Sechste Begebenheit.

Ein hartnäckiger Sünder wäre zur ewigen Verdammnuß verurtheilt worden, wann er nicht täglich hundert Ave Maria gebettet hätte.

[426] Dieser, ob er schon zum öftern zur Buß und Besserung des Lebens ermahnt worden, fuhre er doch einen Weeg wie den anderen in seinem bösen Wandel fort. Endlich fallt er in ein schwere Kranckheit, und wird im Geist verzuckt. Da sahe er wie die höllische Geister vor dem höchsten Richter stunden, und heftig auf das Urtheil der ewigen Verdammnuß wider ihn drangen. Er sahe aber auch unser liebe Frau daher kommen, und dem Richter etliche Zettelein darreichen, auf welchen alle Ave Maria geschrieben stunden, die von diesem Sünder gebetten worden; herentgegen aber brachten die böse Geister gantze Bücher herfür, in welchen alle seine Sünden aufgezeichnet waren. Als nun beyde Theil auf die Waag-Schüssel gelegt worden, sahe man daß die Sünden dieses elenden Menschen die Zettelein, so von Maria aufgelegt worden, weit übertroffen haben. Da sprach dann der Richter: diese Seel hat nicht den Himmel, sondern die Höll, und ewige Verdammnuß verdient. Maria aber sagte: es ist wahr, mein allerliebster Sohn: allein gedencke doch, daß du aus meinem Jungfräulichen Leib die menschliche Natur angenommen, in welcher du für das gantze menschliche Geschlecht dein Blut vergossen, und den schmählichen Tod des Creutzes ausgestanden hast. Nun begehre ich mehr nicht, als ein eintziges Tröpflein deines vergossenen Bluts, dieser Seel darmit hinaus zu helffen. Da sagte der Sohn: mein liebste Mutter! wie solte ich dir dieses versagen können? nimme dann hin, was du begehrt hast. Darauf hat Maria (wie es die ängstige Seel gedunckt hatte) ein Tröpflein aus der Seiten ihres Sohns genommen; und als sie es auf die Waag-Schüssel gelegt, hatte es alle Sünden überwogen. Auf welches hin die Teufel entsetzlich zu schreyen angefangen, und in diese Wort ausgebrochen: O! diese Frau ist gegen den ihrigen gar zu barmhertzig. Nach welchen Worten sie auch die Flucht genommen; der Sünder aber, nachdem er Buß und Besserung des Lebens versprochen, und wiederum zu sich selbst kommen, hatte er männiglich alles erzählt, was er gesehen, und nachdem er die vorige Gesundheit erlangt, begabe er sich in ein Closter, würckte Buß, und verblibe die gantze Zeit seines Lebens ein danckbarer Diener Mariä. Ex. cit. lib. Exempl. 15.

Quelle:
Wenz, Dominicus: Lehrreiches Exempelbuch [...] ein nutzlicher Zeitvertreib als ein Haus- und Les- Buch. Augsburg 1757, S. 426-427.
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