Von lieben händen

[65] Ach gib mir dise zarte hand

damit ich sie doch gnug mög küssen,

gib die hand, meiner hofnung pfand,

die aus verzweiflung mich gerissen;[65]

darum gib mir sie her,

daß ich sie küß mit ehr.


Wie! küssen dise hand so frech,

so mein herz dörfte mir ausreißen?

nein! es ist zeit, daß ich mich räch,

darum will ich sie vilmehr beißen,

daß sie sich der untreu

und bosheit nunmehr reu.


Was nutzet aber hie mein zorn

für disen süßen gilg und rosen,

die alle, stets frisch und ohn dorn,

dem herzen und gesicht liebkosen?

darum gib mir sie her,

daß ich sie küß mit ehr.


O hand, warum küß ich dich lang,

da ich mehr ursach, dich zu hassen,

zerdruckend mit so zartem zwang,

als du mein armes herz erfassen!

daß numehr der untreu

und bosheit dich auch reu.


O schöne hand, der augen weid,

laß meinen zorn dich nicht betrüben,

ob du mir schon thust vil zu leid

muß ich doch deine thaten lieben;

darum so kom nu her,

daß ich dich küß mit ehr.


Je mehr ich küß, je mehr dein schnee

mein herz ganz wunderlich anzündet,

darum ich billich nu absteh,

eh gänzlich mich dein schein verblindet,

und daß nicht der untreu

zu spat uns beede reu.


O daß ich, unserm verdienst nach,

mög diser zarten hand mutwillen[66]

und meines herzens süße rach

ganz unersätlich küssend stillen!

und sie buß und reu lehr,

sie küssend mehr und mehr.

Quelle:
Georg Rodolf Weckherlin: Gedichte, Leipzig 1873, S. 65-67.
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