Der mensch betrüb sich oder lach, ist er stets eitel, schlecht und schwach

[225] O ihr krumme schlimme seelen,

wolt ihr euch lasterreich

nu mit diser welt vermählen?

bochet nicht auf eure stell,

dan die welt nur eine höll,

euch zu martern und zu quälen.


Wollet ihr ein weil nu leben

nach gebühr, so solt ihr[225]

alsbald nach dem himmel streben:

ist der himmel euch nicht lieb,

so seid ihr nicht wert, ihr dieb,

daß er euch sein liecht gegeben.


Lasset euch zu herzen gehen

was für freud, was für leid

immer in der welt zu sehen:

kan ein mensch auf disem meer

in so viler übeln heer

sicher und forchtlos bestehen?


Bis in das grab von der wiegen

muß alhie under müh

und elend der mensch sich biegen:

dan anfechtung, kreuz und not

ihn bis in den bittern tod

stets verfolgen und bekriegen.


Auch ist sein geburt so kläglich,

daß die plag, mit dem tag

gleich anfangend, kaum erträglich:

seine schwachheit und der schmerz,

tödtend seiner mutter herz,

seind empfindlich und unsäglich.


Wan durch schmerzen tief empfunden

er voll pein schwach und klein

die geburt nun überwunden,

wird er seinem stand gemäß

als ein übelthäter bös

eingewickelt und gebunden.


Wie oft muß, ihn zu geschweigen,

ihm mit fug ohn verzug

seine säugam hilf erzeigen

und den säugling von dem wust

reinigend, mit bloser brust

in der grösten kältin säugen!
[226]

Nemend ihn bald auf bald nider,

sunst hilflos, auf der schoß

wieget sie ihn hin und wider,

bis er, weil ihr sorg und müh

reibet seine bein und knü,

stärket seine schwache glider.


Fanget er dan an zu gehen

auch die sprach nach und nach

(blöd und lisplend) zu verstehen:

ist sein gang und seine bit

halbe wort und halbe trit,

schwach zu reden, schwach zu stehen.


Seine kräften mit den jahren,

seine witz, seine hitz,

seine arbeit, müh, gefahren,

nemen mit einander zu,

allein nimmer ab die ruh,

nichts kan ihn für leid bewahren.


Alsbald seine tag nu blühen,

kan sein mut sich der wut

seiner jugend nicht entziehen?

groß ist dan sein unbestand

und er fällt in dise schand,

wan er will von jener fliehen.


Spielend mag er sich wol üben,

weil er noch ohn ein joch:

aber ihn mehr zu betrüben

reutet ihm auf einmal auf

aller lastern großer hauf,

bis daß er sich muß verlieben.


Alsdan under Amors wafen

taub und blind wie ein kind

könden ihn zwei augen strafen:

hofnung, trost, wollust, genuß,[227]

forcht, verzweiflung, zorn, verdruß

wollen ihn nicht lassen schlafen.


Kan er dises überwinden,

findet er noch vil mehr

trübsal und unglück dahinden:

ehrgeiz, geldgeiz, übermut,

hader, händel, zank und wut

wollen ihn zu schinden binden.


Kommet er dan fortgegangen,

daß das glück und die strick

aller laster ihn nicht fangen,

wird er aus der jugend saal

in der alten leut spital

schlim und liederlich empfangen.


Dan da kommen aufgezogen

kalte flüß für die küß,

die ihn unlangst jung betrogen:

zittrend werden händ und füß,

daß gicht, zipperlein und grüß

machen ihn krum und gebogen.


Und wan schon das alter ehrlich,

ist die ehr ihm doch schwer,

weil ihn alles ganz beschwerlich:

seine zähn nu fallen aus,

haupt und herz voll schnee und graus

malen alle ding gefährlich.


Ach, wie langsam er nu schreitet

weil die buß auf dem fuß

folgend allzeit ihn bestreitet!

alle hofnung ist dahin,

ach und weh ist sein gewin,

bis daß ihn der tod erbeutet.


Wie, wa, wan er auch mag leben,

jung und alt, warm und kalt,[228]

ihn die krankheiten umgeben;

schwachheit, sorgen, falsche freind

lügen, neid, verleumdung, feind

ihm verdrüßlich widerstreben.


Wie ein vogel durch sein fliegen,

wie ein pfeil in der eil

leichtlich kan das aug betriegen,

so schnell ist des menschen hab,

und sein schrit zu seinem grab

ist nicht weit von seiner wiegen.


Endlich muß er sein vermögen

als den raub in den staub

mit dem körper niderlegen.

also endet nu das spil,

daß weder lützel noch vil

kan ihn, kan er nu bewegen.


Wan man dan nicht kan verneinen,

daß alhie tausend müh

wider uns sich stets aufleinen:

solten wir von herzen grund

unser elend alle stund

nicht beklagen und beweinen?


Kan uns aber nichts klug machen,

sondern wir ohn gebühr

wollen lachen diser sachen:

ach! so lachet reich und arm,

lachet, daß es got erbarm,

eures elends selbs zu lachen!

Quelle:
Georg Rodolf Weckherlin: Gedichte, Leipzig 1873, S. 225-229.
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