Neunte Begebenheit.

[446] Ein Knab von 10. Jahren hat oft von seinem frommen Lehrmeister in der Schul gehört, daß unser liebe Frau sich gegen diejenigen im Tod-Beth sehr günstig erzeige, von welchen sie täglich verehret wurde; und sollte es auch nur auf ein kurtzes Gebettlein ankommen, dieses liesse ihm der Knab gesagt seyn. Deswegen gewöhnte er sich, die Mutter GOttes täglich Morgens und Abends, ja auch, wann er in die Schul, oder daraus gienge, auf diese Weis zu verehren: Gegrüßt seyest du Mutter der Barmhertzigkeit. Diese wiewohl kurtze Verehrung, wolte [446] die barmhertzige Mutter nicht unbelohnt lassen. Dann, als der Knab unverhoft mit einer tödlichen Kranckheit überfallen worden, und das End seines Lebens herbey nahete, erschiene sie ihm mit lieblichem Angesicht, und fragte ihn mit diesen Worten: Mein Knab! kennest du mich nicht? wisse, daß ich die Mutter der Barmhertzigkeit bin, welche du so oft gegrüßt hast. Auf diese Wort richtete sich der Knab auf, streckte beyde Arm gegen ihr aus, und sagte: O Mutter der Barmhertzigkeit! nimme mich mit dir in Himmel hinauf. Und mit diesen Worten endigte er sein Leben. Wer will zweiflen, daß er nicht in die Arm dieser barmhertzigen Mutter aufgenommen, seye in den Himmel getragen worden? Author proxime cit.

Quelle:
Wenz, Dominicus: Lehrreiches Exempelbuch [...] ein nutzlicher Zeitvertreib als ein Haus- und Les- Buch. Augsburg 1757, S. 446-447.
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