hund zärtlich auf den Schoß, und bei der Erregung, die sein Herz ungestümer klopfen ließ, dankte er dem intelligenten Tiere in derselben Weise, in der er es angefeuert hatte, als er es wegschickte... durch einen Kuß, was sonst wirklich nicht seine Gewohnheit war. Auf den ersten Blick hatte er sich von dem Verschwinden des Billetts überzeugt, das demnach jedenfalls an seine Adresse gelangt war, und aus dieser Tatsache hatte er einen dem Ausgang des Abenteuers günstigen Schluß gezogen.

Nur ein Gedanke verdarb ihm noch etwas seine Freude: Artimon hatte, da er um ein Uhr fortgelaufen und am Morgen um acht Uhr wiedergekommen war, für Hin- und Rückweg sieben Stunden gebraucht für die Strecke, die zwischen Robert Morgan und den Schiffbrüchigen lag. Nach anderthalbtägiger Wanderung war dieser demnach höchstens dreißig Kilometer weit gekommen. Hier lag also etwas Unerklärliches vor, das recht geeignet war, jemand, der den Dingen nicht mit Fassung ins Gesicht sah, schwer zu beunruhigen, ein Geheimnis, in das der Kapitän sich hütete, seine Gefährten einzuweihen.

Als diese sich allmählich von ihrem Schrecken erholt hatten, fanden sie auch die Hoffnung wieder, die die Menschenseele ja nur gleichzeitig mit dem Leben gänzlich verläßt, und so verliefen der 13. und der 14. Juli so ziemlich leidlich.

Diese Tage benützten die Mauren, die »Santa-Maria« vollends zu entladen und sogar das Schiff selbst abzubrechen, soweit das möglich war. Dessen Eisenstücke, Werkzeuge, Schrauben, Bolzen u. dgl. bildeten für sie höchst wertvolle Schätze, die bald auf dem Strande in einem immer wachsenden Haufen lagen, womit später die Meharas der Bande beladen werden sollten.

Am 14. Juli war diese Arbeit vollendet, und die Mauren begannen dann Vorbereitungen zu einem – wie es schien – baldigen Aufbruche. Voraussichtlich würden alle den Strand schon morgen verlassen, wenn sie bis dahin nicht befreit waren.

Dieser 14. Juli kam den unglücklichen Schiffbrüchigen außerordentlich lang vor. Seit gestern hätte Morgan, seiner eignen Bestimmung nach, schon[458] zurück sein müssen. Doch selbst wenn man allen Schwierigkeiten einer solchen Wanderung Rechnung trug, fing die Verspätung an, etwas auffällig zu werden. Mit Ausnahme des Kapitäns, der sich hütete, seine Gründe anzugeben und seine Gefährten die Augen nutzlos anstrengen ließ, im Süden den Horizont abzusuchen, verwunderten sich alle darüber mehr und mehr, ja es kam infolgedessen zu einer so gereizten Stimmung, daß sogar Anklagen gegen Morgan laut wurden. Warum, meinten einige, sollte er denn überhaupt zurückkehren? Jetzt, wo er voraussichtlich in Sicherheit war, wäre es von ihm ja eine Torheit, sich neuen Gefahren auszusetzen.

Alicens Seele kannte diese Undankbarkeit, diesen Kleinmut nicht. Daß Morgan ein falsches Spiel triebe, einem solchen Verdacht gab sie gar nicht Raum. Tot?... Das ja... vielleicht... Und doch ertönte da so fort in ihr eine Stimme, die schon gegen die Möglichkeit einer solchen Annahme Widerspruch erhob, und sobald sie diese einen Augenblick erwogen hatte, gewann sie ja sehr bald das unerschütterliche, stolze Vertrauen auf ihr Glück und ihre Zukunft wieder.

Der ganze Tag des 14. Juli verging jedoch, ohne ihrem Optimismus recht zu geben, und in der darauffolgenden Nacht war es nicht anders. Die Sonne ging am 15. auf, ohne daß in der Lage der Schiffbrüchigen eine Änderung eingetreten wäre.

Schon mit dem Frührot beluden die Mauren ihre Kamele, und um sieben Uhr des Morgens gab der Scheik das Zeichen zum Aufbruche. Eine Abteilung Berittener eröffnete den Zug, und die Touristen mußten sich gefallen lassen, in zwei Reihen einzeln einander zu folgen.

Zwischen der doppelten Reihe ihrer Kerkermeister gingen die männlichen und die weiblichen Gefangenen zu Fuß je in einer Linie hintereinander und jeder mit dem nächsten verbunden mittels eines um den Hals und um die Handwurzeln geschlungenen langen Strickes. Ein Entweichen war unter diesen Verhältnissen ganz unmöglich, selbst wenn die todbringende Wüste, die den Zug umgab, kein hinreichendes Hindernis gewesen wäre.

Der Kapitän Pip, der ganz vorn ging, blieb gleich nach den ersten Schritten entschlossen stehen und rief den herzueilenden Scheik an.

»Wohin schleppst du uns?« fragte er ohne Umstände.

Statt einer Antwort erhob der Scheik seine Nilpferdknute und schlug den Gefangenen ins Gesicht.[459]

»Vorwärts, Christenhund!« rief er barsch.

Der Kapitän, dem das Blut aus der erhaltenen Wunde floß, rührte sich aber noch nicht, sondern wiederholte ganz gelassen dieselbe Frage.

Wiederum erhob sich schon die Knute. Als er aber das energische Gesicht dessen sah, der ihn fragte und an die lange Reihe der Gefangenen dachte, die er zu führen hatte und deren etwaige Revolte ihn nicht wenig in Verlegenheit gesetzt hätte, da senkte der Scheik die schon drohend geschwungene Waffe.

»Nach Timbuktu!« antwortete er, während der Kapitän, hierdurch befriedigt, ruhig weitermarschierte.

Quelle:
Michel Verne: Das Reisebüro Thompson und Comp. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XCI–XCII, Wien, Pest, Leipzig 1909, S. 447-460.
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