Neuntes Kapitel.

Wo Thompson sich zum Admiral verwandelt.

[384] Die Nacht verging für die ehemaligen Passagiere der »Seamew« ziemlich gut. Betten hatten sie freilich nicht, der elastische Sand eignete sich aber vortrefflich, darauf zu schlafen.

Der erste Sonnenstrahl weckte auch die trägsten Schläfer. Augenblicklich erhoben sich alle, um bald zu erfahren, was sie zu hoffen oder zu fürchten hätten.

Die Sachlage erkannten sie auf den ersten Blick: ringsum vollständige Ode.

Vor ihnen das Meer, ohne ein einziges Segel. Über das Wasser ragten noch die Masten der »Seamew« heraus, deren Leichnam zwanzig Meter tiefer in seinem nassen Grabe ruhte.

An der andern Seite eine Wüstenei, deren Traurigkeit einem das Herz zusammenschnürte. An der Stelle, wo sie gelandet waren, lief das Ufer in eine schmale Spitze aus. Im Norden mit der trostlosen Erde verbunden und an drei Seiten vom Meere umgeben, war das nur eine Sandzunge kaum von einer Seemeile Breite, die wegen ihres Salzreichtums völlig unfruchtbar und mit höckrigen Muschelschalen bestreut war.

Ängstlich fragten sich alle, welche Hilfe von einem solchen Lande wohl zu erwarten wäre, eine Antwort darauf fand aber niemand.

Zum Glück wachte und sorgte Kapitän Pip für die bestürzte Gesellschaft.

Als er sah, daß seine Passagiere aufgestanden waren, versammelte er sie um sich und setzte ihnen mit kurzen Worten die Lage auseinander.

Diese war sehr einfacher Natur.

Infolge der Vorkommnisse, auf die hier einzugehen der Kapitän nicht für angezeigt hielt, sagte er nur, daß man sich gegenwärtig in Not auf der südöstlichen Küste der Salzinsel, fast am Ende der Schiffbruchspitze befinde. Da die Salzinsel aber keinerlei Hilfsquellen biete, handle es sich darum, so schnell wie möglich auf Mittel zu sinnen, sie zu verlassen.[384]

Vorläufig hatte der Kapitän schon für das Notwendigste Vorsorge getroffen. Auf sein Geheiß war Morgan in Begleitung eines Bootsmannes bereits seit einer Stunde nach dem Leuchtturm aufgebrochen, der sich am Ende der Südspitze, nicht weit vom Schauplatze der Katastrophe erhob. Hier gaben sich die beiden Abgesandten zu erkennen und suchten sich Lebensmittel zu verschaffen. Man hatte nur deren Rückkehr abzuwarten.

Die Mitteilung des Kapitäns erinnerte seine Zuhörer, daß sie vor Hunger fast umkamen. Bei der moralischen Unordnung, in die sie das Abenteuer versetzt hatte, hatten sie das ein wenig vergessen. Ein Wort genügte aber, ihren Appetit, den sie seit fünfzig Stunden nicht zu stillen vermocht hatten, aufs neue zu erwecken.


Die »Seamew« verschwand in den Fluten. (S. 383.)
Die »Seamew« verschwand in den Fluten. (S. 383.)

Immerhin mußten sie ihr Leiden wohl oder übel mit Geduld tragen, da es ja doch kein Mittel gab, es abzukürzen. Die Touristen ergaben sich also darein, auf dem Strande ein Stück hin- und herzugehen, wobei ihnen die Stunden allerdings nur langsam vergingen. Glücklicherweise blieb das Wetter schön und der Himmel unter einer frischen Nordwestbrise, die von Stunde zu Stunde zunahm, völlig rein.

Fast gegen acht Uhr kehrten Morgan und der Bootsmann von ihrer Mission zurück und brachten einen von einem Maultier gezogenen und von einem Negerkutscher geführten Karren mit. Die Beladung des Karrens, die aus Lebensmitteln der verschiedensten Art bestand, zog einen Augenblick die allgemeine Aufmerksamkeit allein auf sich.

Alle stießen und drängten sich, und Thompson mußte sich einmischen, damit die Verteilung der Nahrungsmittel einigermaßen in Ordnung vor sich ging. Endlich trug jeder seinen Anteil davon und lange Zeit herrschte ein tiefes Schweigen, das nur durch die Arbeit der Kinnladen unterbrochen wurde.

Piperboom war vor allen prächtig anzuschauen. Ein Vierpsundbrot in der einen und eine große Hammelkeule in der andern Hand, hob und senkte er die Arme mit der Regelmäßigkeit einer Dampfmaschine. Trotz ihres eignen Heißhungers waren die Gefährten des Holländers wie vor Erstaunen fast gelähmt, als sie dieses mechanische Hinunterschlucken bemerkten. »Er wird sich krank machen,« dachte mehr als einer.

Piperboom bekümmerte sich aber wenig um die Folgen, die sein Verhalten haben könnte, seine Hand blieb bei dem unstörbaren Auf und Ab. Allmählich verschwand das Brot mit der Hammelkeule in gleichbleibendem Verhältnis. Dann[387] rieb sich Piperboom die Hände und zündete sich die Pfeife an, ohne sich nur im geringsten belästigt zu fühlen.

Während die Passagiere und die Mannschaften ihren Appetit befriedigten, besprach sich der Kapitän unter Vermittlung Morgans mit dem eingeborn en Besitzer des Wagens. Was er von dem erfuhr, klang freilich keineswegs ermutigend.

Die Salzinsel ist nur eine Art Steppe von zweihundert Quadratkilometern Oberfläche, auf der noch vor weniger als einem Jahrhundert kein Mensch lebte. Zum Glück für die Schiffbrüchigen war ein Portugiese etwa vor fünfzig Jahren auf den Gedanken gekommen, die Salzlager auszubeuten, nach denen die Insel ihren Namen führt, und diese Industrie hatte dann gegen tausend Einwohner herangezogen. Die einen sind Fischer, die andern, und zwar die große Mehrzahl, Salinenarbeiter, nirgends aber haben sie ihre Hütten einander so benachbart errichtet, daß damit eine Stadt oder nur ein Flecken entstanden wäre. Nur am Rand der Bai Mordeira, eines trefflichen Ankerplatzes an der Westküste der Insel, hatten einige Häuschen eine Art Flecken gebildet, der am Ende eines Schienenweges lag, worauf die mit Segeln ausgestatteten Wagen die Produkte der Salinen bis ans Meer beförderten.

In diesem kaum fünfzehn Kilometer entfernten Dorfe sollte man Hilfe finden, wenn Hilfe überhaupt zu finden war.

Als er diese Mitteilung erhalten hatte, machte sich Thompson sofort mit dem Eingebornen auf den Weg, womöglich genug Wagen oder Karren aufzutreiben, auf denen die Menschen und das Gepäck dahin gebracht werden könnten. Inzwischen blieb den Passagieren nichts weiter übrig, als ihre Promenade von neuem aufzunehmen. Jetzt lösten aber die wohlgefüllten Magen wieder alle Zungen und jeder ließ seinen Gefühlen freien Lauf.

Die einen waren ruhig, die anderen traurig, noch andre wütend. Ausnahmsweise drückte das Gesicht des Mr. Absyrthus Blockhead nicht die gewöhnliche unbegrenzte Befriedigung aus. Der Ehren-Krämer war ganz melancholisch, mindestens grübelte er über irgendetwas. Seinen Teller beachtete er sehr wenig, sondern ließ die Blicke überall umherschweifen, als ob er etwas verloren hätte. Endlich konnte er sich nicht mehr zurückhalten, und indem er sich an Roger de Sorgues wandte, der ihm besondres Vertrauen einflößte, fragte er:

»Wir sind doch hier beim Kap des Grünen Vorgebirges, nicht wahr, lieber Herr?[388]

– Ja gewiß, antwortete Roger, ohne zu begreifen, worauf der Mann hinauswollte.

– Dann sagen Sie mir, bester Herr, wo ist denn dieses Kap? platzte Blockhead heraus.

– Das Kap? wiederholte Roger. Welches Kap denn?

– Das grüne Kap, sapperment! Man hat nicht alle Tage Gelegenheit, ein grünes Kap zu sehen, und ich will das hier meinem Abel zeigen.«

Roger unterdrückte mit Mühe einen Ausbruch des Lachens.

»Ach, lieber Herr, darauf werden Sie nicht rechnen können, erwiderte er mit teilnehmender Miene. Ihr Herr Abel wird das grüne Kap nicht sehen können.

– Warum denn nicht? fragte Blockhead enttäuscht.

– Weil es gerade in Reparatur ist, versicherte Roger kaltblütig.

– Reparatur?

– Ja wohl. Seine Farben fingen an, etwas zu verschießen. Da bat man es nach England geschafft, es frisch anstreichen zu lassen.«

Blockhead sah Roger mit etwas zweifelndem Blicke an. Dieser bewahrte aber heldenhaft seinen Ernst, und der Ehren-Krämer mußte das schließlich für wahr halten.

»Ach, rief er einfach mit bedauerndem Tone, wir haben aber wirklich ausgesprochnes Pech!

– Ja, leider!« bestätigte Roger, der dem Ersticken nahe war, während sein lästiges Gegenüber zu den Seinigen zurückkehrte.

Unter den Wütenden machten sich natürlich Baker und Hamilton am meisten bemerkbar. Sie hatten dazu ja die schönste Gelegenheit. Wovon kamen denn alle diese Unfälle, wenn nicht von dem Geiz und der Sorglosigkeit Thompsons? Das war ein unwiderlegbarer Satz. Aber auch die Gruppe der Passagiere, die Baker umringte, erkannte dieser für die Majorität. Allen predigte er den Krieg für den Tag, wo man nach England zurückgekehrt sein würde, und seine aufreizenden Reden fanden ein nur zu williges Echo.

Auch mit Johnson entpuppte sich ein unerwarteter Verbündeter. Während er sich bisher mehr zurückgehalten hatte, ließ er sich jetzt vom höchsten Zorn hinreißen. Er schrie vielleicht noch lauter als Baker selbst, erging sich in beleidigenden Redensarten gegen Thompson und seine Agentur und wiederholte zum Überfluß den Schwur, daß er diesen vor alle englischen Gerichtshöfe zitieren werde.[389]

»Dieser trunkne Hydrophile und Geophobe ist so aufgebracht, weil er jetzt wider seinen Willen hat ans Land gehen müssen.« sagte Roger, der von fern die Gruppe der erhitzten Köpfe beobachtete.

Roger selbst war ebensowenig traurig wie erzürnt. Sein guter Humor half ihm über alles hinweg. Freudig wäre er in eine Schlacht gegangen und wenn's ihm da auch an Kopf und Kragen ging.

Er befand sich nun einmal auf dieser nackten Insel, wohin ihn das Schicksal verschlagen hatte.

Seine vorige Erklärung hatte Dolly zum Lachen gebracht.

»Der arme Mann, seufzte diese. Wie muß er von der Unordnung in Küche und Keller zu leiden haben!

– Ja, er ist eigentlich der einzige, der sich zu beklagen hat, versicherte Roger ernsthaft. Jawohl, er vor allen, das liegt auf der Hand. Aber die andern? Was kann ihnen ihr Wüten nützen? Ich für meinen Teil halte die Reise für höchst amüsant. Schon ist unser Segel-Dampfer zum Unterseeboot geworden, und ich warte ungeduldig darauf, ihn als Ballon wieder auferstehen zu sehen.

– Hoch lebe der Ballon! rief Dolly in die Hände klatschend.

– Na, mit dem Ballon wird es wohl nichts werden, fiel Morgan etwas mißmutig ein. Das Ende der »Seamew« bezeichnet auch das Ende unsrer Reise. Wir werden, je nach der sich bietenden Gelegenheit, nach England zu kommen, über kurz oder lang zerstreut werden.

– Warum zerstreut? ließ sich Alice vernehmen. Mr. Thompson wird doch, meine ich, seine Passagiere wieder heimbefördern und uns auf dem ersten abgehenden Paketboot einschiffen.

– Die Passagiere, ja gewiß, entgegnete Morgan. Doch die Mannschaft und Ihren ergebnen Diener... das ist eine andre Frage.

– Ach was da! sagte Roger, wir wollen uns doch den Kopf nicht früher zerbrechen, als bis das abgehende Paketboot zur Stelle ist. Es ist überhaupt ein Paketboot, an das ich nicht recht glaube. Das wäre doch eine zu einfache Sache. Ich halte mich an den Ballon, der mir weit passender erscheint!«

Gegen ein Uhr Nachmittag kam Thompson zurück und brachte etwa zwanzig Wagen und Karren aller Art mit, die von Mauleseln gezogen und von Negern geführt wurden. Dann begann sogleich die Verladung der Bagage.

Der General-Unternehmer zeigte sich gar nicht so niedergeschlagen, wie man es unter den gegebenen Umständen erwartet hätte. Da er sein Schiff verloren[390] hatte, und die Heimbeförderung von etwa hundert Personen doch aus seiner Tasche bezahlen mußte, war das gewiß geeignet, auch dem jovialsten Menschen die Laune zu verderben. Thompson schien aber gar nicht traurig zu sein.

Das kam daher, daß das ihm zugestoßene Unglück eine reiche Entschädigung in Aussicht stellte. Die Verpflichtung, für die Rückfahrt von hundert Personen aufkommen zu müssen, war ja gewiß eine unangenehme Sache, der Totalverlust der »Seamew« dagegen war ein wirklicher Glücksfall. Da er das alte Fahrzeug bei solventen Gesellschaften hoch versichert hatte, hielt sich Thompson für überzeugt, daß es ihm gelingen werde, es sich als ein neues bezahlen zu lassen. Der Schiffbruch wurde dann zu einem einträglichen Geschäfte und der General-Unternehmer zweifelte keinen Angenblick, daß seine Rechnung später mit einem anständigen Überschuß abschließen werde.

Diesen Überschuß würde die Agentur ohne Gewissensbisse in die Tasche stecken. Der würde noch dazu beitragen, die schon recht rundlichen Schätze zu vermehren, die ihm eine unermüdliche Sparsamkeit seit der Abfahrt in seiner Geldkatze, die er im Gürtel trug, zu sammeln erlaubt hatte. In diese Geldkatze waren ja schon zweiundsechzigtausend Francs geflossen, die die Passagiere entrichtet hatten, selbst wenn er für Abel nur den halben Preis erhielt. Seitdem waren freilich verschiedne Banknoten, doch keineswegs viele, davon ausgegeben, teils für Kohlen, teils für die Ausflüge der Passagiere und für die Ernährung an Bord. Nun blieben noch die Mannschaften und die Angestellten, darunter Robert Morgan, zu bezahlen. Thompson wollte sich dieser Formalität sofort entledigen, wenn man in dem Flecken angekommen wäre, wo sich, er mochte nun noch so armselig sein, doch wenigstens Tinte und Federn finden würden. Die dann doch noch übriggebliebne Summe würde den Reinverdienst vorstellen, und er hoffte den noch durch die spätern Entschädigungen von den Versicherungsgesellschaften zu vermehren. Nach Thompsons Berechnung mußten dann die ganzen zweiundsechzigtausend Francs übrigbleiben.

Kurz nach zwei Uhr setzten sich die Touristen in Bewegung, die einen im Wagen, die andern zu Fuß. Auf den sandigen Wegen brauchte man drei Stunden, die Bai Mordeira zu erreichen. Hier erhoben sich einige Häuser, die zusammen kaum den Namen eines Dorfes verdienten, am nördlichen Ufer.

In diesem Teile der Insel bot die Natur ein weniger unfruchtbares Aussehen. Der Erdboden hob und senkte sich hier und da und einige Felsen[391] zeigten ihr schwärzliches Haupt über der dürren Sandschicht, die da und dort von schüchterner Vegetation bedeckt war.

Kaum angekommen, ging Thompson, als er eine elende Herberge gefunden hatte, daran, die rückständigen Gehälter auszuzahlen. Jeder erhielt seinen Teil, nicht mehr und nicht weniger, und Morgan sah sich binnen einiger Minuten im Besitz von ganzen hundertfünfzig Francs.

Inzwischen betrachteten die auf dem Strande umherirrenden Passagiere mit einiger Unruhe das vor ihnen liegende Meer. Hatte Roger recht gehabt, als er sich einen leisen Zweifel bezüglich eines bald abgehenden Paketbootes erlaubte? Nicht ein Schiff lag auf der Bai Mordeira vor Anker, auf der nur einige Fischerbarken leise auf- und abschwankten. Was sollte wohl aus der Gesellschaft werden, wenn sie gezwungen war, sich in dem erbärmlichen Weiler, inmitten einer Negerbevölkerung längere Zeit aufzuhalten, hier, wo man noch keinen einzigen Vertreter der weißen Rasse gesehen hatte?

Es war für alle eine Erleichterung, als Thompson wieder erschien. Alle umringten ihn und warteten gespannt darauf, zu hören, was dieser nun beschlossen hätte.

Thompson hatte aber gar nichts beschlossen. Das gestand er offenherzig ein. Dazu fehlten ihm ja alle Unterlagen. Morgan, der in seinem Reiseführer glücklicherweise gut bewandert war, konnte ihm einige oberflächliche Auskünfte erteilen, und Thompson hörte mit einem ganz neuen Vergnügen auf die Mitteilungen, die ihm ja ferner nichts mehr kosteten.

Der Archipel des Grünen Vorgebirges besteht, wie Morgan seine Zuhörerschaft belehrte, aus einer großen Anzahl Inseln oder Eilande, die in zwei deutlich zu unterscheidende Gruppen zerfallen. Die Inseln São-Antonio, São-Vicente, São-Nicolao, Santa-Lucia, Branco und Raza, die in einer fast geraden, etwa von Nordwesten nach Südosten verlaufenden Linie liegen, bilden die eine Gruppe, »Barlovento« oder »Vor dem Winde« genannt, mit den zwei Inseln, der Salzinsel und Boavista. Die beiden letzten, die nach der zweiten Gruppe zu liegen, welche »Sotavento« oder »Sturmwind« genannt wird, bilden mit diesen einen Bogen, dessen Konvexität der Küste Afrikas zugekehrt ist, und in dem man nacheinander südlich von Boavista die Inseln São-Thiago, Fogo und de Brava nebst den Rombos-Eilanden antrifft.

Da ein Aufenthalt auf der elenden Salzinsel unmöglich war, mußte man zuerst zu erfahren suchen, ob nicht bald ein Paketboot daran anlegen würde.


Insel São-Vicente.
Insel São-Vicente.

Wenn das nicht der Fall wäre, bliebe nichts andres übrig als der Versuch, auf einigen der auf der Bai verankerten Fischerbarken nach einer andern Insel mit regerem Verkehr zu kommen. Es handelte sich also in erster Linie darum, welche Insel gewählt werden sollte.

»So werden wir nach São-Vicente fahren,« erklärte Morgan ohne Zögern.

Diese Insel, übrigens nicht die größte des Archipels, hat schon längst dessen ganzen Handelsverkehr mehr und mehr an sich gezogen. An ihrer Hauptstadt Porto Grande, deren flottierende Bevölkerung die ansässige Gemeinde um das Zwanzigfache übertrifft, liegen gelegentlich wohl hundert Fahrzeuge. In dem herrlichen und stark besuchten Hafen würden gewiß kaum vierundzwanzig Stunden vergehen, ohne daß sich Gelegenheit böte, nach England zurückzukehren.

Der Kapitän, der darum befragt wurde, bestätigte, was Morgan gesagt hatte.

»Ja, Sie haben ganz recht, sagte er. Leider bezweifle ich, daß wir nach São-Vicente gegen den Nordwest aufkommen können, dazu wurden wir mehrere Tage brauchen, meiner Ansicht nach ist das ein unausführbares Unternehmen mit den Barken, die wir sehen. Ich denke, wir sollten lieber eine der Inseln Unter dem Winde zu erreichen suchen.

– Dann also jedenfalls São-Thiago,« schlug Morgan vor.

Zwar nicht so handelstätig wie São-Vicente, ist São-Thiago dafür die größte Insel des Archipels, sein wichtigster Ort Praya, dessen Hauptstadt.

Sie hat einen vorzüglichen Hafen, wo der Schiffsverkehr jährlich über hundertvierzigtausend Tonnen beträgt. Auch dort würde man ohne Zweifel mit Leichtigkeit Gelegenheit zur Heimreise finden, und was die Entfernung betrifft, so war sie annähernd die gleiche. Der einzige Einwurf, der sich gegen Praya erheben ließ, war der, daß es sehr gesundheitsgefährlich war, was ihm auch den Namen »Die Todbringende« eingetragen hat.

»Ach was, rief Thompson, wir wollen uns doch dort nicht häuslich niederlassen. Ein oder zwei Tage, das hat ja nichts zu bedeuten, und wenn niemand dagegen Widerspruch erhebt...«

Vor allem war es jedoch wichtig, sich wegen der Fahrten der Paketboote zu erkundigen. In dem dreiviertel wilden Land, wo es keinen Gouverneur, nicht einmal einen Gemeindevorstand gab, wußte man leider nicht, an wen man sich deshalb wenden sollte. Auf den Rat des Kapitäns ging Thompson, von allen seinen Unglücksgefährten begleitet, auf eine Gruppe Eingeborner zu, die die Schiffbrüchigen neugierig betrachtete.[395]

Diese Leute waren keine Schwarzen, nur Mulatten, eine Kreuzung von portugiesischen Kolonisten und frühern Sklaven. An ihrer Tracht erkannte man, daß sie Seeleute waren.

Morgan nahm in Vertretung Thompsons das Wort, wendete sich an einen der Mulatten und fragte ihn, ob es auf der Salzinsel eine Möglichkeit gäbe, nach England zu kommen.

Der kapverdische Matrose zuckte die Achseln. Das wäre kaum zu erwarten. Die Paketboote liefen die Salzinsel nicht an, und ein andres Schiff würde man schwerlich finden. Zur Zeit der Passatwinde, vom Oktober bis zum Mai, fehlte es zwar an Schiffen, meist Segelschiffen, in der Bai von Mordeira nicht. In dieser Zeit des Jahres wäre aber schon das letzte davon mit seiner Ladung Salz abgefahren, und vor dem kommenden Oktober würde schwerlich noch ein andres eintreffen.

Da das so bestimmt ausgesprochen wurde, konnte man daran nicht zweifeln. Die Seeleute fanden es übrigens ganz richtig, daß die Fremden eine andre Insel aufsuchen wollten. Ihre Barken waren fest und hätten zur Not auch weitre Fahrten unternehmen können. Was São-Vicente betraf, waren die Leute einstimmig der Ansicht des Kapitäns. Bei dem eben herrschenden Wind war es zu beschwerlich, dahin zu fahren.

»Und São-Thiago?« fragte Morgan.

Als die kapverdischen Seeleute diesen Namen hörten, wechselten sie mit einander seltsame Blicke. Bevor sie Antwort gaben, nahmen sie sich Zeit, zu überlegen. Offenbar hatten sie einen Gedanken, den sie nur nicht aussprachen.

»Warum nicht? sagte endlich der eine von ihnen. Das hängt von der Bezahlung ab.

– Nun, das geht den Herrn hier an, sagte Morgan, der auf Thompson hinwies.

– Ja, natürlich, erklärte dieser, als ihm die Antwort des Mulatten übersetzt worden war. Wenn der Kapitän und Sie uns begleiten wollen, wird der Mulatte uns die Barken zeigen, die er vorzuschlagen hat, und wir werden gleichzeitig die Bedingungen der Uberfahrt festsetzen.«

In weniger als einer Stunde war alles abgemacht. Für den Transport der Schiffbrüchigen und ihre Bagage hatte der Kapitän sechs Barken ausgewählt, auf die man sich seinem Urteile nach ohne Scheu wagen konnte.

Mit Zustimmung aller war die Abfahrt auf drei Uhr am Morgen bestimmt worden, um so viel wie möglich am Tage zu fahren. Es handelte sich nämlich[396] um nichts weniger als eine Strecke von hundertzehn Seemeilen, und die zurückzulegen würde mindestens siebzehn Stunden in Anspruch nehmen.

Ein Widerspruch erfolgte von keiner Seite. Alle hatten es eilig, diese wüste Insel zu verlassen.

Alles Gepäck wurde nun auf der Stelle verstaut. Die Passagiere benutzten nach einer stärkenden Mahlzeit ihre Muße, so gut sie konnten. Die einen lustwandelten am Strande, die andern versuchten noch einmal zu schlafen. Nicht einem aber kam es in den Sinn, die gar zu abstoßende Gastlichkeit zu benutzen, die die Hütten des Dorfes bieten konnten.

Der Augenblick der Abfahrt fand alle auf den Füßen. Zur festgesetzten Stunde hatte jeder seinen Platz eingenommen, und die sechs Boote, die nun ihre Segel setzten, fuhren rasch um die Schildkrötenspitze herum. Wie man sieht, stieg Thompson zu einem höhern Grade auf. Der Kommodore verwandelte sich zum Admiral.

Eine Stunde nach der Abfahrt ließ man schon an Backbord die Südspitze der Salzinsel liegen, und als die Sonne aufging, erschien Boavista in der Ferne.

Ein seltner Zufall in dieser Jahreszeit war es, daß der Himmel sich unverändert rein erhielt. Aus Nordwesten blies ein ziemlich lebhafter Wind und trieb die sechs Boote schnell nach Süden dahin.

Am Morgen um acht Uhr kam man vor Boavista vorüber. Das erwies sich als ein niedriges Land von gleich trostlosem Aussehen wie die Salzinsel, als eine einfache Sandbank, in deren Mitte einige Basaltkegel über eine sich lang hinziehende Bodenerhebung, doch ohne eine Höhe von hundert Metern zu erreichen, aufragten.

Den Booten gegenüber öffnete sich die »Englische Reede«, in deren Hintergrunde sich die Hütten und vereinzelten Häuser von Rabil erhoben, einem Dorf, das sich zum Hauptorte der Insel aufgeschwungen hat. Hier lagen vielleicht Schiffe vor Anker, die Entfernung verhinderte aber, das zu erkennen.

Einige Stunden später begann der Gipfel des São-Antonio, eines Pics, in den die Insel São-Thiago ausläuft, sich am Horizonte abzuzeichnen. Dieser zweitausendzweihundertfünfzig Meter hohe Punkt wurde von den Schiffbrüchigen, denen er das noch so entfernte Ende der Fahrt anzeigte, mit lautem Hurra begrüßt.

Die weit näher als São-Thiago liegende Insel Miao, die aber niedriger, ist als jene, wurde erst später sichtbar; die zweite Nachmittagsstunde kam heran,[397] ehe ihre sandigen Ufer zu entdecken waren. Um fünf Uhr lag man mit ihr in gleicher Höhe.

Miao war nur eine zweite Auflage der Salzinsel und Boavistas. Nichts als eine sandige Steppe, ohne Fluß, ohne Quellen und ohne Bäume, auf der die Salzauswitterungen da und dort die Strahlen der Sonne widerspiegelten. Man hatte Mühe zu glauben, daß auf dem so völlig unfruchtbaren Lande mehr als dreitausend menschliche Wesen wohnen könnten.

Das von dieser traurigen Eintönigkeit ermüdete Auge weilte da mit Vergnügen auf dem südlichen Horizonte, wo São-Thiago immer höher emporstieg. Seine scharf abgeschnittenen Felsen, seine Ufermauern und Basaltsäulen, seine tieferen Bodenstellen mit reicher Vegetation erinnern ein wenig an die Azoren, und die Einöde der Landstrecken dagegen gehalten, erschien diese wilde Natur fast einladend, die man sonst für langweilig und abstoßend gehalten hätte.

Um acht Uhr abends doublierte man die Ostspitze gerade in dem Augenblicke, wo das sie krönende Leuchtfeuer angezündet wurde. Eine Stunde später und bei zunehmender Dunkelheit war auch das Licht von der Spitze Tamaros zu erkennen, die im Westen den Porta da Praya abschließt. Noch eine Stunde und nachdem auch die Landspitze Biscados umschifft war, glitten die Boote im Gänsemarsch auf das noch ruhigere Wasser der Bai ein, in deren Hintergrund die Lichter der Stadt aufblitzten.

Die kapverdischen Seeleute hielten aber nicht auf diese Lichter zu. Kaum waren sie um die Spitze das Biscados herumgekommen, als sie stark anluvten und damit längs der Küste weiterfuhren. Bald darauf legten sie in ziemlich großer Entfernung von der Stadt an.

Morgan wunderte sich nicht wenig über dieses Manöver. Aus seinem Reiseführer wußte er zwar recht gut, daß sich auch an dem westlichen Ufer ein Landungsplatz befand. Doch alles, was er sagen konnte, war vergeblich. Aus dem oder jenem Grunde bestanden die Mulatten darauf, dort zu landen, und sie gingen bald daran, die Menschen und das Gepäck auf zwei Schaluppen, die an den beiden Frachtbooten hin gen, ans Ufer zu befördern.

Allmählich wurden die Passagiere nach einem der niedrigen Felsen am Fuße der Uferwand gebracht, der die Ostseite der Bai begrenzte. Wie Morgan aus seinem Baedeker ersehen sollte, war das ein alter, längst aufgegebener Landungsplatz, und er wunderte sich mehr und mehr über den Eigensinn der Transporteure.[398]

Die Brandung schlug donnernd an diesen Felsen und die Landung war in der Dunkelheit keineswegs leicht. So mancher glitt auch auf dem Granit aus, den die Wellen seit Jahrhunderten poliert hatten, und mehrere Passagiere nahmen ein unfreiwilliges Bad.

Trotzdem ging alles ohne ernstlichen Unfall ab, und kurz nach elf Uhr befanden sich alle Schiffbrüchigen am Lande.

Mit merkwürdiger Hast, die viel zu denken gab, wurden die Schaluppen wieder an die Barken angeseilt, und nach weniger als zehn Minuten waren diese klar und verschwanden, aufs offene Meer hinaussteuernd, bald in der Finsternis der Nacht.

Wenn da ein Geheimnis vorlag, so war hier weder die Zeit noch der Ort, seine Enthüllung zu versuchen. Die Lage der Reisenden nahm augenblicklich ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Sie konnten doch nicht unter freiem Himmel schlafen, und wie sollten anderseits die Kisten und Kasten, die Reisesäcke und Koffer, die am Ufer aufgehäuft lagen, weitergeschafft werden? Da mußte wieder der Kapitän Rat schaffen.

Seinem Vorschlage gemäß wurde alles Gepäck unter der Bewachung zweier Matrosen zurückgelassen, und die übrigen Schiffbrüchigen machten sich auf den Weg nach der ziemlich entfernten Stadt.

Wie verändert sah aber die glänzende Kolonne von früher aus, die Thompson mit so vollkommener Meisterschaft anzuführen verstanden hatte! Jetzt war es nur noch eine ungeordnete Herde, die niedergeschlagen, entmutigt, sich mühsam über den Weg an dieser unbekannten, mit Geröll und Steinblöcken bedeckten Küste in finstrer Nacht dahinschleppte.

Ein höchst anstrengender Marsch, selbst für die geübtesten Fußgänger. Länger als eine Stunde folgte man einem kaum gebahnten Pfade, die Füße sanken bis an die Knöchel in den tiefen, weichen Sand ein, und Mitternacht war längst vorüber, als die Touristen, am Ende ihrer Kräfte, endlich Häuser erblickten, wo sie Unterkommen zu finden hofften.

Die ganze Stadt lag im Schlafe. Nicht ein Mensch auf den Straßen, kein Licht zu sehen. Inmitten dieser finstern Einöde, in der eine Grabesruhe herrschte, ausreichende Unterkunft für so viele Personen zu finden, das war wahrlich keine so leichte Aufgabe. Man beschloß deshalb, sich in drei Gruppen zu teilen. Die eine, unter Führung des Kapitäns, umfaßte die Mannschaft des untergegangenen Fahrzeuges, zur zweiten, die Thompson führte, gehörte unter[399] andern natürlich Baker, die dritte endlich vertraute sich dem Sprachenkenner Morgan an.

Die letztern wenigstens, der sich auch Roger und die beiden Amerikanerinnen angeschlossen hatten, hatten keine Schwierigkeit, ein Gasthaus zu entdecken. In wenigen Minuten hatte Morgan ein solches aufgespürt. Hier klopfte er so stark an die Haustür, daß auch der hartnäckigste Schläfer davon erwachen mußte. Als der notdürftig bekleidete Wirt seine Tür ein wenig geöffnet hatte, schien er über den Anblick so vieler Gäste nicht wenig erstaunt.

»Können Sie uns Zimmer anweisen? fragte Morgan.

– Zimmer? wiederholte der Gastwirt, als ob er träumte. Aber wo zum Teufel kommen Sie denn jetzt her? rief er heftig, ehe er eine Antwort auf Morgans Frage gab. Wie sind Sie denn hierher gekommen?

– Wie man gewöhnlich ankommt, denke ich, zu Schiffe, sagte Morgan ungeduldig.

– Zu Schiffe! wiederholte der Portugiese, der sich vor Erstaunen gar nicht mehr zu fassen wußte.

– Ja freilich zu Schiffe, versicherte Morgan herausfordernd. Was ist da so Außergewöhnliches dabei?

– Zu Schiffe! rief der Gastwirt nochmals. Die Quarantäne ist ja noch nicht aufgehoben.

– Welche Quarantäne?

– O, heiliger Himmel, die über unsre Insel. Seit einem Monat ist hier kein Schiff eingelaufen.«


Die Landung war in der Dunkelheit keineswegs leicht. (S. 399.)
Die Landung war in der Dunkelheit keineswegs leicht. (S. 399.)

Jetzt war Morgan an der Reihe, zu erstaunen.

»Was ist denn hier los? Was ist die Ursache dieser Quarantäne? fragte er.

– Eine heftige Epidemie eines perniziösen Fiebers.

– Das gefährlich ist?

– Das will ich meinen. In der Stadt allein sterben jeden Tag daran zwanzig Personen, und das auf eine Einwohnerzahl von viertausend.

– Alle Wetter! rief Morgan, da muß ich gestehen, keine glänzende Idee gehabt zu haben, als ich den Rat gab, hierher zu gehen. Zum Glück werden wir ja nicht lange hier bleiben.

– Nicht lange? erwiderte der Gastwirt.

– Gewiß, nicht lange!«

Der Portugiese schüttelte den Kopf in wenig beruhigender Weise.[400]

»Für den Augenblick, sagte er ironisch, werde ich Ihnen Zimmer anweisen; ich glaube nur, Sie werden diese so bald nicht wieder verlassen. Übrigens werden Sie sich morgen selbst überzeugen können, daß, wer auf São-Thiago ist, auch daselbst bleibt!«

Quelle:
Michel Verne: Das Reisebüro Thompson und Comp. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XCI–XCII, Wien, Pest, Leipzig 1909, S. 384-385,387-393,395-401,403.
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