XII.

[387] Acht Tage lang blieb der »Saint Michel« an dieser Stelle und empfing unerwartet viel Besucher. Es mochte wohl zum ersten Male sein, daß man die Flagge einer französischen Yacht in diesem Wasserarme der Ostsee, der die Stadt in zwei ungleiche Hälften trennt, flattern sah. Unter Anderem stellten sich mehrere Journalisten an Bord ein und machten uns über das Land und die Volkssitten, wie über die fast unbegrenzte verfassungsmäßige Freiheit, welche hier herrscht, [387] sehr interessante Mittheilungen. Wie schnell vergingen uns aber auch die nicht am Lande zugebrachten Stunden bei dem überaus lebhaften Verkehre dieses großen nordischen Hafens! Dampfschiffe für Passagierbeförderung nach allen Punkten der dänischen, schwedischen und norwegischen Küsten, Handelsfahrzeuge, welche unter vollen Segeln einlaufen oder sich von winzigen, aber starken Schleppern bugsiren lassen, Postschiffe, welche man zu jeder Stunde des Tages und der Nacht läuten hört – Alles vereinigt sich hier zu einer köstlichen Augenweide für Den, der einiges Interesse an dem Leben auf dem Meere, das die getrennten Völker so innig verbindet, bewahrt hat.

Ich sehe, wie in Rotterdam, Amsterdam und Haag, hier davon ab, die Museen von Kopenhagen zu schildern; das haben schon Andere gethan, welche dazu mehr Fähigkeiten mitbrachten. Es erfordert eine gelehrtere Feder als die meinige, um dem Leser die in dem ethnographischen Museum enthaltenen Merkwürdigkeiten – eine einzig in der Welt dastehende Sammlung von chinesischen, japanischen, indianischen und grönländischen Curiositäten – zu schildern; ebenso wie die Schätze des »nordischen Museums«, die historische Sammlung des Rosenborgschlosses, welche bezüglich der Geschichte der Schmucksachen, Waffen, Möbeln u. s. w. da beginnen, wo die in dem ersteren aufhören, ferner die Meisterwerke des Thorwaldsen-Museums – ein umfängliches Grabdenkmal im etruskischen Styl, welches die gesammten Arbeiten des berühmten dänischen Bildhauers, dessen Namen es trägt, vereinigt. In meinem kurzen Berichte trachtete ich nur darnach, mich über weniger bekannte Punkte, vorzüglich über Wilhelmshaven, den Eiderkanal und den Kieler Busen ausführlich zu verbreiten.

Ich füge hier also nur hinzu, daß wir bei unserem Besuche der nordischen Alterthümer und des Rosenborgschlosses uns der unschätzbaren Begleitung des dänischen Unterrichtsministers, des Kanzlers Worsoë, zu erfreuen hatten, der als eigentlicher Organisator dieser wunderbaren Sammlungen zu betrachten ist. Dieser liebenswürdige Gelehrte hatte sich uns zur Verfügung gestellt, um uns die künstlerischen Schätze zu erklären, welche er mit dem Eifer eines für seine Wissenschaft ausschließlich lebenden Mannes gesammelt und geordnet hat. Unser Besuch in den Sälen, welche alle die Physiognomie ihres Zeitalters von der Renaissance bis zur Restauration tragen, erhielt durch seine faßlichen und gründlichen Erklärungen denn auch ein ganz außergewöhnliches Interesse.

Kopenhagen, einst ein ganz einfacher Fischerhafen, den eine Veste gegen die Seeräuber des baltischen Meeres schützte, ist seit dem fünfzehnten Jahrhundert[388] zur Hauptstadt der dänischen Monarchie geworden. Die Stadt zählt jetzt gegen zweimalhundertdreißigtausend Einwohner. Seit ihre Befestigungen geschleift worden sind, hat sie sich so schnell vergrößert, daß es den Anschein gewinnt, als sollte sie die ganze Bevölkerung Dänemarks aufsaugen.

Es ist heutzutage eine moderne Stadt, in der man keine Spuren von den großen Bränden 1728 und 1736, oder von der Beschießung im Jahre 1808 mehr findet. Die neuen Stadtviertel mit ihren breiten Boulevards und den üppig grünen Parkanlagen mit reichlicher Bewässerung sehen wahrhaft stattlich aus. Das bekannte Tivoli, errichtet an der Stelle früherer Festungswerke, ist ein Etablissement, das auf der Erde nicht seines Gleichen hat. Es bildet den Sammelpunkt für Tausende, welche einen vergnügten Abend zu verbringen wünschen, und sein artistischer Director, B. Olsen, hat den Erfolg, der seine Bemühungen krönt, wohl verdient.

Wer eine größere Festlichkeit, ein sogenanntes Storfest, im Tivoli mit angesehen hat, wird einen solchen Abend niemals vergessen. Der ganze große Garten ist dann von verschiedenfarbigen Lichteffecten überfluthet, Boote mit venetianischen Laternen schaukeln auf einem launisch gewundenen Gewässer; jedes Café, jedes Theater trägt zu dem bezaubernden Anblick des Ganzen bei; es ist wie ein Märchen aus tausend und einer Nacht, aus dem farbigen Orient nach dem nüchternen Norden versetzt, und ein nach den Plänen des französischen Architekten Le Nôtre hergestelltes Labyrinth hält den Besucher gegen seinen Willen gefangen, wenn diesem der leitende Ariadnefaden fehlt.

Zwei ausgezeichnete Orchester lassen abwechselnd ihre ernsten und heiteren Weisen erschallen, Theater mit Ballet, Akrobaten mit mehr oder weniger hervorragenden Leistungen, Alles bietet verschiedenartige und jedem Geschmacke angepaßte Vergnügungen.

Wer eine pfeilschnelle Fahrt liebt, dem bietet eine Rutschbahn mit drei abgerundeten Absätzen – und welche Absätze, vorzüglich der letzte! – für zehn Oere (11 1/2 Pfg.) eine halbe Minute Todesangst. Bei dem ersten Versuche, den man unternimmt, ist der kleine Wagen kaum weggerollt, wenn man schon seine Voreiligkeit bedauert. Bei dem ersten zu überwindenden Absatze möchte man noch herausspringen; bei dem zweiten denkt man an seine Familie, beim dritten aber ist die Gewalt der Fahrt eine so rapide, daß man jederzeit glaubt, der Waggon müsse aus dem Geleise springen, und daß man gern sofort noch sein Testament machte, wenn nicht gleich darauf ein kurzer Stoß der gefährlichen [389] Lage ein Ende machte, der die Wageninsassen in die Arme eines kräftigen Mannes wirst. Man ist damit am Ziele.

Der Leser glaubt vielleicht, daß man an einer solchen halsbrecherischen Fahrt genug habe. Fehlgeschossen. Man beginnt sie mit Vergnügen von Neuem.

Quelle:
Paul Verne: Von Rotterdam nach Kopenhagen an Bord der Dampfyacht »Saint Michel«. In: Die Jangada. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XXXIX– XL, Wien, Pest, Leipzig 1883, S. 353–404, S. 387-390.
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