Von des menschlichen lebens elend

[145] Du wenig kot, du wenig staub

hochmütig durch ein wenig leben,

durch welches leben wie ein laub

du kanst ein weil alhie umschweben.


Du gras, du heu, in einer stund

bald grünend-frisch und bald verdorben,

mensch, der du, eh dein gänger mund

dich sterblich nennet, oft gestorben.
[145]

Der du dich achtest nicht gering,

mensch, nein ihr menschen all zusamen,

seid ihr wol mehr dan pfifferling

und was noch einen schlechtern namen?


Nein, wan schon euers lebens saft,

was länger dan tag und nacht wehret,

sagt mir doch, lieber, aus was kraft

die welt ihr und die welt euch ehret?


Wan ihr dan nichts, ist die welt mehr,

dan ein versamlung alles bösen?

was ist ihr lust, ihr ruhm, ihr ehr,

dan leid, spot, schand und loses wesen?


Was sihet und was kan man sunst

bei höfen, dan gewaltig liegen,

dan mit ehrgeiz, schalkheit, misgunst,

fuchsschwänzen, stolz und schimpf betriegen?


Kan einsam wol in einem haus

ein mensch ohn allen sorgen wohnen?

wer handlet über meer ohn graus?

kan der feldbau ohn müh belohnen?


Wer reiset durch die welt mit lust,

daß er sich niemals zu befahren?

und welche reichtum kan die brust

stets für sorg und verdruß bewahren?


Wer ist, so lang er arm, ohn klag?

wer hat ein weib, und ist sein eigen?

wer ist, weil ledig er, ohn plag

wan seine tag ohn freind sich neigen?


Und wer ist kindlos und erblos

ganz abzusterben, nicht verdrossen?

wer hat vil kinder, dessen schoß

mit forcht und angst nicht oft durchschossen.
[146]

Und welches jünglings herz und hitz

verbringet nichts, das ihn zu reuen?

und welches hohen alters witz

kan sich für kält und schwachheit freien?


O dan du stolzer mensch betracht,

was du nur aus dir selbs zu machen!

ein kind, kaum in die welt gebracht,

will weinen oder kan nicht lachen,


Und (weiser, dan du) lehret dich,

wie der mensch sein elendes leben

soll weinend fangen an, und sich

erfreuend dem tod gern ergeben.

Quelle:
Georg Rodolf Weckherlin: Gedichte, Leipzig 1873, S. 145-147.
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