Kapitel II


Ein Brief

[58] Nie werde ich den schrecklichen Abend vergessen, an dem zuerst die Nachricht der französischen Revolution bei uns eintraf. Wir saßen wie gewöhnlich bei ... auf der ...straße, im hintern Zimmer; es mochte 10 Uhr sein. Der Steuerkontrolleur Ehrlich hatte schon seinen dritten Schoppen getrunken und faltete eben die Hände, um für zehn Minuten in Morpheus' Arme zu sinken – er nimmt sich prächtig in solchen Augenblicken aus: seine Nase verbirgt sich in der Hemdkrause; tiefe, grollende Töne entringen sich seinem Busen. Der Rentner Dürr saß wie immer steif an der Wand und trommelte den Sehnsuchtswalzer – er hatte eben seine Portion Heringssalat gegessen. Maler Pinsel rauchte wie der Schlot eines holländischen Schleppschiffes und blickte ernst hinauf in seinen eigenen Dunst, um eine neue, höchst interessante Wolkenstudie zu machen. Der Professor Fuchs war nicht weniger mit sich selbst beschäftigt. Auf seiner Stirn konnte ich lesen, daß da drinnen irgendein erbärmliches Gedicht fabriziert wurde. Der Quadratfüßler Geyer dachte über die Vergänglichkeit alles Irdischen nach und schaute bisweilen hinüber nach dem reichen Herrn von der Windmühle, der wie ein dünner Spazierstock in der Ecke des Zimmers lehnte. Holzhändler Puff befand sich ausnehmend wohl. Dieser Chimborasso von einem Mann hatte wie gewöhnlich den ganzen Abend hindurch eine unendliche[58] Menge Neuigkeiten erzählt, da senkte sich die Müdigkeit auf ihn herab, und sein Haupt fiel auf die Brust – nun ruhen alle Wälder. Herr Kreuz und der Advokat Verdammlich waren die einzigen, welche die Konversation noch aufrechterhielten.

»Es ist herrlich«, bemerkte Herr Kreuz, »in was für ruhigen und friedlichen Zeiten wir jetzt leben.« – »Leider!« erwiderte der Advokat. »Vielzuwenig Prozesse.« – Da schwiegen auch sie, und während mehrerer Minuten lag nun über der ganzen Gruppe jene selige Stille, jene tiefe Sabbatfeier einer an- und festgetrunkenen antiken Wirtshausgesellschaft.

Da öffnet sich plötzlich die Tür, und herein tritt der Literat Warze. Sein Erscheinen ist beunruhigend. Man liest in seinen wirren Blicken, daß er nicht ohne Grund noch so spät durch die Wirtshäuser eilt. Seine Knie schlottern. Dicke, schwere Tropfen des köstlichsten Schweißes entrieseln seiner göttlichen Stirn; er nimmt den Hut ab – seine Haare stehen zu Berge. Die ganze Gesellschaft erwacht aus ihrer Lethargie.

»Was fehlt Ihnen?« fragte der alte Ehrlich.

»Sie haben gewiß etwas zuviel!« setzte der Rentner Dürr hinzu.

»Hat man Sie irgendwo hinausgeschmissen?« erkundigte sich der Maler Pinsel.

»Gewiß haben Sie ein Manuskript zurückbekommen!« bemerkt der Professor Fuchs aus Erfahrung und als Menschenkenner.

»Oder ist Ihre Frau niedergekommen?« wirft der Quadratfüßler Geyer hin.

»Sollten Sie im Landsknecht verloren haben?« lispelt der Herr von der Windmühle.[59]

»Sprechen Sie, Herr Warze!« donnert da der Chimborasso Puff.

»Sprechen Sie!« wiederholt der Herr Kreuz.

»Und in des drei Teufels Namen, sprechen Sie!« macht der Advokat Verdammlich den Schluß.

Da ist der Literat Warze zu Atem gekommen. »Mitbürger!« beginnt er. »Es ist ein großes Unglück geschehen; eins der geachtetsten Handlungshäuser hat soeben auf außerordentlichem Umwege den folgenden Brief erhalten und mir zur Veröffentlichung übergeben.«

»Lesen Sie, lesen Sie, Herr Warze!« tönt es von allen Seiten. Warze stellt sich auf den Stuhl. »Ein Pariser Korrespondent schreibt:


Ew. Wohlgeboren hab ich die Ehr

Einliegend zu remittieren:

Zweitausend Taler vista, auf Köln;

Die wolln Sie mir kreditieren.« –


»Nun, das ist eben kein großes Malheur«, murmelt man von allen Seiten. –


»Sie sehen hieraus, mein werter Freund:

Ich habe Sie nicht vergessen.

Mit meinem nächsten Briefe send

Ich anderweit'ge Rimessen.« –


»Das ist ja sehr erfreulich!« brüllt der Herr Puff. »Dieser Korrespondent ist ein Ehrenmann.« –


»Es ist mir lieb, daß Sie bestellt

Noch sechzehn Fässer Bourgogne.

Dagegen wünsch ich per chemin de fer

Noch etwas Eau de Cologne.« –
[60]

»Aber Herr Warze«, unterbricht ihn hier der Rentner Dürr, »Sie verstehen das freilich nicht: es kann ja nichts Besseres auf der Welt geben als 2000 Taler auf Köln, weitere Rimessen versprochen und eine neue Bestellung – ich begreife Sie nicht.« –


»Ich bitt um die beste Qualität,

Sie ist für Export nach China.

Man kauft sie gen über dem Jülichsplatz

Bei Johann Maria Farina.« –


»Allerdings!« schreit die ganze Gesellschaft. »Keine bessere Eau de Cologne als die Farinasche. Der Pariser hat ganz recht. Aber wo bleibt das Unglück?« –


»Im übrigen hab ich leider nicht

Viel Gutes zu melden heute:

Paris litt sehr in der letzten Nacht

An einer fatalen Emeute.«


Alles wird plötzlich still. Niemand unterbricht mehr. Dem Maler Pinsel entsinkt die Pfeife.


»Schon frühe mußt ich schließen die Tür,

Verriegeln Fenster und Laden;

Man baute in jeder Straße schier

Ein halb Dutzend Barrikaden.«


Die Stimmung der Anwesenden wird immer peinlicher. Der Herr von der Windmühle fängt an zu zittern. Rentner Dürr will eine Prise nehmen, aber die Finger versagen ihm den Dienst.


»Heute morgen hat sich der Streit erneut,

Und die Truppen, sie mußten fliehen.[61]

Im Sturme rückte das Volk heran –

Nahm Louvre und Tuilerien.«


Hier tut der Herr von der Windmühle einen der größesten Seufzer, deren der Mensch fähig ist. Der Holzhändler Puff schnaubt und pustet wie eine Lokomotive. Der Rentner Dürr fürchtet, ohnmächtig zu werden, und bestellt eine zweite Portion Heringssalat, und der alte Steuerkontrolleur Ehrlich greift krampfhaft nach seinem Römer.

Über Warzes fahle Wangen rollt aber eine Träne, und unter Wimmern und Schluchzen fährt er fort:


»Man drang hinein in die Königsburg,

Der Pöbel jauchzte so munter –

Und Ludwig Philipp purzelte, ach!

Von seinem Throne herunter.«


Das Gastzimmer erdröhnt von Wehgeschrei; Flaschen und Gläser stürzen übereinander. Der Kellner, der Wirt, die Mägde, Katzen und Hunde schauen verwundert zur Tür hinein. Der Nachtwind reißt die Fenster offen; die Gaslichter flackern, und unheimlich bewegen sich Warzes emporstehende Haare.


»Der Julithron, der ist verbrannt,

Leer stehen die stolzen Hallen;

Zertrümmert ist die Dynastie –

Die Kurse werden noch fallen.« –


»Die Kurse noch fallen?« stöhnt der Rentner Dürr. »Hilfe! Hilfe! Ich bin bei der Nordbahn interessiert. O meine Fünfprozentigen!« – Da erlischt seine Stimme. Wie ein gewaschenes Hemd sinkt er in Falten zusammen, den Kopf voran, die Nase in den Fidibusbecher.
[62]

»Fort ist die Familie Orléans,

Proklamiert ist die République –

Es muß die Eau de Cologne gut

Verpackt sein in Kist' und Stricke.


Weiß Gott, wie's ferner gehen wird,

Ich erwarte noch große Misere.

Agréez, Monsieur, mes salutations

Respectueuses et sincères.«


Warze stürzt erschöpft in die Arme des Holzhändlers Puff. Er ist leichenblaß geworden. Der Kellner schüttet ihm ein Glas Moselwein 1843er über das Antlitz. Der Wirt zieht ihm die Stiefel aus – man ruft nach einem Doktor. »Wasser! Wasser! Ein Aderlaß!« brüllt der Holzhändler – da legt man den unglücklichen Literaten über zwei Rohrstühle. Er ist kalt und steif wie ein toter Rohrdommel.

Der Rest der Gesellschaft überläßt sich indes ganz seinem Schmerze. »Ich habe es immer gedacht!« ruft der Steuerkontrolleur. »Ich sah es vorher, es mußte so kommen. – O der Napoleon des Friedens!«

»Auch mir schien es«, fährt der Maler Pinsel fort, »auch mir war es, als wenn dieser Tage etwas Außerordentliches passieren müßte, es roch in ganz Köln nach Pulver und nach frisch angestrichenen Särgen – o über die Lasterhaftigkeit des Jahrhunderts!«

»In acht Tagen stehen die Franzosen am Rheine!« bemerkte der Quadratfüßler Geyer. »Rettet! rettet!« jammert der Herr von der Windmühle, und wie sich auch der Advokat Verdammlich, der Professor Fuchs und der Herr Kreuz in das allgemeine Geschrei mischen, da erhebt sich aufs neue ein solches Geheul, daß der ohnmächtige[63] Warze wie ein Toter beim Blasen der jüngsten Posaune von seinem Lager emporfährt und, wie von Furien gepeitscht, hinaus in die Gassen rennt.

Doch genug. Es war ein schrecklicher Abend. Wie ein Lauffeuer hatte sich die Nachricht durch die ganze Stadt verbreitet, und während wir dem Fall der Edlen unsere Tränen weihten, begann auch bei uns schon der wühlerische Pöbel sein entsetzliches Treiben und:

»Allons enfants de la patrie«, klang es wild durch die Straßen unsrer alten, unsrer heiligen Stadt.

Quelle:
Georg Weerth: Sämtliche Werke in fünf Bänden. Band 4, Berlin 1956/57, S. 58-64.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schlegel, Dorothea

Florentin

Florentin

Der junge Vagabund Florin kann dem Grafen Schwarzenberg während einer Jagd das Leben retten und begleitet ihn als Gast auf sein Schloß. Dort lernt er Juliane, die Tochter des Grafen, kennen, die aber ist mit Eduard von Usingen verlobt. Ob das gut geht?

134 Seiten, 7.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon