Ohn lieb nichts dan leid

[162] Eh ich war liebend und geliebet,

war mein herz niemal on verdruß,

mein leben war allzeit betrübet,

mein aug und herz voll finsternus:

nichts mich damal mit trost erlabet,

noch einiges wollusts begabet.


Nun ist es mit mir anders worden,

dan sidher ich lieb hab und bin

und mich befind in der lieb orden,

so ist all mein verdruß dahin:

die lieb mich stets mit trost erlabet

und ihres liechts und lusts begabet.


Die schönheit, deren alles weichet,

die mir und deren ich herzlieb,

durch ihre lieb mich so bereichet,

daß mir der himmel niemal trüb:

mit ihrer kraft sie mich erlabet

und alles guts und muts begabet.


Der früling bring wind oder regen,

der sommer sei voll hitz und staub,

wie tief der winterschnee gelegen

und in dem herbst fall frucht und laub:

so bleib doch reichlich ich begabet

und allzeit durch die lieb erlabet.


Das erdreich mag zerspringend beben,

der luft schieß dunder, stral und blitz,

das meer mag seine flut erheben

und netzen gar der sternen sitz:

so bleib ich reichlich doch begabet

und von der lieb mit lieb erlabet.
[163]

Das volk mag schwören, spilen, saufen,

die fürsten schänden gleich das land,

die ganze welt fall gleich zu haufen

voll krieg, untreu, blut, greuel, schand:

so bleib doch reichlich ich begabet,

von meiner süßen lieb erlabet.

Quelle:
Georg Rodolf Weckherlin: Gedichte, Leipzig 1873, S. 162-164.
Lizenz:
Kategorien: