XI.

[386] Am folgenden Morgen, am 19. Juni früh sieben Uhr, erreichte der »Saint Michel« den Eingang des Sundes. Es herrschte vollkommene Windstille. Kein Lufthauch wehte und spiegelglatt lag die Oberfläche des Meeres. Lustig flatterten Hunderte von zarten Möven umher und strichen über das glänzende Wasser. Zahlreiche Segelschiffe lagen verankert und erwarteten das Aufspringen des Windes. Mehrere Dampfer, deren lange dunkle Rauchstreifen sich über den Horizont hinzogen, verriethen schon die Nähe eines großen Handelshafens.

Gegen zehn Uhr beginnt Kopenhagen aus einem seinen Nebelschleier aufzutauchen und grüßend steigen die Thürme der Stadt, die umgebenden Wälder und endlich die Masten der im Hafen liegenden Schiffe empor. Der »Saint Michel« befand sich noch in einer Entfernung von zehn bis zwölf Seemeilen. Hier hat der Sund nur eine Tiefe von drei bis vier Faden. Ganz große [386] Fahrzeuge und Kriegsschiffe, welche aus der Nord- in die Ostsee segeln, können denselben nicht passiren; sie müssen die Insel Seeland umschiffen und den Weg durch den großen oder kleinen Belt nehmen.

Das Wasser des Meeres ist hier so klar und durchsichtig, daß man bequem den Grund sehen kann. Auf demselben bilden ganze Felder von grünen Algen einen dichten Teppich, von dem sich das hellere Grün der jüngsten Sprossen angenehm abhebt. Es ist wahrhaft entzückend, über die Reling gebeugt, den wechselnden Lichtreflexen dieser unterseeischen Vegetation zu folgen, welche je nach der Wassertiefe dunkler oder heller erscheint. Manchmal schnellt, erschreckt durch die Annäherung unserer Yacht, ein Fisch aus seinem Versteck auf und verräth sich durch einen zitternden Silberschimmer in der dunklen Tiefe, nach der er entflieht. Dann und wann schätzt man die Wassertiefe unter dem Kiel für so gering, daß man jeden Augenblick aufzulaufen fürchtet, doch beruht das nur auf einer, durch die merkwürdige Durchsichtigkeit des Wassers verursachten Augentäuschung.

Inzwischen nähert sich die Yacht in rascher Fahrt dem Hafen; bald gleitet sie an befestigten Holmen vorüber, welche die Rhede beherrschen, und läßt das Seefort Tre Kroner (drei Kronen) links liegen. Gegen Mittag erreicht der. »Saint Michel«, nachdem er das auf der Rhede verankerte dänische Admiralschiff durch Hissen der Flagge begrüßt, den Handelshafen, gegenüber dem Kriegshafen, inmitten zahlreicher Passagierdampfer, welche einen regen Verkehr zwischen den Küstenorten Dänemarks und Schwedens unterhalten.

Quelle:
Paul Verne: Von Rotterdam nach Kopenhagen an Bord der Dampfyacht »Saint Michel«. In: Die Jangada. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XXXIX– XL, Wien, Pest, Leipzig 1883, S. 353–404, S. 386-387.
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