X.

[382] Nach vierundzwanzigstündigem Verweilen in Kiel lichteten wir am Abend des 18. Juni wieder die Anker, ohne einen Lootsen in Anspruch zu nehmen, um nach Norden bis Kopenhagen hinauf zu dampfen.

Kapitän Ollive hatte die Führung des »Saint Michel« wieder übernommen und Thomas Pearkop sah sich dadurch aus der Rolle der »größten Nützlichkeit« in die der »vollständigsten Nutzlosigkeit« versetzt.

[382] Wie ich schon erwähnte, befaßte er sich aber mit allem Möglichen und mit noch etwas mehr, oder versuchte es wenigstens, wenn auch ohne besonderen Erfolg. Die Seemannsnatur gewann in ihm stets die Oberhand. Er bekümmerte sich um den Kurs, sondirte den Grund, warf das Log aus, prüfte den Horizont mit allezeit untrüglichen Blicken, entdeckte noch immer die Leuchtfeuer und die Küste eher als jeder Andere, und ertheilte seine Rathschläge ungefragt unserem Kapitän, der, wie es ihm paßte, auf dieselben achtete oder nicht.

Die Fahrt von Kiel nach Kopenhagen bietet keinerlei Schwierigkeiten, verlangt aber unausgesetzte Aufmerksamkeit; alles dänische Land, Inseln wie Festland, erhebt sich nämlich nur wenig über die Meeresfläche, die Wassertiefe des umgebenden Meeres ist nur gering und das eigentliche Fahrwasser oft nur sehr schmal.

Herrlich sank der Abend herab. Wir hatten jetzt die längsten Tage des Jahres und befanden uns zwischen dem 54. und 55. Grade nördlicher Breite. Erst spät am Abend verschwand die Sonne unter dem Horizonte – und wie ließ sie sich bitten! Sie schien das von ihrem Glanze wiederstrahlende Himmelsgewölbe nur ungern zu verlassen. Mit etwas Poesie im Herzen und einiger Mythologie im Kopfe hätte man Phöbus für eifersüchtig auf die Schwester Phöbe halten können, welche am andern Himmelsrande bleich und schüchtern emporstieg und gleichsam das Verschwinden des helleren Tagesgestirns erwartete, um die Alleinherrschaft im tiefen Azur der Nacht anzutreten.

Jetzt stand der ganze Himmel wie von einer Feuersbrunst in Flammen. Die leichten Wolken, welche die Sonne zur Ruhe begleiteten, erglänzten so leuchtend roth, daß uns die Augen davon schmerzten. Das Meer rollte langsam gleich einer Masse flüssigen Goldes dahin. Inmitten dieses Uebermaßes von Glanz und Licht bildete ein kleines mürrisches Wölkchen, das ganz schwarz am Himmel stand, einen merkwürdigen Contrast mit seinen schimmernden Nachbarn – es schien wie zur Strafe ausgeschlossen von der allgemeinen Illumination. Phöbus mochte aber zuletzt doch Mitleid fühlen und bevor er in den Fluthen verschwand, übergoß er es noch mit seinen warmen Strahlen und schmückte es mit den letzten Lichtern, welche noch lange, lange Zeit in der eigentlich kaum endenden Dämmerung blinkten.


Die Börse.
Die Börse.

Jetzt hatte der Mond freies Feld vor sich, um sich der wenigen, ihm überhaupt verbliebenen Stunden zu freuen. Langsam sahen wir die Silberscheibe emporsteigen, als ein Ausruf meines Bruders unsere Aufmerksamkeit erregte und die Blicke Aller von der bescheidenen Phöbe ablenkte.

[383] »Ein Komet! rief er, ah, seht den schönen Kometen!«

Wir drehten uns um und erblickten einige Grade über dem Polarstern, genau im Meridian, das prächtige Gestirn, das unsere Augen hier zum ersten Male erfreute.

Unsere Ueberraschung war nicht gering. Vor der Abreise hatte man wohl allgemein von einem Kometen gesprochen, aber die französischen Astronomen beeilten sich, die gewöhnlichen Sterblichen zu benachrichtigen, daß derselbe auf [384] unserer Halbkugel nicht sichtbar sein werde. War das nun ein neues Gestirn oder der vorher angekündigte Komet, der die Behauptung der Gelehrten Frankreichs Lügen strafte? Wie dem auch sei, jedenfalls bewunderten wir schon seit einigen Minuten seine elegante Gestalt und die leichte Biegung seines Schweifes, als plötzlich ein furchtbares Geräusch, wie von einem schwer beladenen, über die Straße rollenden Wagen – mit einem Wort, ein wirklicher erschreckender Lärm entstand. Es war als hätte sich eine Lawine über unsere Yacht gestürzt.


Ein Storfest im Tivoli zu Kopenhagen. (S. 389.)
Ein Storfest im Tivoli zu Kopenhagen. (S. 389.)

[385] Ich glaube, ich wollte schon rufen: »Rette sich, wer da kann!«, als mir der Zusammenhang plötzlich klar wurde.

Thomas Pearkop kam nämlich pustend auf das Deck gestürmt und rief: »The comet! the comet! what a fine comet!«

– Zu spät, alter Freund, antworteten wir, froh darüber, einmal Revanche nehmen zu können, viel zu spät für einen »Gentleman«, der so gute Augen und ein so vorzügliches Fernrohr besitzt wie Sie! Hängen Sie sich auf, wackerer Pearkop, wir haben den Kometen schon vor Ihnen gesehen!

Er hing sich zwar nicht auf, schlich aber beschämt und, wie es schien, von unseren Spötteleien unangenehm berührt, von dannen. Bald aber hörten wir ihn mit etwas ärgerlicher Stimme rufen:

»Junge, ein Glas Branntwein... aber ordentlich voll!«

Dieses »ordentlich voll« bezeichnete einen weiteren Fortschritt in den Sprachstudien des alten Seebären, und daneben das wirkliche Bedürfniß einer Tröstung, welche auch nicht verfehlte, unserem wackeren Lootsen die alte gute Laune wieder zu geben.

Quelle:
Paul Verne: Von Rotterdam nach Kopenhagen an Bord der Dampfyacht »Saint Michel«. In: Die Jangada. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XXXIX– XL, Wien, Pest, Leipzig 1883, S. 353–404, S. 382-386.
Lizenz:

Buchempfehlung

Reuter, Christian

Der ehrlichen Frau Schlampampe Krankheit und Tod

Der ehrlichen Frau Schlampampe Krankheit und Tod

Die Fortsetzung der Spottschrift »L'Honnête Femme Oder die Ehrliche Frau zu Plissline« widmet sich in neuen Episoden dem kleinbürgerlichen Leben der Wirtin vom »Göldenen Maulaffen«.

46 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon