VII.

[372] Jetzt meldete sich Thomas Pearkop wieder, der sich mit seiner Lieblingsrechnung beschäftigt zu haben schien.

»Wenn Sie mir zwei Pfund mehr geben wollen, sagte er, erspare ich Ihnen das Lootsenhonorar für die Fahrt durch den Jahdebusen, das wenigstens fünf Pfund beträgt, und führe das Schiff selbst hinaus.

– Aber, Pearkop, erwiderte ich, das Fahrwasser ist sehr winkelig. Wir sind während der Nacht hier angekommen, Sie haben sich also wohl kaum genügend über dasselbe und über die Lage der Baken unterrichten können.

– Beruhigen Sie sich, meine Herren, ich sah Alles, was ich brauche, und nehme die Verantwortlichkeit auf mich«

Das Gebot wurde angenommen. Thomas Pearkop leitete das Schiff vortrefflich und verdiente sich seine zwei Pfund, während wir drei ersparten.

Am 15. Juni gegen Abend kamen wir in dem Hafen von Tönning an, der eine herrliche Lage am rechten Eiderufer hat, und nachdem am folgenden Morgen Kohle gefaßt war, besorgten wir uns einen Lootsen nach Rendsburg, dem Punkte, wo der eigentliche Kanal seinen Anfang nimmt.

Hier wartete unser aber eine schmerzliche Enttäuschung. Ein Brief des Kanaldirectors, die Antwort auf unser Telegramm, meldete, daß wir die Schleußen nicht passiren könnten, da unsere Yacht um drei Meter zu lang sei.

Was nun?

»Es soll Niemand sagen, rief da mein Bruder, daß Bretagner sich durch unerwartete Hindernisse besiegen ließen! Der ›Saint Michel‹ ist zu lang?... Gut, so schneiden wir dem ›Saint Michel‹ die Nase, das heißt das Bugspriet ab und wenn es nöthig wäre, auch noch die Gallion!

– Einverstanden, gab ich zur Antwort, doch wollen wir damit warten, bis die Yacht an die erste Schleuße kommt.«

Sobald sich die Nachricht verbreitete, daß wir den Eiderkanal passiren wollten, kam es unter den Bewohnern des Landes, den Kaufleuten und Lieferanten welche das Eintreffen einer französischen Yacht herbeigelockt hatte, zu lebhaften Verhandlungen. Die Mehrheit behauptete, daß wir unmöglich hindurch kommen könnten.

[373] Wir ließen die guten Leute reden und fuhren nach Rendsburg ab, wo wir gegen sechs Uhr Abends anlangten.

Zunächst fährt man von hier aus also den reizenden Eiderfluß hinauf, der sich in unzähligen Krümmungen dahinwindet. Oft kommt man ganz nahe an den Punkt wieder zurück, wo man vorher war, und ich schätze die Länge der Wasserstraße von Tönning nach Rendsburg zu mindestens hundertfünfzig Kilometer, während die Luftlinie gewiß nicht mehr als etwa achtzig beträgt.

Das Land ist flach, aber üppig grün und hat viele Weiden, auf denen sich Pferde, Kühe und Schafe zu Hunderten frei umhertummeln; von Zeit zu Zeit erscheinen einzelne bewaldete Hügel, Fabriken, Landgüter, die Häuser mit ungeheurem Strohdache bedeckt; die niedrigen Backsteinmauern durchbrochen durch die Pfosten der Fenster mit grünem Rahmen, weiterhin ein oder zwei kleine Städtchen, Friedrichsstadt, Erfde, Hohe Fähre und andere Flecken, welche alle unter Bäumen versteckt liegen. Der Fluß ist im Allgemeinen zwar tief genug, aber das eigentliche Fahrwasser oft von zu vielen Küstenfahrzeugen jeder Art, vorzüglich von rothen, blauen und grünen Galioten beansprucht, auf denen der Schiffer gleich mit Weib und Kind wohnt, und deren gelbliche Segel mit dem Grün der Landschaft angenehm contrastiren. Trotz der Gewandtheit unseres holsteinischen Lootsen gerieth der »Saint Michel« doch einmal mit dem Ende des Hinterstevens auf den Grund und konnte nur mit Mühe wieder flott gemacht werden.

In Rendsburg, wo wir gegen sechs Uhr Abends an kamen, befindet sich die erste Schleuße. Werden wir hindurch können? Auf den ersten Blick erscheint das zweifelhaft. Die Kammer erscheint so kurz. Unsere Ungewißheit währte nicht lange, nach zwei Minuten liegt die Yacht in der Schleußenkammer, paßt aber so knapp hinein, daß wir, um die folgenden, etwas kürzeren Schleußen passiren zu können, wirklich das Bugspriet einholen müssen, – eine mühsame, zeitraubende Arbeit, welche wir jedoch sofort vornehmen. Glücklicher Weise brauchten wir die Gallion am Vordersteven nicht zu opfern.

Rendsburg, vor der Annexion eine hervorragende, große deutsche Stadt Dänemarks, ist durch seine Lage ein Platz von Bedeutung. Schon im Alterthume konnte es an seine Thore schreiben:


Eydora Romani terminus imperii.


In der That bildete die Eider eine der Grenzen, über welche die römische Herrschaft nicht hinausreichte. Jetzt ist Rendsburg der Sitz des Commandos [374] des elften deutschen Armeecorps. Die Stadt an sich bietet des Interessanten wenig, aber die Umgebungen sind recht anziehend. Der Park mit seinen mächtigen Bäumen, deren unterste Aeste ihre Blätter in der Eider baden, ist wirklich reizend.

Von der Pracht der Vegetation dieser nordischen Lande macht sich Derjenige, der sie nicht selbst gesehen hat, kaum eine richtige Vorstellung. Es scheint, als ob die Natur nach sechsmonatlichem Winterschlafe hier desto schneller erwachte. Sie beeilt sich gleichsam den grünen Frühlingsschmuck anzulegen, um die düsteren, traurigen Tage der strengeren Jahreszeit vergessen zu machen. Die Feldblumen warten nicht einmal das Schmelzen des Schnees ab, die Baumknospen sprengen die dünne Eiskruste, welche die durch den aufsteigenden Saft belebten Zweige etwa noch bedeckt, und Alles entwickelt sich mit einem Ungestüm, das in dem wärmeren Klima Frankreichs unbekannt ist.

Von Rendsburg bis Kiel führt der Kanal durch einen wirklichen Park, eine Art Saint Cloud, aber mit zweihundert Fuß hohen Bäumen, vorzüglich Buchen, welche an Stelle der Eichen und Weidenbäume der Vorzeit getreten sind. Hier erweitert sich die Eider zu einem ausgedehnten und ruhigen Wasserbecken, welches das Bild seiner anmuthigen Ufer unverändert wiederspiegelt; weiterhin zieht sich der Fluß zusammen und windet sich in zahllosen Biegungen unter gigantischen Bäumen hin, deren Kronen sich über seinem Bette berühren und ein für die Sonnenstrahlen undurchdringliches Blättergewölbe bilden. Die Yacht gleitet ruhig durch den geheimnißvollen Laubengang, zwischen hölzernen Baken und geflochtenen Uferwänden hin. Die Fahrt scheint nach unbekannten Welten zu gehen. Rings um das Schiff säuselt und zittert ein Blättermeer und das Ufer verschwindet gänzlich unter dem dunkelglänzenden Grün.


Die Eider. - Das Ufer verschwindet unter dem dunkelglänzenden Grün. (S. 375.)
Die Eider. - Das Ufer verschwindet unter dem dunkelglänzenden Grün. (S. 375.)

Rosenstöcke neigen sich bei unserem unerwarteten Erscheinen; Wasserpflanzen mit grünen, still daliegenden Blättern scheinen zu erschrecken und tauchen in die schützende Tiefe, dagegen bleiben – wie um der bezaubernden Landschaft einen bestimmten Stempel aufzudrücken – während Buchfinken und Stieglitze eilends entfliehen, die Störche furchtlos stehen, wenn wir vorüberfahren, erheben sich dann raschen Fluges und suchen einen Platz auf den Gipfeln der Bäume oder auf dem Radneste der originellen Bauerngehöfte.

Von Rendsburg waren wir am 17. Juni Morgens acht Uhr abgefahren, sahen stromaufwärts von der Stadt das große Provinzialgefängniß, und langten um fünf Uhr Nachmittags auf der Rhede von Kiel an. Wir mußten inzwischen [375] sechs Schleußen, zwei Eisenbahn-Drehbrücken und vier oder fünf gewöhnliche Zugbrücken passiren. Die letzteren zeichnen sich durch ihre erstaunliche Einfachheit aus: zwei Männer, auf jeder Seite einer, genügen, um dieselbe mit Hilfe eines sorgfältig berechneten Systems von Gegengewichten in wenig Secunden zu öffnen und zu schließen.

Was beginnt man aber, während die Yacht durch das Kammerwasser gehoben oder gesenkt wird, je nach der Seite der Wasserscheide, auf der man sich befindet? Nun, man lustwandelt auf den, sauber wie Parkwege unterhaltenen [376] Leinpfaden, man legt sich träumend in den dichten Schatten, der mit erquickender Kühlung labt. Freundliche Schänken, meist da er richtet, wo der Leinpfad einen Winkel bildet, laden mit ihren angestrichenen Holztischen zu einem Glase vortrefflichen, schäumenden Bieres ein. Alles ringsum ist voll fröhlichen Lebens, reinlich, wirklich bezaubernd.


Die Kieler Bucht. (S. 380.)
Die Kieler Bucht. (S. 380.)

Wie hat nun aber jenes Kanonenboot die genau für die Länge des »Saint Michel« ausreichenden Schleußen passiren können? Darüber erhielten wir erst in Rendsburg Aufklärung. Der General-Inspector theilte uns mit, daß [377] man seiner Zeit, um das Kanonenboot schleußen zu können, die Kammern verlängert und mit provisorischen Thoren versehen habe. Diese Arbeit verursachte große Unkosten, aber die Umstände verboten jede derartige Rücksicht. Es war während des Krieges. Die Deutschen fürchteten einen Angriff der französischen Flotte auf Wilhelmshaven, das noch nicht in dem Vertheidigungszustande war, wie heutzutage. So durften sie natürlich auch die Kosten nicht scheuen, um zwei oder drei Kanonenboote, die sie zur Abwehr eines etwaigen Angriffs brauchten, durch den Kanal gehen zu lassen.

Hätten wir diese Einzelheiten schon vor der Abreise aus Wilhelmshaven gekannt, so würden wir diese Fahrt nicht gewagt haben; es bedurfte ja so wenig, daß der »Saint Michel« überhaupt nicht hätte passiren können! Nur fünfundzwanzig Centimeter Länge mehr, und wir mußten zurückkehren, und zwar auch die Maschine nach rückwärts arbeiten lassen, da an jenen Stellen an ein Umdrehen des Dampfers nicht zu denken war. Wer da weiß, was das zu bedeuten hat, wird unsere Befriedigung begreifen, dieser Nothwendigkeit glücklich überhoben zu bleiben.

Ich erwähnte schon, daß die Eider sehr viele Krümmungen macht, daneben wird sie auch noch von zahlreichen Galioten und kleinen Touristendampfern mit Musik auf dem Deck befahren. Von Rendsburg nach Kiel jedoch wird sie, mit Ausnahme weniger Stellen, ganz außerordentlich schmal. Das macht die Schwenkungen um die scharfen Winkel besonders schwierig, und man ist gezwungen, immer eine Stange zur Hand zu haben, um das Schiff vom Ufer abzuhalten. Das Steuer wirkt hierzu nicht ausreichend, und einigermaßen lange Fahrzeuge haben deshalb hier mit unglaublichen Schwierigkeiten zu kämpfen; die Regierung denkt auch daran, einen Kanal in größtem Maßstabe herstellen zu lassen, der für Schiffe jeder Größe, auch für die tiefstgehenden Kriegsschiffe, benutzbar sein soll. Die beiden Kriegshäfen in Wilhelmshaven und Kiel würden dadurch in Verbindung gesetzt und könnten einer den andern im Nothfall unterstützen.

Quelle:
Paul Verne: Von Rotterdam nach Kopenhagen an Bord der Dampfyacht »Saint Michel«. In: Die Jangada. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XXXIX– XL, Wien, Pest, Leipzig 1883, S. 353–404, S. 372-378.
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