Vierzehntes Kapitel.

Befreit!

[460] Nach Timbuktu! Das heißt nach der Stadt, wo sich alle Geheimnisse des geheimnisvollen Afrika zu zentralisieren scheinen, nach der Stadt mit den Jahrhunderte lang nicht aufzusprengenden Toren, die sich doch bald darauf vor den französischen Kolonnen öffnen sollten.

Der Maure konnte das aber nicht vorhersehen und führte seine Gefangenen nach diesem sagenhaften Mittelpunkt alles Handelsverkehrs der Wüste, nach dem großen Sklavenmarkte.

Tatsächlich war kaum zu erwarten, daß er sie selbst dahin bringen würde. Die Strandräuber, die an der Küste des Atlantischen Ozeans hausen, entfernen sich nur selten weit vom Meere. Wahrscheinlich würde die Maurenbande ihre Gefangenen unterwegs, wie das gewöhnlich geschieht, an eine Karawane von Tuaregs verkaufen, die sie dann weiter forttrieben.

Das war jedoch für die unglücklichen Schiffbrüchigen von keiner besondern Bedeutung. Ob sie sich unter der Führung eines Maurenscheiks oder eines Tuaregscheiks befanden, jedenfalls hatten sie fünfzehnhundert Kilometer zurückzulegen, und eine solche Wanderung würde wenigstens zweiundeinenhalben Monat beanspruchen. Wie viele von denen, die mit fortgingen, würden dann[460] wohl das ferne Ziel erreichen? Wie viele bleichende Knochen würden an der langen Straße liegen bleiben, an deren Seite schon die unzähliger Unglücklicher lagen?

Der erste Tag verlief ja noch ziemlich erträglich. Alle hatten ausgeruht, gutes Wasser war reichlich vorhanden gewesen. Das würde aber anders werden, wenn von Meile zu Meile die ermüdeten Füße sich blutig gelaufen hatten, wenn nichts mehr da sein würde, den von der brennenden Sonne erweckten Durst zu löschen und höchstens verdorbenes Wasser in spärlicher Menge verteilt werden konnte.

Hamilton und Blockhead wenigstens würden diese Qualen nicht zu erdulden haben, von denen sie ein mitleidiger Tod höchstwahrscheinlich erlöste. Vom Fieber geschwächt und kaum in die Wiedergenesung eingetreten, fehlte es ihnen von Anfang an an Kräften. Schon am Vormittage hatten sie unerträglich bei der ersten Marschstrecke gelitten, und sanken, als Rast gemacht wurde, wie leblose Massen zusammen. Am Nachmittage gestaltete sich das natürlich noch weit schlimmer. Ihre halb erstarrten Glieder versagten den Dienst, und nach wenigen Kilometern war es ihnen unmöglich, nur noch einen einzigen Schritt zu tun.

Von da an begann eine ununterbrochene Leidenszeit für sie und für ihre Gefährten. Bei jedem Schritte niedersinkend und sich erhebend, um nur wieder zu fallen, wurden sie von der Kolonne im wahrsten Sinne des Wortes nur noch fortgeschleppt. Als dann am Abend schließlich Halt gemacht wurde, sahen sie mehr Leichen als lebenden Wesen ähnlich.

Zum Glück vertrugen die andern Schiffbrüchigen alle Strapazen besser.

An der Spitze ging, wie erwähnt, der Kapitän Pip, etwas verwirrt inmitten der Dünen, die Wogen ähneln, zwischen die ein Schiff sich schwerlich hätte hereinwagen dürfen. Hegte der Kapitän wirklich noch irgend eine schwache Hoffnung? Das war wohl anzunehmen, denn ein Charakter seines Schlages konnte der Verzweiflung unter keinen Umständen verfallen. Sein wie gewöhnlich strenges und kaltes Gesicht gab in dieser Beziehung freilich keinerlei Hinweis. Das war übrigens gar nicht nötig. Schon sein Anblick genügte, das Herz der Verzagtesten mit neuem Mute zu erfüllen.

Die Verletzung von dem Knutenschlage war an der Sonne allein eingetrocknet. Von dem Blute, das anfänglich ziemlich stark daraus hervorgequollen war, waren der Bart, die Brust und die Schulter des Kapitäns rötlich gefärbt. Manche hätten ja, so mißhandelt, ein abschreckendes Aussehen haben können,[461] das war aber nicht das Charakteristische am Kapitän, aus dessen ganzem Wesen nur ein unbeugsamer Wille sprach. Als erster seiner Seeleute marschierte er an der Spitze der Kolonne ebenso unerschüttert wie seine Seele, und nur daß man ihn ansah, gab einem des Mannes Energie und zähe Hoffnung wieder.

Seit seinem letzten Gespräch mit dem Scheik hatte er nicht zwanzig Worte hören lassen, und seine seltenen Auslassungen richteten sich ausschließlich an den getreuen Artimon, der mit heraushängender Zunge neben seinem Herrn hertrottete.

»Master!« hatte der Kapitän anfänglich einfach und mit einer Zärtlichkeit in der Stimme gerufen, die der Hund vollständig erkannte. Eine halbe Stunde später erwies sich Pip schon mitteilsamer.

Nachdem er vorher wütend geschielt und verächtlich in der Richtung nach dem Scheik hin ausgespuckt hatte, begann er:

»Master, beim Barte meiner Mutter, da sitzen wir schön in der Klemme!«

Und Artimon schüttelte die langen Ohren, als sähe er sich zu einer ihm gar nicht passenden Zustimmung gezwungen.

Seitdem hatte der Kapitän den Mund nicht mehr aufgetan. Von Zeit zu Zeit sah der Mensch den Hund und der Hund den Menschen an, das war alles. Diese Blicke waren aber ebensoviel wert wie Worte.

Bei der ersten Rast setzte sich Artimon auf die Hinterfüße, während sein Herr sich auf dem Sande aus streckte. Und er teilte noch mit seinem Hunde die kleine Portion Wasser, die er wie die übrigen zugeteilt erhalten hatte.

Nach dem Kapitän kamen die Offiziere, die Besatzung und die Aufwärter von der untergegangenen »Seamew«, folgten einander aber ohne Rücksicht auf ihre Stellung. Was mochten die alle denken? Jedenfalls unterordneten sie ihre persönlichen Ansichten denen des Kommandanten, dessen Sache es war, für alle zu denken. So lange der Führer Vertrauen hatte, verzweifelten auch sie noch nicht. Wenn der Befehl zum Handeln gegeben würde, würde er sie bereit finden, welchen Augenblick das auch geschehen möchte.

Auf den letzten Matrosen folgte der erste Passagier, an den sich die lange Reihe seiner Gefährten anschloß.

Die meisten Frauen klagten mit gedämpfter Stimme, und vorzüglich die Gattinnen und die Töchter Hamiltons und Blockheads seufzten ohnmächtig bei der Agonie ihrer Väter und ihrer Gatten.

Die Männer erwiesen sich im allgemeinen standhafter, während jeder seine Energie nach der Art seines besondern Charakters zeigte. Wenn Piperboom[462] Hunger hatte, so litt Johnson an Durst. Wenn der Pfarrer Cooley im Gebet eine wirksame Unterstützung fand, ließ Baker seiner Wut freien Lauf und hörte nicht auf, die schrecklichsten Drohungen auszustoßen. Der ganz niedergeschmetterte Thompson dachte wieder nur an seine Geldkatze, die ihm so mir nichts dir nichts geplündert worden war.

Roger fand noch Mut zu spottender Ironie. Neben Dolly hergehend, bemühte er sich, das junge Mädchen dadurch in besserer Stimmung zu erhalten, daß er sie zum Lachen brachte... zum Lachen durch seine feinsinnige, heldenmütige Heiterkeit. Anfänglich ging er da auf sein gewöhnliches Thema ein, indem er alle Überraschungen dieser kaum glaublichen Reise gehörig durchhechelte. Im Grunde wäre ja nichts komischer als das Schauspiel, Leute zu beobachten, die zu einer Lustfahrt nach Madeira abgereist und nun zu Forschern in der Sahara geworden waren. Dolly erschloß sich aber nicht das Verständnis der Feinheiten dieser Komik, und Roger, der bei dem Spiele verharrte und sich schwur, dem jungen Mädchen das Ungemach des Marsches vergessen zu machen, wechselte gar hinüber auf das Feld der witzigen Wortspiele. Da schwatzte er zuerst mehr oder weniger lustigen Unsinn, mehr oder weniger willkommene Worte, für die ihm alles gut genug war, der Scheik, die Mauren, die Sahara, der Himmel und die Erde, bis endlich ein herzliches Lachen seine Bemühungen belohnte. Roger schloß dann, daß die ganze Geschichte ja gar nicht so ernsthafter Natur sei, daß der Handstreich der Raubgesellen so nahe dem Senegal die reine Tollheit wäre, daß man spätestens morgen frei sein oder sich nötigenfalls auf eigne Faust befreien würde.

Wie hätte Dolly so zuversichtlichen Äußerungen gegenüber kein Vertrauen haben sollen? Konnte die Sachlage wirklich eine so ernste sein, wenn Roger so leichten Herzens darüber spottete? Sie brauchte auch nur ihre Schwester anzusehen, um ihre letzten Zweifel schwinden zu lassen.

Alice scherzte zwar nicht, denn das war nicht ihre Gewohnheit, auf ihrem Antlitz aber spiegelte sich die Heiterkeit ihrer Seele. Trotz des Abmarsches der Karawane, trotz der Zeit, die dahinging... trotz allem zweifelte sie nicht an einer Befreiung. Ja, diese würde nicht ausbleiben. Roger hatte völlig recht, das zu versichern, die jetzige Lage würde nur eine Prüfung von kurzer Dauer sein.

Unterstützt, fast getragen von dem starken Willen der beiden, verfiel Dolly keiner Entmutigung, und als sie am Abend im Schutze eines Zeltes einschlief, das der Scheik aus unbekannten Gründen für die beiden gefangenen Damen hatte aufschlagen lassen, träumte sie von der Gewißheit, morgen befreit zu sein.[463]

Das Morgenrot erweckte sie jedoch noch als Gefangene. Die erwarteten Retter waren in der Nacht nicht erschienen, und es begann ein neuer Tag, der weitere Kilometer Landes zwischen die Schiffbrüchigen und das Meer bringen sollte.

Zu ihrem großen Erstaunen erfolgte aber keine Aufforderung zum Abmarsche, wenigstens nicht zu der Zeit wie tags vorher. Die Sonne stieg über dem Horizonte auf, ohne daß sich die Begleitmannschaft zum Aufbruche rüstete.

Was konnte wohl die Ursache dieser Verlängerung des Aufenthaltes sein? Man hätte dafür ja viele verschiedene Vermutungen haben können, doch schwebte nur Alice eine annehmbare Hypothese bezüglich der auffälligen Verzögerung des Marsches vor.

Am Morgen als erste von allen erwacht, hatte sie Jack Lindsay im Gespräch mit dem Scheik gesehen. Während dieser ihm mit der gewohnten Ruhe des Orientalen zuhörte, sprach Jack mit so großer Lebhaftigkeit, wie sie bei seinem verschlossenen Charakter nur möglich war. Offenbar suchte er jenem irgendetwas zu beweisen und ihn oder sich über etwas zu beklagen. Übrigens schienen der Scheik und er aber die besten Freunde zu sein, und so merkwürdig das sein mochte, Alice hatte das Gefühl, daß die beiden in näherer Beziehung zueinander stünden. Ihr Scharfsinn täuschte sie auch wirklich nicht. Ja, der Scheik und Jack kannten schon einander.

Jack, der das Dazwischenkommen Artimons nicht hatte ahnen können, hielt, da er Morgan zusammenbrechen sah, seinen Feind für tot und hatte sich dann beeilt, einen von ihm entworfenen Plan zur Ausführung zu bringen.

Dieser Plan war von erschreckender Einfachheit.

Da er sich verhindert sah, sich seiner mitten zwischen den andern zu gut beschützten Schwägerinnen zu bemächtigen, ohne sich dabei selbst der größten Gefahr auszusetzen, wollte er gleich alle dem Verderben weihen. Er hatte zu diesem Zwecke mit der vermeintlichen Ermordung Morgans angefangen, und als er dadurch das Eintreffen jeder Hilfe verhindert zu haben glaubte, war er zur Aufsuchung von Helfershelfern in die Wüste weiter gegangen. Auf der Küstenstrecke, nach der Raubgesellen häufig von Schiffbrüchigen hierhergelockt werden, die dann wie die Raben über ein Schlachtfeld herfallen, würde er jedenfalls eine solche Bande treffen, wenn er auch mehrere Tage danach umherirren müßte.

So lange sollte er nicht zu warten brauchen. Vor Ausgang des nächsten Tages wurde er schon unerwartet von einer Rotte des Mauren Oulad-Delim aufgegriffen und vor deren Scheik geführt, mit dem er jetzt sprach, doch als ein Gefangener, der hiermit alle seine Wünsche erfüllt sah.[464]

Dieser Oulad-Delim, der des Englischen ein wenig mächtig war, hatte seinen Gefangenen sofort in dieser Sprache auszufragen versucht, und Jack hatte darauf bereitwilligst geantwortet. Sein Name wäre Jack Lindsay, hatte er gesagt, und ganz in der Nähe befänden sich sehr viele Europäer, darunter seine eigne Frau, die sehr reich sei und gewiß ein großes Lösegeld für die eigne Freilassung und die ihres Gatten zu zahlen bereit sein werde.


Der Kapitän teilte noch mit seinem Hunde die kleine Portion Wasser... (S. 462.)
Der Kapitän teilte noch mit seinem Hunde die kleine Portion Wasser... (S. 462.)

Hierdurch auf die rechte Fährte gebracht, hatten dann die Mauren das Lager überfallen, und Roger hatte in bester Absicht die Aussagen Jack Lindsays im großen und ganzen bestätigt. Daraus erklärt sich auch die Befriedigung des Scheiks, als er den Namen der einen Gefangnen und auch nochmals hörte, daß diese und ihre Familie sehr reich wären. Damit erklärte es sich ferner, daß er zu den Aussagen des angeblichen Ehemannes der Betreffenden Zutrauen bekam und auf die Vorstellung des Elenden einging, schon am zweiten Tage einmal einen eintägigen Halt zu machen.

Jack Lindsay ging langsam auf sein Ziel zu. Die Karawane den Mauren in die Hände gespielt zu haben, konnte für ihn nur dann von Nutzen sein, wenn es ihm gelang, selbst wieder frei zu kommen.

Er hatte es deshalb gewagt, dem Scheik das Törichte seines Vorhabens vorzustellen, hatte ihm gesagt, daß niemand imstande sein werde, ein Lösegeld zu bezahlen, das er für die Freilassung aller fordern könnte, wenn er die ganze Reisegesellschaft bis Timbuktu mitnähme. Was besonders seine Frau anging, die nach ihm, Jack Lindsay, in der Lage sei, schon allein ein großes Lösegeld zu entrichten, wie könnte sie sich das beschaffen, wenn ihr die Möglichkeit entzogen wäre, sich mit Amerika oder Europa in Verbindung zu setzen? Wäre es da nicht weit richtiger, wenn einer der Passagiere, und am besten Jack Lindsay, unter Begleitung bis nach den französischen Besitzungen geführt würde, wo es ihm leicht sein würde, sich einzuschiffen. Er würde sich dann beeilen, das Lösegeld seiner Frau und gleichzeitig auch das der andern Schiffbrüchigen zu beschaffen. Dann wollte er nach einem zu bestimmenden Orte, vielleicht nach Tripolis oder auch nach Timbuktu, zurückkehren, um da die für die Freilassung aller verabredeten Summen abzuliefern.

Jack Lindsay hatte sich bemüht, dem Mauren die Richtigkeit seiner Bemerkungen klar zu machen, und er hatte auch die Genugtuung, daß dieser auf seine[467] Vorschläge einging. Die Folge davon war die Anordnung des Scheiks, daß ein ganzer Tag gerastet werden sollte, an dem er das Lösegeld der verschiedenen Gefangenen festzusetzen gedachte.

Jack Lindsay näherte sich seinem Ziel. Die Lösegelder, die er angeblich auftreiben wollte, wollte er natürlich für sich behalten; die Schiffbrüchigen mochten dann sehen, wie sie sich selbst aus der Schlinge befreiten. Er würde sich damit begnügen, nach Amerika zu gehen, wo er früher oder später das Ableben seiner Schwägerin glaubhaft nachzuweisen hoffte, und sie infolgedessen beerben mußte... wäre es auch nur mit Hilfe kleiner Unregelmäßigkeiten, die er bei der Gewandtheit, deren er sich schmeichelte schon geschickt zu verdecken wissen würde.

Der Gedanke freilich an so viele mögliche Ankläger, die zu furchtbaren Anklägern werden könnten, wenn nur einer seine Freiheit wieder erlangte, verließ ihn nicht ganz. Er hatte aber keine Wahl; wie sollte jedoch einer von den Gefangenen, die von den Afrikanern überwacht wurden, und überdies hier durch die Wüste, jemals entfliehen können?

Eine Schwierigkeit hatte Jack indes noch immer zu überwinden. Wenn er ohne auf ein Hindernis zu stoßen fortgehen wollte, konnte das natürlich nur unter der Bedingung geschehen, daß alle dafür stimmten. Der Scheik würde den Schiffbrüchigen ja die Summen nennen, die er von jedem von diesen verlangte, und ihnen auch den Namen des gewählten Sendboten nicht verschweigen. Jack mußte deshalb die Komödie seiner Hilfswilligkeit für alle bis zu Ende spielen, er mußte zuverlässige Versprechungen abgeben und von allen Briefe mitnehmen, die er als nutzlose Korrespondenz bei der ersten Gelegenheit ins Wasser zu werfen gedachte. Jack hoffte jedoch keine Schwierigkeiten zu finden, da er mit Recht annehmen mußte, daß seine Gefährten keine Ursache hätten, ihn mehr als irgend einen andern zu beargwöhnen.

Unglücklicherweise stellte er sich das aber weniger leicht vor, wenn er an seine Schwägerin dachte. Deren Zustimmung war, ja gerade diese war für ihn schließlich ausschlaggebend, er wußte aber nicht, ob er sie – die Zustimmung Alicens – erlangen würde.

Doch warum nicht? sagte er sich. Wenn er dann aber wieder an die Art und Weise dachte, wie Alice den Namen abgeschlagen hatte, den er ihr vor einiger Zeit anbot, und wenn er sich des Vorganges am Curral das Freias erinnerte, konnte er sich eine gewisse Unruhe nicht verhehlen.[468]

Zwischen ihm und seiner Schwägerin war in jedem Falle eine vorherige Auseinandersetzung nötig. Sein Zweifel bedrückte ihn aber so sehr, daß er diese am heutigen Rasttage von Stunde zu Stunde verschob, und es wurde schon dunkel, als er sich entschloß, der Sache ein Ende zu machen, und das Zelt betrat, worin seine Schwägerin Unterkunft gefunden hatte.

Alice war allein. Auf dem Erdboden sitzend und den Kopf auf die Hand gestützt, dachte sie über ihre Lage nach. Eine elende Öllampe erhellte den Raum nur sehr dürftig, so daß außerhalb des Zeltes kein Licht zu sehen war.

Als sie Jack eintreten hörte, sprang sie schnell auf und wartete, daß er die Ursache seines Besuches erklären würde. Jack war aber in der größten Verlegenheit und wußte nicht, wie er seine Mitteilung beginnen sollte.

Lange Zeit stand er schweigend da, ohne daß Alice einen Schritt tat, ihn seiner Verlegenheit zu entreißen.

»Guten Abend, Alice, sagte Jack endlich. Du wirst entschuldigen, daß ich dich in dieser Stunde noch belästige. Ich habe dir aber etwas mitzuteilen, was keine Verzögerung zuläßt.«

Alice schwieg noch immer ohne die geringste Neugier zu verraten.

»Du hast doch ohne Zweifel bemerkt, daß die Karawane heute nicht weitergezogen ist, fuhr Jack mit zunehmender Ängstlichkeit fort, und du wirst dich nicht wenig gewundert haben. Ich nicht minder, bis der Scheik mir heute Abend Aufschluß über sein auffälliges Verhalten gab.«

Hier machte Jack eine Pause, da er auf ein ermutigendes Wort wartete, das aber nicht kam.

»Wie dir bekannt ist, nahm er dann wieder das Wort, ist es die gemeine Habgier, die die Mauren veranlaßt hat, unser Lager zu überfallen. Sie beabsichtigten weniger, uns etwa als Sklaven zu verkaufen, als vielmehr ein hohes Lösegeld von denen zu erpressen, die ein solches zu entrichten imstande sind. Diese Lösegelder muß man sich nur auch verschaffen können, und deshalb hat der Scheik beschlossen, so lange hier zu halten, wie es notwendig ist, einen von uns, den er ausgewählt hat, nach den französischen Besitzungen zu senden, der in seinem eignen und im Namen der andern Schiffbrüchigen die verlangten Summen auftreiben und sie dann an einem vorherbestimmten Orte gegen die Freilassung der Gefangenen abliefern soll.«

Jack machte vergeblich eine neue Pause, da er hier eine Einrede erwartete.

»Du fragst mich gar nicht, wen der Scheik für diese Mission erwählt hat?[469]

– Ich dachte, daß du mir das gleich sagen würdest, antwortete Alice mit ruhiger Stimme, die ihrem Schwager nicht das Beste zu versprechen schien.

– Ja freilich, du hast recht,« sagte er mit gezwungenem Lächeln.

Immerhin meinte er, daß einige weitre Andeutungen nicht ganz überflüssig wären.

»Du kannst dir ja leicht denken, fuhr er fort, daß sich die Aufmerksamkeit des Scheiks nach dem, was Herr de Sorgues ihm gesagt hatte, vorzüglich auf dich und Dolly richtete. Der Umstand, daß er dieses Zelt für euch beide hat errichten lassen, mußte dich schon davon überzeugen. Dein Lösegeld wird also das höchste sein, das der Scheik vor allem zu erpressen vorhat. Anderseits hat er sich darüber gewundert, daß wir einen Namen führten, und hat mich lange über unser gegenseitiges Verhältnis ausgefragt. Ich habe es da für richtig gehalten, mich einer kleinen Lüge – entsprechend der des Herrn de Sorgues – zu bedienen. Kurz, Alice, um für deine Verteidigung wirksamer eintreten zu können, habe ich, wenn das auch nicht wahr ist, dem Scheik gesagt, daß du meine Frau wärst.«

Nach diesen Worten wartete Jack auf ein Zeichen der Zustimmung oder der Mißbilligung seines Verhaltens. Alice gab weder die eine noch die andre zu erkennen. Sie hörte nur weiter zu, bis er schnell zum Schluß kam. Gerade diesen Schluß mußte Jack, das fühlte er, aber besonders geschickt in Worte kleiden.

»Nun, rief Jack, ich war da freudig erstaunt über die Wirkung meiner Notlüge. Sobald er hörte, welche Bande uns vereinigten, glaubte der Scheik – und er täuschte sich darin nicht – daß ich am eifrigsten für deine Befreiung wie für die unsrer Gefährten tätig sein würde, und er erwählte mich auf der Stelle als den, der die verlangten Lösegelder beschaffen sollte.«

Als er nun seine Schiffe hinter sich verbrannt hatte, atmete Jack tief auf. Alice hatte jedoch noch immer kein Wort gesprochen.

Offenbar, meinte Jack, macht sich die Sache ganz allein.

»Ich hoffe, fuhr er mit sicherer Stimme fort, daß du die Wahl des Scheiks nicht mißbilligst und mir die Briefe und nötigen Unterlagen anvertrauen wirst, die Summe, die ich mit zurückbringen werde, zu erheben.

– Ich werde dir nichts dergleichen übergeben, sagte da Alice mit frostiger Stimme, während sie ihren Schwager schärfer fixierte.

– Und warum nicht?

– Aus zwei Gründen.[470]

– Willst du so freundlich sein, mir diese mitzuteilen, erwiderte Jack lebhafter. Dann können wir, wenn du es willst, als gute Verwandte darüber sprechen.

– In erster Linie, erklärte Alice entschieden, bin ich gerade jetzt gegen die Absendung irgend eines Boten. Du scheinst ganz vergessen zu haben, daß Mister Morgan schon fortgegangen ist, für uns Hilfe zu holen.

– Jawohl, fortgegangen ist er, doch zurückkehren wird er nicht, entgegnete Jack.

– Er wird zurückkehren, erwiderte Alice mit einem Tone unbesieglicher Gewißheit.

– Ich glaube es doch nicht,« sagte Jack, der in seiner Stimme eine leise Ironie nicht unterdrücken konnte.

Alice krampfte sich bei diesen Worten das Herz vor Angst zusammen. Mit energischer Anstrengung bezähmte sie jedoch diese Schwächeanwandlung, und ihrem elenden Schwager gerade aufgerichtet gegenüberstehend, fragte sie:

»Woher weißt du das?«

Jack erschrak über die unerwartete Wendung des Gesprächs und blies klugerweise zum Rückzuge.

»Ja, bestimmt wissen kann ich es ja nicht, stammelte er, nein, das beruht nur auf einer Art Ahnung. Ich bleibe aber immerhin überzeugt, daß Herr Morgan, er mag nun bei seinem Unternehmen gescheitert sein oder nicht, nicht wiederkehren wird, und daß wir keine Zeit verlieren dürfen, unsre Freiheit mit eignen Hilfsmitteln wieder zu erlangen zu suchen.«

Alice hatte ihre völlige Ruhe wiedergewonnen.

»Ich möchte nun fast glauben, erklärte sie langsam, daß du tatsächlich im Besitz besonderer Nachrichten bist, und daß die heroische Reise, die Herr Morgan zu unser aller Heil unternommen hat, ihm vielleicht....

– Was willst du damit sagen? unterbrach sie Jack mit bebender Stimme.

– O, es könnte ja doch zutreffen, daß du recht hättest und Herr Morgan bei seinem Unternehmen den Tod gefunden hätte. Jedenfalls wirst du mir erlauben, andrer Ansicht als du zu sein. Ich bewahre meinen unerschütterlichen Glauben bis zu der Zeit, wo die Länge der verflossenen Zeit mir meinen Irrtum bewiesen hat.«

Die Wärme, womit Alice die letzten Worte ausgesprochen hatte, bewies, daß sie in dieser Hinsicht nicht zu beirren sei.

»Du könntest ja vielleicht recht haben, gab Jack jetzt zu. Ich begreife nur nicht, inwiefern die Möglichkeit einer Rückkehr des Herrn Morgan ein Hindernis[471] für den Vorschlag sein kann, den ich dir soeben gemacht habe. Was hindert uns daran, daß wir auf zweierlei Wege uns Aussicht auf Rettung verschaffen?

– Ich glaube dir schon gesagt zu haben, erwiderte Alice, daß ich gegen deinen Plan zwei Einwendungen zu erheben habe. Bisher habe ich nur von der ersten gesprochen.

– Und welche wäre die zweite?

– Die zweite Einwendung, erklärte nun Alice, sich hoch aufrichtend, ist die, daß ich die Wahl des Sendboten unbedingt verwerfen muß. Ich werde deinen Weggang nicht allein dadurch nicht begünstigen, daß ich dir die von mir verlangten Papiere nicht ausliefere, sondern ich werde mich dem auch mit aller Kraft dadurch widersetzen, daß ich deine mich betreffende Lüge aller Welt offenbare.

– Wahrhaftig, Alice, entgegnete Jack, der schon ganz bleich geworden war, seinen Plan hintertrieben zu sehen, welchen Grund könntest du haben, so zu handeln?

– Den besten von allen, erwiderte Alice, die Überzeugung, die ich habe, daß du nicht wiederkommen würdest!«

Erschreckt wich Jack bis zur Wand des Zeltes zurück. Wenn seine Absichten zutage kamen, würde sein Plan unausführbar sein. Er wagte deshalb noch einen letzten Versuch.

»Welch entsetzliche Anklage, Alice! rief er, bemüht, seiner Stimme einen schmerzlichen Klang zu geben. Was habe ich dir getan, daß du einen so schweren Verdacht gegen mich hegen könntest?

– Ach, gestand jetzt Alice traurig, ich entsinne mich des Curral das Freias!«

Des Curral das Freias! Alice hatte also alles gesehen, und dadurch gewarnt, in der unheilbrütenden Seele ihres Schwagers wie in einem Buche lesen können.

Dieser begriff im Augenblick, daß das Spiel verloren sei und versuchte gar keine im voraus unnütze Rechtfertigung. Seine ganz gemeine Tat trat ihm vor die Augen.

»Nun gut, zischte er. Ich begreife aber nicht, wie du die Kühnheit haben kannst, wegen des Curral das Freias eine Beschuldigung gegen mich zu erheben. Wärst du denn ohne mich von einem hübschen jungen Manne – wie in den Romanen – gerettet worden?«

Entrüstet würdigte Alice diesen giftigen Beleidiger keiner Antwort. Sie begnügte sich, ihn mit einer Handbewegung nach dem Ausgang zu weisen, als sich an diesem eine Stimme erhob, die beim Halbdunkel der Lampe den, von dem sie kam, nicht erkennen ließ.[472]

»Fürchten Sie nichts, Madame, sagte die Stimme. Ich bin hier.«

Alice und Jack hatten sich zitternd nach der Seite umgedreht, von der die erlösende, ruhige Stimme herkam, und plötzlich stießen beide einen Schrei aus, Alice einen Freudenschrei, einen Ausbruch grimmiger Wut aber Jack Lindsay.

Als der unerwartete Retter näher in den Lichtschein trat, konnten sie ihn deutlich erkennen.


Mit einem Sprung hatte sich Alice auf Jack Lindsay gestürzt... (S. 474.)
Mit einem Sprung hatte sich Alice auf Jack Lindsay gestürzt... (S. 474.)

Robert Morgan stand vor ihnen.

Robert Morgan lebend! Jack verlor den Verstand vor erstickender Wut.[473]

»Aha, stotterte er mit vor Aufregung gelähmter Zunge, da ist ja der hübsche junge Mann in eigner Person! Was kann denn eine Familienverhandlung den Dolmetscher-Cicerone Morgan interessieren?«

Morgan blieb ruhig und trat einen Schritt auf Jack zu. Alice drängte sich aber zwischen die beiden Männer. Mit einer gebieterischen Geste erzwang sie sich Ruhe.

»Der Herr Marquis de Gramon hat doch das Recht, alles zu erfahren, was seine Frau angeht, sagte sie, während sie ihren ohnmächtigen Schwager mit flammendem Blicke ansah.

– Das ist ja ein recht plötzlicher Marquis! spottete dieser. Ihr wollt gewiß in Timbuktu die Ehe eingehen!«

Da durchzuckte ihn aber doch ein andrer Gedanke. Wenn Morgan hier war, konnte er schwerlich allein gekommen sein. Das Lager würde jedenfalls bereits in den Händen der von ihm mitgebrachten Franzosen sein, und was Alice ausgesprochen hatte, war da nicht mehr eine Chimäre, sondern war zur Wirklichkeit geworden.

Bei diesem Gedanken quoll in ihm der Ingrimm von neuem auf. Er fuhr mit der Hand nach seinem Gürtel und zog denselben Revolver, den er schon bei seinem Mordversuche benutzt hatte, hervor.

»Jetzt sind Sie noch nicht Marquis!« rief er, den Lauf auf Morgan richtend.

Alice aber war wachsam.

Mit einem Sprung hatte sie sich auf Jack Lindsay gestürzt. Mit übermenschlicher Kraft klammerte sie sich an seinen Arm und entwand ihm die Waffe.

Der Schuß krachte dabei los, die mißgeleitete Kugel schlug aber durch das Dach des Zeltes.

»Befreit!« rief Alice, die mit einem Lächeln des Triumphes den noch rauchenden Revolver vor Morgans Füße warf.

Auf den Schuß Jacks antwortete fast unmittelbar ein andrer. Ein Hagel von Kugeln pfiff durch die Luft. Ringsum ertönten Schreie, gemischt mit Flüchen in verschiedenen Sprachen.

Jack Lindsay taumelte. Eine französische oder arabische Kugel hatte sich in das Zelt verirrt und den Elenden getroffen. Kaum vermochte er noch die Hand gegen die Brust zu pressen, als er zu Boden sank.[474]

Alice, die außerstande war, zu verstehen, was hier vorging, wendete sich mit einer Frage an Morgan. Dem ließen aber die sich jetzt überstürzenden Ereignisse keine Zeit zum Reden.

Wie von einer Windhose wurde das Zelt weggerissen, eine Sturmflut von Menschen wälzte sich hindurch, und von Morgan mit fortgerissen, der sofort in der Dunkelheit verschwand, sah sich Alice in der Mitte der andern Frauen der Karawane. Hier standen alle zusammen, auch Dolly, die ihrer Schwester in die Arme sank.

Morgan erschien sehr bald wieder und mit ihm der Kapitän, Roger de Sorgues und alle die andern Schiffbrüchigen. Ob einer fehlte, das würde sich erst am nächsten Tage nachweisen lassen.

Eine halbe Stunde später, und nachdem er seine Leute gesammelt, Vorposten ausgestellt und alle Maßregeln getroffen hatte, einen erneuerten Angriff des Feindes von vornherein unmöglich zu machen, erschien als letzter noch ein französischer Offizier. Ein freundliches Lächeln auf den Lippen und im hellen Mondlicht stehend, grüßte er die Damen im Kreise und wandte sich darauf an Morgan.

»Die Raubgesellen sind zerstreut, lieber Herr!« sagte er heiter.

Doch ohne einen hier so natürlichen Dank abzuwarten, war er schon in die Höhe geschnellt.

»Was zum Teufel, de Sorgues! rief er, Roger bemerkend. Waren Sie denn auch darunter?

– Ach, wie geht's denn, lieber Beaudoin? antwortete Roger; warum, bitte, hätte ich denn nicht darunter sein sollen?

– Wahrlich, sie ist gut!« versicherte der französische Offizier philosophisch, und... zündete sich eine Zigarette an.[475]

Quelle:
Michel Verne: Das Reisebüro Thompson und Comp. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XCI–XCII, Wien, Pest, Leipzig 1909, S. 460-465,467-476.
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