Ein Brief des jungen florentinischen Malers Antonio an seinen Freund Jacobo in Rom

[159] Geliebter Bruder! Wundre Dich nicht, daß ich Dir so lange nicht geschrieben, denn allerhand Beschäftigungen haben mir meine Zeit unglaublich verkürzt. Aber jetzt will ich Dir öfter schreiben, weil ich Dir als meinem liebsten Freunde meine Gedanken und Empfindungen mitzuteilen wünsche. Du kennst meine Klagen, daß ich mich sonst immer als ein ganz unwürdiger, verlorner Schüler der edlen Malerkunst fühlte; jetzt aber hat meine Seele einen wunderbaren, unbegreiflichen Schwung erhalten, so daß ich freier und dreister Atem hole und nicht mehr mit so demutsvollem Erröten vor den Bildern der großen Meister dastehe.

Und wie soll ich Dir nun schildern, wie und wodurch sich dieses ereignet hat? Der Mensch ist sehr arm, lieber Jacobo; denn wenn er auch einen recht kostbaren Schatz im Busen trägt, so muß er ihn wie ein Geiziger verschließen und kann seinem Freunde nichts davon mitteilen oder zeigen. Tränen, Seufzer, ein Händedruck sind dann unsre ganze Sprache. So ist es jetzt mit mir, und darum möcht' ich Dich jetzt vor mir haben, um Deine liebe Hand zu nehmen und sie auf mein pochendes Herz zu legen. – Ich weiß nicht, ob andre Menschen schon so empfunden haben wie ich, – ob es schon andern gegönnt war, durch die Liebe einen so schönen Weg zur Anbetung der Kunst zu finden. Denn wenn ein Wort meine Gefühle ausdrücken soll, so muß es Liebe sein, die jetzt mein Herz und meinen Geist regiert.

Es ist mir zumute, als wenn ein Vorhang von meinem Leben hinweggezogen wäre, und ich nun erst das zu sehn bekäme, was die Menschen immer die Natur und die Schönheit der Welt nennen. Alle Berge, alle Wolken, der Himmel und sein Abendrot sind jetzt anders und näher zu mir herabgezogen; mit Liebe und unaussprechlicher Sehnsucht möcht' ich jetzt Raffael umfangen, der nun unter den Engeln wohnt, weil er für uns und diese Erde[159] zu gut und zu erhaben war: heiße Tränen der Begeisterung, der reinsten Ehrfurcht treten in mein irdisches Auge und machen meinen Sinn himmlischtrunken, wenn ich jetzt vor seinen Werken stehe und sie mir tief in Sinn und Herz einpräge. Ich kann nun wohl sagen, daß ich nun erst fühle, was die Kunst von allem übrigen Treiben und Arbeiten der sterblichen Menschen unterscheidet; ich bin reiner und heiliger geworden, und darum bin ich nun erst zu den heiligen Altären gelassen. Wie bet' ich jetzt die Mutter Gottes und die erhabenen Apostel in jenen begeisterten Bildern an, die ich sonst nur mit kaltem Auge und halbgeübtem Pinsel Zug für Zug nachzeichnen wollte: – jetzt stehn mir die Tränen in den Augen, meine Hand zittert, mein innerstes Herz ist bewegt, so daß ich (möcht' ich sagen) fast ohne Bewußtsein die Farben auf die Leinwand trage, und dennoch gerät es mir so, daß ich hernach damit zufrieden bin. O wenn doch jetzt Raffael noch lebte, daß ich ihn sehn, ihn sprechen, ihm meine Gefühle sagen könnte! Er muß sie gekannt haben, denn ich finde sie, ich finde mein ganzes Herz in seinen Werken wieder: alle seine Madonnen sehn meiner geliebten Amalia ähnlich.

Auch fall' ich jetzt von selbst auf große und recht dreiste Erfindungen: ich habe schon einiges angefangen, und in manchen Stunden, wenn ich von der Mahlzeit aufstehe, oder eben ein gleichgültiges Gespräch geführt habe, erstaune ich selbst vor meinem verwegenen Unternehmen. Aber innerlich treibt mich dann mein Genius wieder an, so daß ich bei alledem nicht den Mut verliere.

Wie unähnlich die zugeschlossene Knospe der prächtigen Lilie ist, die wie ein großer silberner Stern auf ihrem dunkeln Stengel nach der Sonne blickt: so unähnlich bin ich mir selbst gegen meinen vormaligen Zustand. Ich will noch vieles und mit unermüdeten Kräften arbeiten.

Wenn ich schlafe, ist der Name Amalie wie ein goldnes, schützendes Zelt über mir ausgespannt. Oft wache ich auf, weil ich diesen Namen mit süßem Klange aussprechen höre, als wenn mich eines von den Raffaelschen Engelskindern neckend und[160] liebkosend riefe. Rieselnde Töne schütten dann nach und nach die Lücke wieder zu, und holdselige Träume lassen sich wieder mit leisen Flügeln auf meine Augen herab. –

Ach, Jacobo, glaube mir, jetzt bin ich erst recht Dein Freund, aber spotte nicht über Deinen glücklichen

Antonio.


Jacobos Antwort

Dein lieber Brief, mein sehr teurer Antonio, hat eine freudige Rührung in mir verursacht. Ich brauche Dir nicht Glück zu wünschen, denn Du bist jetzt wahrhaft glücklich, und es sei ferne von mir, daß ich über Dich spotten könnte, denn dann verdiente ich nicht die Gnade des Himmels, der mich zum Werkzeug seiner Verherrlichung, zum Künstler auserkoren.

Ich begreife recht gut Deinen Trieb zur Arbeit und Deine stets rege Erfindsamkeit. Ich lobe, ja ich beneide Dich; aber Du wirst es mir nicht übel deuten, wenn ich außerdem noch einige Worte hinzufüge: denn da ich so manches Jahr, so manche Erfahrung vor Dir voraus habe, möchte ich dadurch vielleicht ein Recht zum Reden haben.

Was Du mir da von der Kunst schreibst, will mir nicht so durchaus gefallen. Schon mancher ist Deinen Weg gegangen, aber ich glaube nicht, daß der große Künstler da stehnbleiben muß, wo Du jetzt stehst. Die Liebe eröffnet uns freilich die Augen über uns selber und über die Welt, die Seele wird stiller und andächtiger, und aus allen Winkeln des Herzens brechen tausend glimmende Empfindungen in hellen Flammen hervor: man lernt dann die Religion und die Wunder des Himmels begreifen, der Geist wird demütiger und stolzer, und die Kunst redet uns besonders mit allen ihren Tönen bis in das innerste Herz hinein. Aber nun kommt der Künstler gar zu leicht in Gefahr, sich in jedem Kunstwerke zu suchen, alle seine Empfindungen werden nach einer Richtung hinausschweifen, und so opfert er denn sein mannigfaltiges Talent einem einzigen Gefühle auf. Hüte Dich davor, lieber Antonio, weil Du sonst zur[161] engsten und am Ende unbedeutendsten Manier geführt werden kannst. Jedes schöne Werk muß der Künstler in sich schon antreffen, aber nicht sich mühsam darin aufsuchen; die Kunst muß seine höhere Geliebte sein, denn sie ist himmlischen Ursprungs; gleich nach der Religion muß sie ihm teuer sein; sie muß eine religiöse Liebe werden oder eine geliebte Religion, wenn ich mich so ausdrücken darf: – nach dieser darf dann wohl die irdische Liebe folgen. Dann weht ein herrlicher, labender Wind alle Empfindungen, alle schönen Blumen in dieses eroberte Land hinein, das mit Morgenrot überzogen, und von heiliger Wonne durchklungen ist.

Deute mir diese meine Worte nicht übel, mein ungemein geliebter Antonio: meine Verehrung der Kunst spricht so aus mir, und so wirst Du denn alles zum besten auslegen. – Lebe wohl.

Quelle:
Wilhelm Wackenroder: Werke und Briefe. Berlin und München 1984, S. 159-162.
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