Achtes Kapitel.

Wie eine verlöschende Lampe.

[371] Das war eine ernste Verschlimmerung der Lage aller Passagiere und Seeleute, die man nun schon anfangen konnte Schiffbrüchige zu nennen.

Was sollte aus ihnen werden, wenn diese Fahrt sich verlängerte? Waren sie da nicht fast gezwungen, das Beispiel von der Medusa nachzuahmen, sich einer vom andern zu ernähren?

Diese Vermutung erschien nicht unannehmbar, schon nach den verlangenden Blicken, die dem dicken Piperboom nachfolgten und den Beweis lieferten, daß ähnliche Gedanken bereits in mehr als einem Gehirn aufkeimen mochten.

Unglücklicher Holländer! Aufgegessen zu werden ist ja sicherlich schlimm genug, noch schlimmer muß es aber doch sein, wenn man nicht einmal weiß, warum!

Piperboom mußte übrigens eine schwache Ahnung von der gegenwärtigen Lage haben. In seinen kleinen Augen, die den Vollmond seines Gesichtes unterbrachen, leuchtete eine gewisse Unruhe auf, wenn er die weniger reichlich besetzte Tafel verließ.

Wenn auch besser unterrichtet, empfanden seine Gefährten das neue und noch frugalere Regime nicht weniger unangenehm.

Als der von Thompson über die Sachlage unterrichtete Kapitän Pip den Passagieren die betrübliche Neuigkeit mitteilte, wäre bald ein allgemeiner Aufruhr der Verzweiflung ausgebrochen. Mit einigen bestimmten und ruhigen Worten suchte er die in Furcht gejagte Herde einigermaßen zu beruhigen.

Die Sachlage war klar. Lebensmittel waren nur noch für eine reichlichere Mahlzeit vorhanden. Gut; statt einer solchen würde man sich mit vier dürftigeren begnügen müssen, das wäre alles, und damit reichte man bis zum Abend des 18. Juni. Bis dahin hätte man aber unfehlbar Land in Sicht oder wäre schon daran angekommen.

Die Entschiedenheit des Hauptmannes gab der Truppe ihren Mut ein wenig zurück. Man beschloß, sich mit Geduld zu wappnen. Wie traurig sahen[371] aber die Gesichter alle aus! Wie trübselig gestimmt waren die Touristen, die früher so hoffnungsvoll mit abgereist waren!

Nur Baker fühlte sich vollkommen befriedigt. Er sah mit Vergnügen, wie die Gesellschaftsreise der Agentur Thompson Tag für Tag unglücklicher verlief. Die Menschen Hungers sterben zu lassen! Nein, das war ja köstlich! Wenn nur einer oder zwei Passagiere erst tot gewesen wären, dann hätte sein Glück keine Grenzen gekannt.

Das hätte dem Fasse den Boden ausgeschlagen. Doch auch wenn es nicht dahin kam, hielt er seinen Gegner für endgültig zermalmt, und mit einer Geste, zu der er unverständliche Worte murmelte, strich er den Namen Thompson aus der Liste der englischen Reiseunternehmer.

Für die Gefahr, die ihm selbst drohte, schien er keinen Sinn zu haben; es sah fast so aus, als ob der rachgierige, gallige Engländer einen Talisman für den Hunger besäße.

Der 17. verlief unter der Herrschaft des neuen Ernährungssystems, das übrigens gar nicht so schmerzlich empfunden wurde. Halbleere Magen machen aber auch schwächere Gehirne, und die Demoralisation nahm deshalb unter den Passagieren immer mehr überhand.

Am 18. Juni fing der Tag in recht trauriger Weise an. Die Reisenden sprachen nicht miteinander, vermieden, ja flohen sogar einer den andern, alle starrten nur gespannt nach Süden hinaus, wo noch kein Land zu sehen war.

Beim Frühstück wurde das letzte Stück Brot verzehrt. Wenn sich bis zum Abend noch kein Land zeigte, wurde die Lage tatsächlich höchst ernst.

Im Laufe des Tages unterbrach eine Abwechslung die allgemeine Mißstimmung, und diese, vielleicht etwas grausame Abwechslung lieferte wie gewöhnlich Mr. Blockhead.

Der unglückliche Ehren-Krämer hatte entschieden in allem Pech. Als die letzten Nahrungsmittel zu fehlen begannen, konnte er seinen Anteil nicht einmal genießen. Das dazu nötige Instrument war nicht in seiner Hand oder vielmehr nicht in seinem Munde.

Welch ein törichter Gedanke aber auch, sich zum Aquilo (Gott des stürmischen Nordwindes) zu machen. Die Zahnfleischentzündung, die ihm diese Phantasie eingebracht hatte, besserte sich bis jetzt nicht nur nicht, sondern verschlimmerte sich vielmehr von Tag zu Tag, und die Wangenanschwellung nahm dabei einen wahrhaft phänomenalen Umfang an.[372]

Blockhead konnte die Qual nicht mehr aushalten. Er suchte Thompson auf und verlangte von ihm in einem Tone, den der Schmerz etwas heftig erscheinen lassen mochte, er solle ihm Linderung verschaffen. Hätte er nicht einen Arzt mit an Bord haben sollen?

Thompson betrachtete mit trauriger Miene diesen neuen Feind seiner Ruhe. Also so weit ging es! Welchen Fußtritt würde ihm die Zukunft nun wohl noch aufgespart haben?

Die Beschwerden Blockheads waren indes so wenig zu verkennen, daß er wenigstens den Versuch machen wollte, ihnen abzuhelfen. Man braucht ja nicht gerade Arzt zu sein, um einen Zahn ausziehen zu können. Dazu eignet sich schon, wer eine Pinzette, im Notfalle eine Zange zu handhaben versteht. An Bord gab es ja eine ganze Menge Leute, die mit solchen Instrumenten umzugehen wußten. In der Güte seines Herzens führte Thompson deshalb den Leidenden nach dem Logis der jetzt unbeschäftigten Mechaniker.

Einer von diesen erklärte sich sofort bereit und machte sich anheischig, die Operation auszuführen. Es war das ein großer Bursche mit geröteter Haut, rötlichem Haar und von herkulischem Bau. Ohne Zweifel hatte er eine Faust, die genügen mußte, Blockhead mit einem Ruck von seinem Leiden zu befreien.

Eine Schraubenmutter ist aber ein ander Ding als ein Zahn. Das sollte auch der improvisierte Therapeut erfahren. Eine mächtige Zange in der Hand, mußte er diese dreimal ansetzen, und das unter dem jämmerlichsten Geheul des Patienten, der auf dem Deck im vollen Sonnenschein saß und von zwei sehr lustigen, handfesten Gesellen gehalten wurde...

Die vielfachen Verrenkungen des Ehren-Krämers hätten unter allen andern Umständen nicht verfehlt, das Lachen seiner mitleidlosen Gefährten zu erwecken. Der Mensch ist nun einmal so: der Sinn für das Komische ist bei ihm stärker ausgeprägt als der der Teilnahme. Das Lachen wurde auch früher geboren als das Mitleid. In seiner augenblicklichen Lage konnte Mr. Blockhead aber sich so grotesk verrenken wie er wollte; kaum ein heimliches Lächeln folgte ihm, als er, endlich befreit und die Wange zwischen beiden Händen, seiner Kabine zusteuerte.

Trotz seines Leidens war aber seine Fähigkeit alles zu bewundern, nicht verloren gegangen. Von einem Maschinisten operiert worden zu sein, und das mit einer Schmiedezange, an Bord eines verunglückten Schiffes, das war doch nichts Alltägliches, und jetzt, wo das Abenteuer überstanden war, war Blockhead[373] gar nicht böse darüber, dessen Held gewesen zu sein. Er fand sogleich wieder die Kraft, seinen Zahn zu reklamieren; der würde ihm später eine greifbare Erinnerung an diese außergewöhnliche Lustreise sein. Der Zahn, ein tüchtiger Backenzahn, wurde ihm ausgeliefert, und als Blockhead ihn von allen Seiten besehen hatte, steckte er ihn sorgfältig in die Tasche.

»Er wird ihn gegen Sie aufbewahren,« sagte Baker liebenswürdig zu Thompson, der seinen erleichterten Passagier nach dem Hinterdeck führte.

Blockhead hätte jetzt wieder essen können.

Leider war das zu spät: an Bord der »Seamew« gab es nichts mehr zu beißen.

Am Abend dieses denkwürdigen Tages, der den Ruin der Kombüse herbeiführte, gelang es noch, als man in den verstecktesten Winkeln umhersuchte, einige Reste von Eßwaren zu finden, einige Brocken, mit denen man vorlieb nehmen mußte. Das war aber das letzte Mahl. Das Schiff war von oben bis unten durchsucht und sorgfältig gesäubert worden, und wenn das Land nun nicht in kürzester Zeit auftauchte, konnte Passagiere und Mannschaft nichts vor den Schrecken des Hungers retten.

Wie sehnsüchtig blickten da alle nach dem südlichen Horizonte.

Vergeblich. Als die Sonne am 18. unterging, verschwand sie noch immer hinter einem untadeligen Kreise, den kein Profil eines Landes unterbrach.

Von den Inseln des Grünen Vorgebirges konnte man jedoch nicht mehr weit entfernt sein. Ein Irrtum des Kapitäns Pip war gar nicht anzunehmen, es handelte sich also nur um eine Verzögerung. In der Nacht würde man gewiß auf Land treffen.

Das Schicksal hatte es anders beschlossen. Um das Unglück voll zu machen, flaute die Brise mit Sonnenuntergang ab und wurde von Stunde zu Stunde schwächer. Vor Mitternacht schon herrschte völlige Windstille. Die nicht mehr zu steuernde »Seamew« konnte, um an ein Land zu kommen, nur noch auf die Meeresströmung rechnen, mit der sie dahintrieb.

In der Zone der Passate ist ein Richtungswechsel des Windes äußerst selten. Da die »Seamew« aber nach Süden zu abtrieb, hatte sie sich schon der Gegend genähert, wo die Winde nicht mehr so beständig sind. Es wäre unrichtig, zu sagen, daß sie die Grenze der Passate schon erreicht gehabt hätte, bei den Inseln des Grünen Vorgebirges erleiden diese aber, infolge der Nähe des Festlandes, mannigfache Störungen. Sehr wenig südöstlich von dem Archipel[374] sind sie vollständig aufgehoben, während sie auf dem Ozean unter derselben Breite noch unverändert fortdauern. In der genannten Gegend wehen sie einigermaßen beständig nur vom Oktober bis zum Mai. Im Dezember und Januar herrschen Ostwinde, deren glühender Atem alles versengt und vernichtet. Juni, Juli und August bilden die Regenzeit, und man durfte sich glücklich schätzen, daß die »Seamew« bisher ein trocknes Deck behalten hatte.

Bei dem neuen Ungemach, das das Schicksal ihm bescherte, verspürte Thompson große Lust, sich die Haare auszuraufen. Was den Kapitän Pip betraf, hätte der Kuckuck dessen Gedanken und Gefühle erraten können. Kaum autorisierte er Artimon durch ein leichtes Zusammenziehen der Augenbrauen anzunehmen, daß er sich über diese Widerwärtigkeit doch ein bißchen ärgerte.

Wenn der Kapitän seine Beunruhigung auch verbarg, war sie doch nichtsdestoweniger vorhanden. Die ganze Nacht blieb er auf der Brücke, doch welches Mittel hätte er gehabt, ein in Sicht kommendes Land mit einem Fahrzeug ohne Seele anzulaufen, mit einer Schiffsleiche, die keinem Steuer mehr gehorchte?

Doch vor diese Frage sah er sich noch nicht gestellt. Das Morgenrot des 19. beleuchtete nur eine ungeheure flüssige Ebene, ohne ein Eiland, ohne ein Felsenriff.

Dieser Tag wurde ungemein lästig. Von früh an singen die gestern nur halb befriedigten Magen an, Hunger zu schreien. Wenn die kränklichen und schwachen Passagiere diese anbrechende Fastenzeit auch halbwegs ertrugen, so war sie für die kräftigen doch eine wirkliche Qual. Unter den zweiten fiel besonders Piperboom durch sein eingefallnes Gesicht auf. Am Tage vorher hatte er sein Bedauern nur durch einen undefinierbaren Blick bekannt gegeben, womit er das Stummbleiben der Glocke und das Fehlen jeder Vorbereitung zu einer Mahlzeit konstatierte. Als heute aber die Stunden hingingen, ohne daß weder zu einem ersten, noch zu einem zweiten Frühstück geläutet wurde, da hielt er es nicht länger aus. Er suchte Thompson auf und gab ihm mit Hilfe einer ausdrucksvollen Pantomime zu verstehen, daß er vor Hunger umkomme. Als aber Thompson ihm durch Gesten seine Ohnmacht, dem abzuhelfen, bekannt hatte, da verfiel der Holländer der vollen Verzweiflung.

Wieviel weniger unglücklich war dagegen der schwammähnliche Johnson. An Alkohol mangelte es an Bord der »Seamew« nicht, und was machte es da aus, daß man nichts essen konnte, wenn nur genug zu trinken da war? Johnson[375] trank aber mehr als je vorher, und seine ewige Stumpfsinnigkeit ließ ihn keine Furcht anwandeln.

Baker hatte nicht ein gleiches Arzneimittel bei der Hand, und doch schien auch er immer in bester Laune zu sein. Ja er steckte sogar ein blühendes Gesicht auf, so daß sich Morgan gegen Mittag nicht enthalten konnte, seine Verwunderung darüber auszudrücken.

»Sie haben also wohl gar keinen Hunger? fragte er ihn.

– Bitte, erlauben Sie: ich habe nicht »mehr« Hunger. Das ist ein Unterschied.

– Gewiß! gab Morgan zu. Und Sie würden sehr gütig sein, wenn Sie mir ihr Mittel verraten wollten.

– Das ist höchst einfach: man braucht nur wie gewöhnlich zu essen.

– Zu essen? Ja, aber was?

– Das will ich Ihnen zeigen, antwortete Baker, indem er Morgan mit in seine Kabine nahm. Es wird wohl für zwei genug da sein.«

In der Kabine war aber nicht für zwei, nein, für zehn genug vorhanden.

Morgan bekam zwei ungeheure Koffer mit Lebensmitteln angefüllt zu sehen, nachdem er unverbrüchliches Schweigen darüber gelobt hatte.

»Wie, rief er in heller Bewunderung dieser Vorsorglichkeit, auch daran haben Sie gedacht!

– Wer unter der Flagge der Agentur Thompson reist, muß an alles denken,« antwortete Baker mit ernster Miene, während er Morgan noch anbot, sich aus seinen Vorräten zu bedienen.

Dieser nahm das nur an, um seine Beute den zwei Amerikanerinnen zu bringen, die ihr alle Ehre antaten, nachdem sie die Versicherung erhalten hatten, daß ihr vom Himmel gesandter Lieferant seinen Anteil schon verzehrt hätte.

Die übrigen Passagiere, denen ein solches Labsal versagt blieb, fanden die Zeit merkwürdig lang. Welcher Aufschrei der Erleichterung ertönte aber, als gegen ein Uhr Nachmittag vom Fockmast herunter der Ruf »Land! Land!« hörbar wurde.

Alle hielten sich für gerettet und richteten die Blicke nach der Kommandobrücke. Der Kapitän war nicht auf seinem Posten.

Es erschien aber doch notwendig, ihn zu unterrichten. Ein Passagier klopfte an die Tür seiner Kabine. Der Kommandant war weder darin, noch irgendwo auf dem Hinterdeck zu finden.[376]

Das fing an, beunruhigend zu werden. Mehrere Touristen verstreuten sich über alle Teile des Schiffes und riefen nach dem Kapitän. Sie fanden ihn nicht. Inzwischen hatte sich, niemand wußte wie, die Nachricht verbreitet, daß ein Matrose, der in den Frachtraum hinuntergeschickt worden war, gemeldet habe, darin stände das Wasser drei Fuß hoch.


Alle stürzten nach den Booten. (S 379.)
Alle stürzten nach den Booten. (S 379.)

Das erregte eine Bestürzung sondergleichen. Alle stürzten nach den Booten, die so viele gar nicht hätten aufnehmen können. Der Kapitän hatte jedoch, als er sich entfernte, gewisse Befehle hinterlassen. Die Anstürmenden stießen auf eine Abteilung Seeleute, die die Boote bewachten, und der Menschenstrom wurde unwiderstehlich auf das Spardeck zurückgedrängt, wo alle Muße hatten, auf Thompson wie auf Kapitän Pip zu schimpfen, deren Eigensinn ihnen die letzten Rettungsmittel verweigerte.

Auch Thompson war nicht zur Stelle. Als er sah, welche Wendung die Dinge nahmen, hatte er sich wohlweislich in einem Winkel verkrochen, wo er in Sicherheit das Ende des Unwetters abwartete.

Der Kapitän tat, während man ihn mit Anschuldigungen überhäufte, wie immer seine Pflicht.

Kaum hatte er Meldung von der neuen Komplikation erhalten, als er auch schon in den Raum hinuntereilte, und hier eine sorgsame Untersuchung vornahm, die leider kein ermutigendes Ergebnis hatte.

Er konnte gut von einem Ende zum andern alles nachsehen, eine eigentliche Verletzung des Schiffsrumpfes war da nicht zu entdecken. Es fand sich kein wirkliches Leck, das man mit mehr oder weniger Schwierigkeiten hätte verschließen können, sondern vielmehr hunderte von kleinen Undichtheiten. Wenn das Wasser an keinem Punkte in stärkerm Strome eindrang, so sickerte es doch Tropfen für Tropfen an tausend Stellen herein. Durch den wiederholten Anprall von Wellen hatten sich offenbar die Nieten gelockert und waren die Fugen aufgesprungen: die »Seamew« ging ganz einfach an Altersschwäche zugrunde.

Dagegen war nichts zu machen, und der Kapitän, der, das Ohr an die Wegerung gelegt, dem Eindringen des Mordwaffers lauschte, mußte sich als entwaffnet bekennen.

Dennoch bewahrte er seinen gewohnten Gesichtsausdruck, als er wenige Augenblicke später auf das Spardeck kam, und mit ruhiger Stimme beorderte er die Mannschaft an die Pumpen.[379]

Alles in allem war die Lage ja keine verzweifelte. Das Land lag in der Nähe, und es war wohl darauf zu rechnen, daß es bei fleißigem Pumpen gelingen werde, den Schiffsraum annähernd trocken zu erhalten.

Doch auch diese Hoffnung sollte zuschanden werden. Wiederholte Sondierungen bewiesen, daß das Wasser trotz aller Anstrengungen in der Stunde um fünf Zentimeter stieg.

Anderseits schien man sich dem stets sichtbar gebliebnen Lande nicht merkbar genähert zu haben. Die Sonne ging unter, ehe die ferne Wolke aufgehört hatte, eine Wolke zu sein.

Diese Nacht konnte niemand schlafen. Fieberhaft gespannt erwarteten alle den Aufgang der Sonne, der im Juni glücklicherweise ziemlich früh stattfindet.

Schon vor vier Uhr war da ein niedriges, sandiges Land zu erkennen, das gegen zehn Meilen im Südwesten von einem mäßig hohen Hügel überragt war. Bei der geringen Erhebung ihres hervorragendsten Punktes, des Pic Martines, hätte diese Insel, die der Kapitän als die »Salzinsel« bezeichnete, gestern höchstens aus zwanzig bis fünfundzwanzig Seemeilen Entfernung sichtbar sein können. Die Strömung, mit der die »Seamew« hintrieb, mußte demnach wesentlich langsamer geworden sein.

Doch so schwach sie auch sein mochte, jedenfalls lief sie gerade auf die Küste zu, und mit der Geschwindigkeit von einem Knoten in der Stunde kam das Schiff bis auf eine Seemeile an eine Spitze heran, die der Kapitän die Martinesspitze nannte, als die Strömung plötzlich ihre bisherige Richtung wechselte und von Norden nach Süden lief, während ihre Geschwindigkeit sich verdoppelt hatte.

Es war jetzt die höchste Zeit, daß das Land so nahe lag. Das Wasser stand im Raume schon zwei Meter zwanzig Zentimeter hoch. Unter dem Einflusse derselben Ursachen, die es bis hierher getrieben hatten, mußte das Schiff aber zweifellos bald an einem Vorsprunge des Ufers stranden, was bei der schönen Witterung und dem ruhigen, ölglatten Meere keine Gefahr bedeutete.

Doch nein, die »Seamew«, ein träges, wirkliches Wrack, trieb parallel mit der Küste hin, ohne sich ihr zu nähern. Mit der Strömung, die sie trug, glitt sie längs aller Einbuchtungen hin, um alle Landvorsprünge herum und blieb vom Ufer überall eine Seemeile weit entfernt.

Jede Minute wurde eine Sonde ausgeworfen. Immer dasselbe Resultat: kein Grund. Es war also unmöglich, sich vor Anker zu legen. Eine Beute[380] der verbissenen Wut über seine Ohnmacht, zerkaute sich der Kapitän buchstäblich den Schnurrbart.

Eine wirkliche Tantalusqual: die Rettung so vor Augen zu haben, und sie doch nicht ermöglichen zu können!

Das Aussehen der Insel war übrigens keineswegs so einladend. Kein Baum, kein grüner Fleck. So weit der Blick reichte, nichts, gar nichts als Sand.

Je mehr man nach Süden kam, desto niedriger wurde die Küste. Die Insel wurde zur Ebene, die nur von leichten Bodenwellen unterbrochen und von abstoßender Unfruchtbarkeit war.

Gegen halb vier Uhr trieb das Schiff gegenüber Pedra de Lume, einem recht guten Ankerplatze, hin, auf dem sich einige Fischerboote schaukelten. Hier gab man vergeblich Notsignale. Pedra de Lume trat immer weiter zurück und verschwand endlich ganz.

Zwei Stunden später umschiffte man die »Ostspitze«, und ein Hauch von Hoffnung zog wieder in die Herzen der Insassen der »Seamew« ein. Infolge eines Wirbels hatte sich das Schiff der Küste ein gutes Stück genähert; jetzt lag es nur noch fünfhundert Meter von ihr entfernt.

Zum Unglück ließ aber diese Bewegung ebenso nach, wie sie begonnen hatte, ohne daß jemand begriffen hätte, warum, und die »Seamew« fuhr fort, längs der Küste der Salzinsel hinzutreiben, von der man jetzt jede Einzelheit unterscheiden konnte. Bei dieser geringen Entfernung hätte man sich durch Rufen bemerklich machen können, wenn nur ein Mensch zu sehen gewesen wäre. In dieser Wüste gab es aber kein lebendes Wesen. Vor den Augen dehnte sich nur eine wirkliche Steppe aus, die vollständig die Bezeichnung jenes Engländers rechtfertigte, der die Salzinsel einmal »das Sandgrab« genannt hatte. Niedrig, grau und düster, reichte das Unland bis zum Niveau des Meeres herab, wo es vor der Brandung durch einen Klippengürtel beschützt wurde.

Die »Seamew«, die mit gleichbleibender Geschwindigkeit ihre unerbittliche Richtung beibehielt, kam um die Bai herum, die sich hinter der Ostspitze ins Land hineindrängt. Vor Ablauf einer Stunde würde sie die »Schiffbruchspitze« erreicht haben, und dann lag vor ihr wieder das offne Meer, das unergründlich tiefe Meer, worin sie langsam versinken würde.

Plötzlich rief da der Mann, der, an den Kranbalken stehend, eben sondierte:

»Fünfundzwanzig Faden! Sandiger Grund!«[381]

Der Kapitän sprang vor Freude auf seiner Brücke umher. Offenbar hob sich hier der unterseeische Boden. Wenn das nur eine kurze Strecke weiter reichte, müßte es gelingen, vor Anker zu gehen.

»Lassen Sie den Anker vor den Kran bringen, Flyship,« sagte er ruhig zum zweiten Offizier.

Noch eine Viertelstunde folgte die »Seamew« der Strömung, während die Sonde immer seichter werdendes Wasser nachwies.

»Zehn Faden! Sandiger Grund! rief endlich der Mann an den Kranbalken.

– Anker aus!« kommandierte der Kapitän.

Die Kette lief geräuschvoll durch das Klüsgatt ab, dann schweite die »Seamew« mit dem Bug nach Norden und blieb nun still liegen.

Ja, ganz still, ohne das geringste Stampfen oder Rollen auf einem Meere, dessen Spiegel nicht das kleinste Wellengekräusel trübte. Ein Binnensee hätte nicht friedlicher aussehen können.

Doch eine andre Gefahr, als ein Sturm, bedrohte die Touristen der Agentur Thompson. Das Fahrzeug, das sie trug, sank allmählich tiefer ein. Das Wasser, das den Raum jetzt schon zur Hälfte ausfüllte, stieg immer weiter, und bald mußte das Hauptdeck mit dem Meere in einer Ebene liegen.

Jetzt hieß es also, sich beeilen und eine Zuflucht auf dem Lande suchen.

Da die »Seamew« jedoch mit Hilfe ihrer Pumpen imstande war, sich noch stundenlang schwimmend zu erhalten, drängte die Zeit wenigstens nicht allzusehr.

Das gestattete also eine geordnete Ausschiffung ohne Schieben und Stoßen und ohne nutzlose Übereilung, so daß man Muße genug hatte, die Kabinen auszuräumen. Da wurde, bis auf die unscheinbarsten Dinge, nichts vergessen. Ehe man an die Rettung der Menschen ging, erlaubte man sich noch den Luxus, das Gepäck zu bergen.

Gegen halb acht Uhr waren alle Passagiere heil und gesund ans Land befördert.

Vor ihrem Gepäck in Zwiebelzopfreihe stehend und etwas außer Fassung über das Abenteuer, sahen sie stumpfsinnig auf das Meer hinaus, ohne eine Wort zu finden.

Nachdem Kapitän Pip, wie es die Vorschriften für Seeleute verlangen, als letzter, und ihm auf den Fersen Artimon, sein Schiff verlassen hatte, stand[382] er jetzt, nach dessen Verluste, mit den Leuten der Besatzung auf gleicher Stufe. Auch er betrachtete sich das Meer, obwohl ein oberflächlicher Beobachter sich hierüber leicht hätte täuschen können. Tatsächlich hatte der Kapitän niemals so furchtbar geschielt, und eine schlimmere Viertelstunde hatte seine Nase auch noch nicht erlebt.

Seitdem nun die Pumpen verlassen waren, versank das Schiff sichtlich schneller. Nach einer halben Stunde hatte das Wasser die Kabinenfensterchen erreicht, dann stieg es weiter... weiter.

Es war genau um acht, der Zeitpunkt, wo die Sonne im Westen den Horizont berührte, als die »Seamew« unterging. Ohne Widerstand, ohne Todeskampf verschwand sie in den Fluten, die sich dann ruhig über ihr zusammenschlossen. Einen Augenblick vorher sah man das Schiff noch, dann nicht mehr... das war alles.

Die Touristen standen zu Bildsäulen erstarrt am Ufer, sie konnten das eben Geschehene nicht für Ernst nehmen, sie waren, wie der Dichter sagt, dadurch zu Steinen verwandelt.

In fröhlichster Stimmung nach den Kanarien abzureisen und auf einer Sandbank des Grünen Vorgebirges anzukommen, damit ließ sich nicht gerade Staat machen. Ja, wenn sie noch Stürme auszustehen gehabt hätten, wenn ihr Schiff an Klippen zerschellt wäre! Doch nichts dergleichen war geschehen. Die Natur hatte sich ihnen immer gütig erwiesen: ein tiefblauer Himmel, leichte Winde, ein wenig erregtes Meer... kein Trumpf hatte ihrem Spiele gefehlt. Gerade heute herrschte das allerschönste Wetter.

Und doch, hier standen sie... ans Land gesetzt... verlassen...

Hat man schon jemals von einem solchen Schiffbruche gehört? Konnte man sich wirklich etwas noch Sinnloseres vorstellen?

Und die Touristen standen hier mit weit aufgerissenem Munde vor dem unendlichen Meere, und kamen sich – gewiß nicht ohne Grund – ein wenig lächerlich vor.[383]

Quelle:
Michel Verne: Das Reisebüro Thompson und Comp. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XCI–XCII, Wien, Pest, Leipzig 1909, S. 371-384.
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