Zehentes Gespräch.

[465] Schutz-Engel. Wann aber der Sünder mehr aus Gebrechlichkeit, als Boßheit gefallen ist; mithin aber über seine Sünden seuftzend Mariam um ihr Fürbitt anruft, da ist nicht auszusprechen, wie geneigt sie ist, für ihn zu bitten, damit er bey ihrem Sohn Verzeyhung seiner Sünden möge erlangen.

Pflegkind. Ich möchte hierüber wohl eine Begebenheit vernehmen.

Schutz-Engel. Folgende wird dich in Verwunderung setzen.


Begebenheit.

Es war ein grosser Sünder. Als dieser auf ein Zeit in ein Kirchen kommen, und in selbiger die Bildnus Mariä ersehen, da besinnete er sich, ob er selbige anruffen sollte, um durch ihre Fürbitt bey ihrem Sohn Verzeyhung seiner Sünden zu erlangen. Da er nun eine Weil still gestanden, brache er endlich in diese Wort heraus: O Frau, wann ich dich anruffen sollte, stehe ich in Sorgen, es wurde umsonst und vergebens seyn. Dann du wirst einen so grossen Sünder, wie ich bin, nicht erhören. Damit nun die gütigste Jungfrau ihme dieses Mißtrauen benehmen möchte, erschiene sie ihm sichtbarlich, und sagte: Stehe still, und begehre von mir, daß ich meinen Sohn für dich bitten solle. Da sprache der Sünder: O Frau! von Hertzen gern. Allein es seynd meiner Sünden so viel, daß es mir vorkommt, als seye ich schon verdammt. Es versetzte aber die Jungfrau: und wann du gleichsam schon verdammt wärest, so weiß ich mich deiner doch zu erbarmen, wann du nur dich zu besseren ernstlich gesinnet bist. Christoph. Wratislau S.J. in stimulis Marianis c. 24.

Pflegkind. O milde! O gütige Jungfrau! wie unaussprechlich ist deine Neigung, für uns arme Sünder zu bitten? wer sollte dann ein Mißtrauen in dich setzen, und sich wegen dem Last seiner Sünden abschröcken lassen, wann er nur in sich selbsten geht, und vom sündigen abstehen will? Wem sollen nicht vor Freuden die Zäher in die Augen schiessen, wann er hört, daß du dich weißt zu erbarmen auch derjenigen Sünder, die sich selbst schon für verlohren halten.

Quelle:
Wenz, Dominicus: Lehrreiches Exempelbuch [...] ein nutzlicher Zeitvertreib als ein Haus- und Les- Buch. Augsburg 1757, S. 465.
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