Siebentes Bild

[129] Nacht. Sternenhimmel. Eine schmale Steintreppe ohne Geländer zieht sich unter Kastanienbäumen schräg an einem Wiesenabhang hinauf. In der Mitte ein breiter Treppenabsatz. – Veit Kunz und Franziska, beide in hellen Sommerkleidern, Franziska in fußfreiem Rock, sitzen auf den Stufen.


FRANZISKA. Das weiße Kätzchen, das uns gestern abend aus der Stadt heraufbegleitete ...

VEIT KUNZ. Ist es wieder da?

FRANZISKA. Nein. So etwas Liebes wiederholt sich doch nicht.

VEIT KUNZ. Es spielte ruhig um uns herum.

FRANZISKA. Warum sollte es auch nicht?[129]

VEIT KUNZ. Warum? – Meinst du, daß es das auch getan hätte, wenn wir statt Menschen Katzen gewesen wären?

FRANZISKA. Vielleicht nicht. Aus Zartgefühl.

VEIT KUNZ. Oder aus Neid.

FRANZISKA. Die Katzen hätten sich seine Gegenwart vielleicht auch gar nicht gefallen lassen.

VEIT KUNZ. Uns störte es nicht.

FRANZISKA. Im Gegenteil!

VEIT KUNZ. Franziska ...

FRANZISKA. Nun?

VEIT KUNZ. Gestern abend hielt ich hier unter freiem Himmel ein Weib in den Armen und empfand dabei mit klarstem Bewußtsein die Schönheit der Natur, die uns umgab.

FRANZISKA. Was wundert dich daran?

VEIT KUNZ. Ich glaube, rohe Menschen können das nicht.[130]

FRANZISKA. Möglich. – Als ich heute abend vom Badeplatz zurückkam, waren die westlichen Schloßfelsen noch von der Sonne beleuchtet. Als Kind sah ich das oft. Aber damals, auf dem Wege zum Schloß hinauf, verdüsterte sich mir das friedliche Bild mit jedem Schritt ...

VEIT KUNZ. Franziska! Willst du das nie vergessen?

FRANZISKA lebhaft. Es ist vergessen! Ausgelöscht. Deshalb erzähle ich es dir. Als ich heute die grünüberwachsenen Felsen im warmen Abendsonnenschein wiedersah, da jubelte es in mir: dieser Friede ist jetzt Wirklichkeit!

VEIT KUNZ. St! – Du weckst die Schloßbewohner.

FRANZISKA. Oben wohnt niemand als ein alter Kastellan.

VEIT KUNZ blickt hinauf. Kein Licht im ganzen Schloß!

FRANZISKA. Und der herrliche Badeplatz! Als Kinder badeten wir an derselben Stelle. Heute kletterten die Buben wie damals in die Erlen am Bach hinauf und ließen sich aus den Baumkronen ins Wasser fallen.[131]

VEIT KUNZ. Sollten deine unseligen Kindheitserinnerungen nun also wirklich für alle Zeiten vergessen sein ...

FRANZISKA. Seit gestern abend sind sie's!

VEIT KUNZ. Und du wirst dir keinen Lebensgenuß mehr durch sie vergällen lassen ...

FRANZISKA. Jetzt? Wo mir diese Treppe so ganz und gar anders in Erinnerung ist?

VEIT KUNZ. Dann gib mir als Unterpfand dafür einen Kuß.

FRANZISKA. Tausend für einen. Sie küßt ihn. Während du mich gestern in den Armen hieltst, sah ich in die Sterne über deinem Kopf.

VEIT KUNZ sie küssend. Mund zu und Augen zu! Schweig und sei lieb!


Quelle:
Wedekind, Frank: Franziska. Ein modernes Mysterium in fünf Akten, München 1912, S. 129-132.
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