9. Der Jungfern Grabe-Lied

[50] 1.

Nun so zeuch du fromme Seele,

Zeuch auß aller Angst und Noth!

Stirb fein selig und erwehle

Deinen allerliebsten Tod,

Welcher jetzt so freundlich kömmt,

Vnd dich in die Armen nimmt,

Der auch stets bey dir wird bleiben,

Vnd dir hübsch die Zeit vertreiben.


2.

Zachries pfeifft die Sterbe-Lieder

Vor den Trauer-Leuten her,

Hofemann läufft hin und wieder,

In die Läng und in die Quer,

Die Großväter sind betrübt,

Weil man trefflich achtung giebt,

Vnd die Wächter mit den Spiessen

Vor der Treppe stehen müssen.


3.

Nun die Namen sind geschrieben

In das grosse Kirchen-Buch,

Drum zerreisset nach Belieben

Immerhin das Leichen-Tuch,[50]

Steiget nur in Sarg hinein,

Kurtzweil muß getrieben seyn,

Habens doch die lieben Alten

Vormahls eben so gehalten.


4.

Gute Nacht du liebe Seele,

Schlaff beyleibe nicht zuviel,

Biß fein lustig weil das Oele

In dem Lämpgen brennen wil,

Wirst du nach vollbrachter Nacht

Gleich ein bißgen außgelacht:

Hat es doch bey jungen Leuten

Trefflich wenig zu bedeuten.


5.

Nun die Jungfer ist gestorben,

Und das Weibgen lebet noch,

Ist ihr Namen gleich verdorben,

Weiß das liebe Lämmgen doch,

Wo sie sich erholen sol,

Und der Todt bekömmt ihr wol,

Weil sie bald in jungen Jahren

Seine Süssigkeit erfahren.


6.

Aber ihr betrübten Mädgen,

Die ihr noch am Leben seyd,

Bleibt zufrieden, dann die Fädgen

Zu dem Hembde sind bereit,

Daß in euer Todes-Pein

Soll der Sterbe-Kittel seyn:

Dannoch welche stirbt am ehsten

Soll die andern helffen trösten.

Quelle:
Christian Weise: Der grünenden Jugend überflüssige Gedanken, Halle a.d.S. 1914, S. 50-51.
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