Siebentes Kapitel.

Im Treiben.

[359] Am nächsten Tage, am 12. Juni, um acht Uhr morgens stieg er von dem Wachthäuschen herunter, wo er sich die Nacht über aufgehalten hatte, und sah einmal nach Mr. Bishop und nach dem verwundeten Heizer. Die beiden Verletzten befanden sich besser. Dadurch beruhigt, begab sich der Kapitän in seine Kabine und schrieb mit ruhiger Hand ins Schiffbuch ein: »11. Juni. Abgefahren um zehn Uhr Vormittag von Orotava auf Teneriffa (Kanaria) auf der Heimreise nach London (England). Die Route nach Angabe des Reeders verändert. Kurs nach Westen. Zu Mittag die Tenospitze umschifft. Die Insel Gomera in Sicht bekommen. Kurs nach Süden eingeschlagen. Halb zwei Uhr nach Südwesten abgewichen; Gomera an Steuerbord liegen gelassen. Um vier Uhr längs der Insel Ferro hingefahren. Kurs Süd, ein Viertel West. Halb sieben die Restingaspitze der Insel Ferro (Kanarien) doubliert. Mannschaft zum Essen geschickt. Um sieben Uhr Essen der Offiziere. Um acht Uhr der Kessel, als wir gegenüber dem Hafen von Naos, fünf Seemeilen von der Küste hindampften, einen Riß drei Zoll über seinem tiefsten Punkt bekommen, wodurch die Feuer gelöscht wurden. Mr. Bishop, der erste Maschinenmeister, im Gesicht und an der Brust verbrüht, als er einen bewußtlosen und schwerverletzten Heizer auf Deck trug.[359]

Er erklärt den Schaden für unreparierbar. Ließ sofort alle Segel setzen, Kurs scharf gegen den Nordostpassat. Die gewöhnlichen Signale gegeben. Halb acht Uhr vor dem Wind gewendet. Mit Anbruch der Nacht Raketen... vergeblich Um neun Uhr vor dem Winde gewendet, um zehn Uhr nochmals.

12. Juni. Um zwei Uhr vor dem Wind gewendet, um vier Uhr noch einmal. Bei Tagesanbruch Insel Ferro ungefähr zwanzig Meilen im Norden noch in Sicht. Die Flagge in Schau wehen gelassen. Sondiert, ohne Grund zu finden. Wir treiben vor dem Nordostpassat weiter ab. Um neun Uhr befinden wir uns etwa dreißig Meilen von der Insel Ferro. Steuer nach Süden ein Quart West; Kurs mit Backbordhalfen nach den Inseln des Grünen Vorgebirges.«

Als er den Schlußpunkt hinter seine Worte gesetzt hatte, streckte sich der Kapitän auf seinem Bette aus und schlief friedlich ein.

Leider besaßen nicht alle Passagiere der »Seamew« diese Seelenruhe, die es dem braven Kapitän Pip erlaubte, so eingreifende Ereignisse in so kurzen einfachen Worten aufzuzeichnen. Am vergangenen Abend war es nahe daran gewesen, daß eine Panik ausbrach und daß die Boote aufs Wasser gesetzt worden wären, als ob ein wirklicher Schiffbruch bevorstehe. Alle hatten sich aber, dank der Kaltblütigkeit des Kapitäns, dem man einmal ein unerschütterliches Vertrauen entgegenbrachte, allmählich wieder beruhigt.

Trotzdem waren die meisten Passagiere einen Teil der Nacht auf dem Spardeck geblieben, indem sie den Unfall besprachen und dessen wahrscheinliche Folgen erwogen. Unter diesen Gruppen stand Thompson gewiß nicht im Geruche der Heiligkeit. Er hatte die Lustreisenden nicht nur an ihrem Geldbeutel geschädigt, sondern er brachte sogar ihr Leben in Gefahr. Mit unverzeihlicher Sorglosigkeit hatte er sie – die bezügliche Aussage Bishops lautete hierüber geradezu vernichtend – aus Sparsamkeit auf einem alten, fast schon ganz dienstunfähigen Schiffe zusammengepfercht, einem alten Kasten, dem schon vor Beendigung der Fahrt der Atem ausging. Jetzt verstanden die Touristen, wie es der Agentur möglich geworden war, im Preise immer weiter herabzugehen, wodurch sich so viele Gimpel hatten fangen lassen.

Hier hatte nun Baker einen Unfall, den er mit Recht in sein Notizbuch einschreiben konnte. Ohne Zweifel ließ sich damit eine tüchtige Entschädigungsforderung begründen, wenn er je in die Lage kam, bei den englischen Richtern vorstellig zu werden.[360]

Augenblicklich waren diese Richter ja sehr fern, und der für die überzeugendsten Argumente unempfindliche Ozean umgab an allen Seiten das steuerlose Schiff. Was sollte nun aus dessen Insassen werden? Nach welchem Punkt der Meere wurde der unlenkbare Dampfer, das treibende Schiff, hin verschlagen?


Da fragten sich alle, was das zu bedeuten habe. (S. 363.)
Da fragten sich alle, was das zu bedeuten habe. (S. 363.)

Wenn man jedoch den Kapitän sah, wie der von seiner Brücke aus alle Kommandos mit Ruhe erteilte, und wenn man sah, daß die »Seamew«, die jetzt alle Segel trug, wieder Fahrt machte und auf die Südküste der in der Nacht unsichtbar gewesenen Insel Ferro zuhielt, singen alle an, ruhiger zu werden. Am folgenden Tage würde man jedenfalls im Schutze einer Einbiegung des steilen Ufers liegen und konnte sich dann in nicht zu ferner Zeit auf einem der regelmäßigen Paketboote einschiffen.

Das Spardeck wurde allmählich leer. Alles schlief auf dem Hinterteil der »Seamew«, als der Steuermann Mitternacht schlug.

Mit Tagesanbruch erschienen die aus einem gewiß etwas unruhigen Schlafe erwachten Passagiere fast ohne Ausnahme wieder auf dem Deck. Wie enttäuscht fühlten sie sich aber, als sie zwanzig Seemeilen weit draußen die Nordküste der Insel Ferro erblickten, an der sie zu landen gehofft hatten.

Es bedurfte nichts Geringeren als des Anblickes des Kapitäns Pip, der, als ob gar nichts geschehen wäre, seine Promenade auf dem Deck fortsetzte, ihnen wieder etwas Mut einzuflößen. Dennoch wurden sie wieder ängstlicher, als sie sahen, wie sich das Land mehr und mehr von ihnen entfernte.

Da fragten sich alle, was das zu bedeuten habe, und es wurde als eine wirkliche Erleichterung empfunden, als der Kapitän die Passagiere ersuchen ließ, sich im Salon zu versammeln, um von ihm eine Erklärung zu erhalten.

In einem Augenblick war der Salon vollständig gefüllt und schwirrten Gespräche hin und her, die beim Eintritt des Kapitäns verstummten.

Mit wenigen Worten sprach sich dieser über die jetzige Lage aus.

Die »Seamew«, deren Maschine außer Tätigkeit gesetzt war, konnte nur noch auf ihre Segel rechnen. Ein Dampfer ist für diese Art von Fortbewegung freilich nur noch notdürftig eingerichtet; er kann dem Winde nur eine unzureichende Segelfläche bieten. Außerdem ist aber auch die Form seines Rumpfes dazu ziemlich unpassend, während ein Segelschiff, scharf am Winde hinstreichend, noch ziemlich gut vorwärtskommen würde, treibt ein Dampfer infolge der geringen Aushöhlung seines Rumpfes hilflos ab und bewegt sich fast ebenso viel mit seiner Langseite wie mit dem Bug vorn weiter.[363]

Obwohl der Kapitän sich keinen Illusionen hingab, hatte er doch diese Gangart versucht, in der Hoffnung, daß er damit allein dem Archipel der Kanarien näher kommen könnte. Die ganze Nacht war laviert worden, um gegen den Nordostpassat einigermaßen aufzukommen. Wie der Kapitän vorausgesehen hatte, war das Schiff weit abgetrieben worden, und das destomehr, weil es gleichzeitig in einer Strömung von zwei Knoten in der Stunde lag, die, ein Zweig des Golfstromes, an der Westküste Afrikas von Norden nach Süden hinfließt.

Unter diesen Verhältnissen wäre es Torheit gewesen, dagegen ankämpfen zu wollen. Besser war es jedenfalls, die Strömung und den Wind zu benützen, um so schnell wie mögleich einen Nothafen zu erreichen.

Einen solchen zu finden, boten sich nun zwei Wege. Der eine nach den französischen Besitzungen des Senegal, der andre nach den Inseln des Grünen Vorgebirges. Der Kapitän hatte sich für den zweiten entschieden. Wie er seinen Zuhörern erklärte, war die Entfernung dahin die gleiche, und er hielt sich dabei mehr fern von der Küste Afrikas, der er sich mit einem Schiffe von so schwacher eigner Bewegungsfähigkeit weiter zu nähern mit gutem Grunde fürchtete.

Im übrigen lag kein Grund zur Beunruhigung vor. Der Wind war günstig und hier in der Gegend der Passate ließ sich erwarten, daß er in gleicher Weise anhalten würde. Es handelte sich jetzt also nur um eine Verlängerung der Reise, ohne daß deren Gefahren sich dabei irgendwie vermehrt hätten.

Nach Beendigung seines Speechs grüßte der Kapitän, und nachdem er so manövriert hatte, daß das Schiff den neuen Kurs einschlagen mußte, begab er sich in seine Kabine und trug, ehe er sich niederlegte, in das Schiffsjournal den vorschriftsmäßigen Bericht über die Vorfälle ein, die sich bis dahin ereignet hatten.

Die Passagiere hatten inzwischen ihre Ruhe vollständig wiedergefunden. Im Salon, worin es kurz vorher so geräuschvoll zugegangen war, herrschte jetzt tiefes Schweigen.

Zu derselben Zeit wie seine Passagiere hatte auch Thompson die Mitteilung des Kapitäns erhalten. Jedenfalls kam alles, was hier vorfiel, auf das Schuldkonto des General-Unternehmers; daran zweifelte niemand. Und doch sah derselbe so unglücklich, so völlig zusammengebrochen aus, daß keiner das Herz hatte, ihm den geringsten Vorwurf zu machen. Was war er denn jetzt andres als ein Schiffbrüchiger, so gut wie alle übrigen?[364]

Da wurde die tiefe Stille durch ein lustiges Gelächter jäh unterbrochen. Alle richteten sich in die Höhe und erkannten verwundert, daß das von Roger de Sorgues ausging. Der belustigte sich herzlich über die unerwarteten neuen Umwege, und bemerkte gar nicht, wie sehr sich seine Gefährten über ihn wunderten.

»Herr, mein Gott, lieber Herr, sagte er mit einem freundschaftlichen Klaps auf Thompsons Schulter, welche drolligen Reisen macht man doch mit so einer englischen Agentur! Da fährt man auf einem Dampfer nach den Kanarien ab und landet am Grünen Vorgebirge auf einem Segelschiffe; das ist doch ein Spaß, der sich sehen lassen kann!«

Rogers unwiderstehliche Heiterkeit steckte auch die beiden amerikanischen Damen an und verbreitete sich auf das Spardeck, während im Salon sich die Zungen wieder lösten. Rogers Lachen hatte die gelähmten Nerven wieder belebt, besser als die dringlichsten Vorstellungen, als die weisesten Ratschläge hatte es den gesunkenen Mut aufs neue erhoben. Man begann diese Zugabe zur Lustreise mit leichterm Herzen hinzunehmen, ohne daß gerade alle den Optimismus des lustigen französischen Offiziers teilten.

In der Tat rechtfertigte auch die gegenwärtige Lage diesen Rest von Unruhe. Es war ja keine einfache Spazierfahrt, die die »Seamew« hier unternahm. Zwischen der Insel Ferro und der ersten Insel des Grünen Vorgebirges galt es, ungefähr eine Strecke von siebenhundert Seemeilen zurückzulegen. Bei der Geschwindigkeit von fünf Knoten, die die Strömung und ihre notdürftige Segelfläche der »Seamew« erteilten, verlangten diese siebenhundert Meilen schwerlich weniger als acht Tage. Und was kann einem der launenhafte Neptun in acht Tagen nicht alles bescheren!

Da aber die Verzweiflung doch auch nichts hätte nützen können, ergab man sich darein. Nach und nach nahm das Schiff sein gewöhnliches Aussehen wieder an, und das Leben an Bord, dessen Eintönigkeit auch die zur bestimmten Stunde genossenen Mahlzeiten einige Abwechslung verliehen, verlief wieder fast ebenso wie vorher.

Die Frage der Mahlzeiten hatte jetzt freilich eher eine noch höhere Bedeutung gewonnen. Die Touristen verlangten darin eher mehr, wie man auch im Eisenbahnwagen mehr aus Mangel an Beschäftigung als aus Hunger öfter zu essen pflegt. Thompson ließ das ruhig hingehen, ja er bestärkte darin aus Feigheit, deren Unklugheit ihm bald zu Gemüte geführt werden sollte, ohne[365] Wissen des Kapitäns Pip noch diese Zerstreuung seiner Schutzbefohlenen in der chimärischen Hoffnung, dadurch Absolution zu erhalten.

Vor allem wußte Piperboom – aus Rotterdam – die Ablenkung von trüben Gedanken zu schätzen. Fest verwachsen mit dem General-Unternehmer, hatte er die Explosion ebenso gehört wie die Mitteilungen des Kapitäns Pip, doch ob er es verstanden haben mochte, daß der sich für gezwungen erklärt hatte, einen ganz andern Kurs einzuschlagen? Seine Blicke, die er mehr als einmal dem Kompaß und der Sonne zuwandte, schien dafür zu sprechen. Wenn auch er eine gewisse Unruhe empfand, so verminderte diese wenigstens nicht seinen Appetit. Er bewährte sich noch immer als warmer Freund aller Kunststücke der Schiffsküche. Wie viele Mahlzeiten, Breaksasis, Dinners, Teas und Luncheous es auch gab, er nahm an allen mit ungeschwächten Kräften teil. Sein Magen war entschieden grundlos.

In gleicher Weise wie dieser unausfüllbare Abgrund schwamm der trinkfeste Johnson womöglich in noch größerer Seligkeit als je vorher. Er war schließlich zu dem Punkte angelangt, wo die totale Trunkenheit zur chronischen Krankheit wurde, und die wußte er sich in schlauester Weise zu konservieren. Auf die zwanglosen Promenaden auf dem Spardeck hatte er fast gänzlich verzichtet. Nur von Zeit zu Zeit, wurde er einmal hier sichtbar. Fast immer lag er im Schlafe, und erwachte daraus nur, die nötige Quantität zu trinken, um wieder einzuschlafen. Von dem Unfall, der die »Seamew« zu einem Segelschiff verwandelt hatte, von dem neuen Kurs, den sie deshalb einzuhalten gezwungen war, wußte er nicht das geringste, und hätte er's gewußt, so wäre ihm das höchst gleichgültig gewesen. Konnte er denn auf dem Lande mehr betrunken sein als auf diesem Schiffe, das mit alkoholischen Getränken sehr reichlich versehen war und das ihm die Empfindung einflößte, in einem Wirtshaus zu wohnen?

Der Allerglücklichste an Bord aber war wie gewöhnlich Mr. Absyrthus Blockhead, der »Ehren-Krämer«, den die Natur mit einem so wunderbaren Charakter ausgestattet hatte. Als der Unfall eintraf, empfand er darüber wirklich eine echte Freude. Seit mehreren Tagen hatten er und seine Töchter sich zum ersten Male wieder auf einen Stuhl setzen können, ohne vor Schmerzen aufzuschreien. Sie beglückwünschten einander gerade alle drei wegen dieser angenehmen Veränderung, als das Zischen des ausströmenden Dampfes sie nötigte, vorzeitig eine Lage aufzugeben, der sie sich so lange nicht erfreut hatten.[366]

Mr. Blockhead beklagte gewiß die beiden Verletzten, die eines Tages, einer gestützt auf den andern, hervorkamen, und sicherlich empfand auch er einige Unruhe wegen der Folgen des unangenehmen Ereignisses, dagegen erfüllte es ihn mit einer eitlen Befriedigung, in so schwere Gefahr geraten zu sein. Als der Kapitän Pip aber erst den neuen Kurs einschlug, das wirkte auf ihn noch ganz anders. Der Gedanke, auch noch das Grüne Vorgebirge zu besuchen, ließ in ihm einen wahren Ozean von Hypothesen aufquellen.

Bisher wenigstens hatte er sich nicht bemüht, bei dem allgemeinen Unglück sein Licht untern Scheffel zu stellen, im Gegenteil setzte er alles daran, die Fahrt des Schiffes zu beschleunigen. Zuerst riet er dem Kapitän, die Beseglung zu vergrößern, und bot ihm dazu alle Decken und Servietten der »Seamew« an... ein Vorschlag, der freilich abgewiesen wurde. Mr. Blockhead erkannte sich deshalb aber nicht als besiegt und übertrug seine Theorien eifrigst in die Praxis.

Vom Morgen bis zum Abend konnte man ihn mit seiner Gattin, seinem Sohne und seinen Töchtern auf dem Hinterdeck sitzen sehen, wo alle ihre Taschentücher als kleine Segel ausgebreitet hielten. Waren sie der langweiligen Übung überdrüssig, so erhoben sie sich, stellten sich in einer Querlinie auf und bliesen bis zum Atemverlieren in die Segel der »Seamew« hinein.

Hätte Mr. Blockhead die Kenntnisse des seligen Archimedes besessen, so würde er gewußt haben, daß man, um auf einen Körper eine Wirkung auszuüben, einen Stützpunkt außerhalb desselben Körpers einnehmen muß. Mister Blockhead war jedoch kein Archimedes, aber er setzte keinen Zweifel darein, daß die Reise wesentlich abgekürzt werden würde durch seine verdienstlichen Anstrengungen, über die sich die andern Passagiere weidlich lustig machten.

Ob nun sein gewaltsames Aufblasen der Wangen oder sonst etwas andres daran schuld war, jedenfalls zwang am dritten Tage ein rasender Zahnschmerz Mr. Blockhead, die illoyale Konkurrenz mit Boreas aufzugeben. Binnen zwei Stunden schwoll seine rechte Wange in erschreckender Weise an und verlieh ihrem Träger das merkwürdigste Aussehen von der Welt. Dank dieser außerordentlichen Anstrengung sorgte Mr. Blockhead auch weiter für die Heiterkeit an Bord, denn seine Gefährten, die jetzt des Schauspiels beraubt waren, das seine nautische Weisheit bereitete, amüsierten sich einfach nun auf andre Weise.

Wie kam es aber, daß Miß Mary und Miß Beß ihren ehrenwerten Vater bei seinen nutzlosen Bemühungen unterstützten? Hatten sie ihre Pflicht[367] denn ganz vergessen? Darauf verzichtet, Tigg vor den Krallen des Todes zu bewahren?

Ja, wir müssen gestehen, daß sie davon abgekommen waren. Ach, nicht ohne Schmerzen und ohne Kampf hatten die beiden Engel der Barmherzigkeit der Mission entsagt, die die Nächstenliebe ihnen auferlegt hatte. Leider hatten sie sich aber überzeugen müssen, daß es eine andre Wächterin auf sich genommen hatte, die fluchtverdächtige Seele auf der Erde zurückzuhalten. Was bei Gelegenheit der Besteigung des Teyde, an der teilzunehmen das Hüftweh sie verhindert hatte, vor sich gegangen war, das wußten Miß Mary und Miß Beß zwar nicht, die Folgen dieses Spazierganges konnten sie aber nicht verkennen. Seit jener Stunde hielt Miß Margaret die Zügel in der Hand, und nach verschiedenen vergeblichen Versuchen hatten die beiden liebenswürdigen Schwestern sich für besiegt erklären müssen.

Immerhin interessierten sie sich auch noch ferner für den Verzweifelten, auf den sie vergeblich das Manna ihrer Ergebenheit hatten herabregnen lassen, und sie sagten voraus, daß Tigg, wo er von ihnen nicht mehr behütet wurde, noch die Beute entsetzlicher Zufälle werden würde.

»Du wirst es schon noch sehen, sagte Miß Mary mit düstrer Miene, daß ihm ein Unglück zustößt.

– Er wird sich ein Leid antun, meine Liebe,« erklärte Miß Beß schaudernd.

In der nächsten Zeit schien diese traurige Prophezeiung freilich nicht in Erfüllung gehen zu wollen. Augenblicklich zeigte der von der Familie Hamilton adoptierte Tigg nur die schlimmste Undankbarkeit gegen seine frühern Schutzengel, und Miß Margaret Hamilton schien über die Schwäche seines Gedächtnisses keineswegs ungehalten zu sein.

Deren Vater war davon nicht minder befriedigt. Sein Leben war ja etwas aus dem Gleichgewicht gekommen. Seitdem die »Seamew« sich vollständig außerhalb des Programmes bewegte, fehlte es ihm an Gelegenheit zu seinen gewohnten Reklamationen, und das lastete schwer auf dem liebenswürdigen Baronet.

Baker gegenüber hatte er sich vergeblich darüber ausgesprochen; da dieser seine Schiffe hinter sich verbrannt hatte, konnte er auch nichts mehr tun. Die beiden Verschwornen sahen sich genötigt, ihre alten Klagen bis zu dem noch so fernen Tage für sich zu behalten, wo es ihnen, nach London zurückgekehrt, möglich sein würde, ihrer Rache durch Prozesse Ausdruck zu verleihen, denen[368] sich, wie sie hofften, viele der so stark geprellten Passagiere als Verbündete anschließen würden.

Inzwischen verging die Zeit, und die Resignation machte allmählich einer drückenden Traurigkeit Platz; je mehr sich die Fahrt verlängerte, desto mehr erwachte auch die Unruhe wieder.

An Bord fehlte es jedoch nicht an glücklichen Naturen, deren robuste Heiterkeit nichts zu unterdrücken vermochte, und auch nicht an festen Charaktern, die keine Gefahr erschüttern konnte. Natürlich gehörten Dolly und Roger zu den ersten und Alice und Morgan jedenfalls zu den zweiten.

Doch auch diese schien ein Verhängnis in Fesseln geschlagen zu haben, und die dumpfe Trauer des Quartetts trat unter der allgemeinen Traurigkeit noch besonders hervor.

Zwischen Alice und Morgan nahm von Tag zu Tag ein Mißverständnis zu, das zu keiner Aufklärung geeignet erschien, da weder der eine noch die andre reden wollte. Morgan, dem ein übertriebener Stolz den Mund verschloß, hatte nichts versucht, das weiter zu klären, was auf dem Teyde nur schüchtern und andeutungsweise zutage getreten war, und Alice sah davon ab, noch mehr zu sagen, da sie schon genug gesagt zu haben glaubte. Beide nahmen von einander an, daß sie sich falsch verstanden hätten, und verblieben aus Stolz in dieser schmerzlichen, aussichtslosen Lage.

Ihre gegenseitigen Beziehungen trugen den Stempel ihrer unbehaglichen Empfindungen. Morgan, der die Vorwürfe, die ihm Alice gemacht hatte, zu wörtlich nahm, hielt sich etwas von ihr zurück, ja er vermied sogar streng jedes Alleinsein mit ihr und wenn Roger sich entfernte, folgte er ihm auf dem Fuße nach, ohne daß Alice Miene machte, ihn zurückzuhalten.

Roger sah diese Kälte zwischen beiden, er litt daran trotz seiner eignen Liebe, deren Dolly und er sich von Tag zu Tag klarer bewußt wurden, Alicens Mißstimmung verdüsterte aber doch seine angeborne Heiterkeit.

Diese vier Personen, die, jede auf ihre Art, der andern hätten die beste moralische Stütze sein können, waren jetzt im Gegenteil die unglücklichsten von allen.

Immerhin nicht gänzlich. Die Suprematie fiel Thompson zu. Mag einer noch so unbewußt und leichtherzig sein, es kommen doch Dinge vor, deren Ernst ihn unbedingt aufrüttelt. In einer solchen Lage befand sich hier Thompson. Wie lange würde die Gesellschaft am Grünen Vorgebirge zurückgehalten werden?[369]

Wieviel Zeit würden die Reparaturen der verwünschten Maschine beanspruchen? Während dieses unvorhergesehenen Aufenthaltes fiel ihm die Sorge zu, Passagiere und Mannschaft, im ganzen gegen hundert Personen, zu ernähren und zu beherbergen. Das war ein Unglück, der Ruin seiner Hoffnungen, war ein ungeheurer Verlust statt eines erwarteten Überschusses.

Und dazu kamen noch die Prozesse, in die er nach der Heimkehr verwickelt werden sollte, denn Baker scherzte in dieser Beziehung offenbar nicht. Der Unfall, der das Leben der Passagiere in Gefahr setzte, die beträchtliche Verzögerung, die ihre Interessen berührte und schädigte, alles das mußte seinen Feinden ja eine gute Handhabe bieten, ihn anzugreifen. Thompson sah bereits das Gespenst des Konkurses an sich heranschleichen.

Wenn er aber gegen erwiesene Tatsachen nichts ausrichten konnte, war es doch vielleicht möglich, sich die Zukunft einigermaßen besser zu gestalten. Und wenn es ihm gelang, seine Passagiere etwas milder zu stimmen, so entging er voraussichtlich einem Teile der gefürchteten Reklamationen.

Diese Hoffnung zerschellte aber an der Traurigkeit an Bord. Alle Unzufriednen hier würden jedenfalls zu Revolutionären werden, sobald sie sich erst auf festem Lande in Sicherheit befanden. Um sie sich zu gewinnen, versuchte Thompson vergeblich alles Mögliche. Er bat Morgan, einen interessanten Vortrag zu halten. Kein Mensch stellte sich dazu ein. Er veranstaltete einen wirklichen Ball mit Kuchen und Champagner. Doch war das Piano arg verstimmt, und zwischen denen, die schlafen, und den andern, die tanzen wollten, erhoben sich ernstliche Meinungsverschiedenheiten.

Thompson verzichtete auf seinen Vorsatz, als ein neues Unheil ihn vollends niederschmetterte.

Das Schiff, das sich nach der Abfahrt von Teneriffa unter Dampf nach London und nicht nach dem Grünen Vorgebirge begeben sollte, hatte nur für sieben Tage Lebensmittel mitgenommen. Zunächst dachte niemand daran, desto größer war aber Thompsons Verzweiflung, als ihm Roastbeaf am Morgen zehn Uhr am 17. Juni meldete, daß man ohne starke Beschränkung des Regimes selbst diesen Abend kein Stück Brot mehr an Bord der »Seamew« haben würde.[370]

Quelle:
Michel Verne: Das Reisebüro Thompson und Comp. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XCI–XCII, Wien, Pest, Leipzig 1909, S. 359-361,363-371.
Lizenz:

Buchempfehlung

Lohenstein, Daniel Casper von

Cleopatra. Trauerspiel

Cleopatra. Trauerspiel

Nach Caesars Ermordung macht Cleopatra Marcus Antonius zur ihrem Geliebten um ihre Macht im Ptolemäerreichs zu erhalten. Als der jedoch die Seeschlacht bei Actium verliert und die römischen Truppen des Octavius unaufhaltsam vordrängen verleitet sie Antonius zum Selbstmord.

212 Seiten, 10.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon