5. Er schämet sich, daß er seines Mädgens Gesundheit trincken muß

[117] 1.

Ich wil den Handel nur gestehn,

Ich habe dir zu Ehren,

Auff dein gesundes Wolergehn

Ein Gläßgen müssen leeren,

Doch, da mirs in die Hände kam,

Da kriegt ich eine grosse Scham.


2.

Es war ein guter Freund darbey,

Der mochte gerne wissen,

Wer doch das liebe Mädgen sey,

Das mir das Hertz entrissen,

Und weil ich dieß zu Hertzen nahm,

So kriegt ich eine grosse Scham.


3.

Ich bin nicht gerne, wo man gar

Zu offenhertzig handelt,

Und sehe lieber, daß ein Paar

In stiller Liebe wandelt,

Darum, als die Gesundheit kam,

So kriegt ich eine grosse Scham.


4.

Ich liebe dich, mein süsses Kind,

Und küsse dir die Hände,

So offt ich durch den schnellen Wind

Die Liebes Seuffzer sende,

Jedoch, als ich das Glaß bekam,

So kriegt ich eine grosse Scham.


5.

Mein Kind, ich schäme mich zwar nicht,[117]

Ein Gläßgen außzustechen,

Mein Hertz, mein Mund, mein Angesicht

Wird ander Zeugnuß sprechen,

Doch, weil mirs zu geschwinde kam,

So kriegt ich eine grosse Scham.


6.

Dann wer sich auß der Finsternüß

Bald wil der Sonne nähen,

Der ist am ersten ungewiß,

Wie und was er gesehen,

Die Augen sind ihm stumpff und lahm,

Und er kriegt eine grosse Scham.


7.

So ließ ich in verliebter Pflicht

Geheime Klagen fliessen,

Dieweil ich meiner Sonnen Liecht

Nicht konte noch geniessen,

Und als das liebe Gläßgen kam,

Erschrack ich vor der grossen Scham.


8.

Nun Liebgen wirstu mir die Hand

Mit gleicher Liebe drücken,

Wirst du ohn allen Unbestand

Auff deinen Diener blicken,

So wird mein Hertze wieder zahm,

Und mir vergeht die grosse Scham.

Quelle:
Christian Weise: Der grünenden Jugend überflüssige Gedanken, Halle a.d.S. 1914, S. 117-118.
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