35.
Am anderen tag bringet Lucia der junckfrawen den brieff, dardurch sie in ein newe liebe entzünt wirt.

[210] Des andern tags kam Lucia zů der junckfrawen Amelia. Alsbald nůn die junckfraw ihr ansichtig worden, ist ir das hertz im leib von zorn auffgehupffet; dann sie von newen dingen an Lasarum gedencken ward, umb das er also von ihr abgescheiden was. Bald gab ir Lucia den brieff, welchen Lasarus vor seinem abscheid geschriben und der junckfrawen zů geben empfolhen. Dann Lucia wol an der verkerten gestalt Amelien wol abnam, das sie über den Lasarum erzürnt was; dann sie erstlich den brieff nicht wolt von der Lucien annemen. Darumb sagt sie: ›Mein liebste Amelia, wie hat sich dein gestalt so gantz über mich verkeret! Sag mir, womit hab ich semlichen zorn gegen dir verschuldet? Nůn hab ich doch gůte hoffnung gehabt, du werdest in kurtzer zeit mein allerliebste sůnsfraw werden.‹

Amelia, bald sie des Lasari gedencken hort, als ir gemüt ein grosser schrecken und zorn durchdringen ward, und sagt also: ›Lucia, ich bitt, so ir meiner hulden nit beraubt sein wend, so gedenckend mir ewers sůns mit keinem wort. Dann gegen im all mein gunst, früntschafft, lieb und trew verloschen ist. Ich sag auch, ehe dann ich mich im vermähelen lassen will oder mich meinen vatter darzů zwingen lassen, will ich eh in ein kloster gon und mich meines vatters gůt verzeihen.‹

Lucia von solchen worten und theuren gelübt der junckfrawen nit wenig schrecken empfieng; wie aber solicher zorn auff iren sůn erwachsen sein mocht, was ir verborgen. Darumb fieng sie auff das allerfreundtlichest mit der junckfrawen an zů reden: ›Ach mein züchtige liebste junckfraw Amelia, meinen sůn zů vertädingen kan ich nit, dieweil mir nit zů wissen ist, womit er solche schwere ungnad umb dich verdienet hat. Ich aber bitt dich von wegen deiner můter,[211] ermane dich auch der grossen liebe, trew und früntschafft, so wir zůsamen tragen, auch ein yede insunderheit iren dienst gar offt gegen der anderen probiert hatt – von des wegen langt mein früntlichste bit an dich, wöllest mich verstendigen deren ursach.‹

Amelia, wiewol sie nit willens was die ursach zů offenbaren, so bezwang sie doch die hohe ermanung der Lucien, fieng an auff dise meinung mit zornwegern worten zů reden: ›O Lucia, ihr sollend nit mainen, das mein empfangner und angenumener zorn on mercklich ursach zůgangen seye, dieweil ich bedacht habe, was günstigen hertzens und grossen liebe ich zů ewerem sůn Lasaro getragen, in auch freuntlicher letze, als er hienwegschiffen wöllen, verehret, darzů in, als dem ich grosse unsegliche liebe getragen, das geleidt mit schwerem bekümmertem hertzen gegeben; dann mir sein hinscheiden unmenschlich schmertzen geberen thet. Dargegen aber [er] als ein stainhertziger und harter jüngling von mir ungnadet und sunder alles urlop von mir ist hinweggescheiden. Der härtigkeit ich im in allen meinen tagen nimmermer vergessen wil und mein hertz auch in gleichem gegen im erharten lassen, im auch kein lieb noch früntschafft nimmermer nit beweisen, sunder im härter sein, dann die junckfraw Daphne dem Phebo ye gewesen ist. Dann dieselbig Daphne, ehe dann sie wolt im ire liebe mittheilen, batt sie die götter, sich in einen lorberbaum zů verwandlen, und ward im von semlichen baum nicht mer dann ein zweig; daraus machet er im ein krantz zů ergetzligkeit seiner liebe. Also sol ewerem sůn auff dissmal auch an dem krantz, so ich ime zů einer letze in ewer aller beywesen zůgestelt, genügen und fürbas mer nichts anders von mir warten noch verhoffen.‹

Lucia, welche ein gar verstendig weib was, merckt gleich wol, wo hinaus die sach dienen wolt. Sie sagt: ›Mein Amelia, ich kan dir warlichen an disem ort nit unrecht geben, dieweil sich mein sůn eines semlichen unverstands gegen dir gebraucht hatt. Ich aber bitte dich, wöllest mich derhalben in keinerlei weg neiden oder feindschafft tragen; dann mir die undanckbarkeit meines sůns gar klein gefallen bringt. Ich bitt dich aber, mein liebste Amelia, von wegen der liebe, so du zů[212] deinem vatter und deiner můter tregst, wöllest mich meiner letsten bit geweren und disen brieff [lesen], so mir mein sůn an dem port gegeben und mich mit wainenden geberden gebetten dir den zů überantwurten, zeiget mir auch darbey an, wie ihm sehr gros daran gelegen were.‹

Amelia die junckfraw, wiewol sie vormals gar erzürnt gewesen was, hat sie doch in ir selb gedencken und erachten künden, das Lasarus sein abscheiden so hart bekümmert, das er mit ir nit hat reden künden, sunder ir in disem brieff erst genaden und urlop von ir nemen. Sie nam den brieff von der Lucien, stiess den eylends in iren bůsam; dann sie befand, das etwas darinnen verschlossen war; so sahe sie auch an der überschrifft, das Lasarus disen brieff ihr in aller früntschafft und liebe überschickt het. Lucia verstůnd wol an iren weisen und geberden, das sie disen brieff ungelesen nit lassen würde; darumb nam sie urlop von Amelien und gieng wider zů haus.

Quelle:
Georg Wickram: Werke. Band 2, Tübingen 1903, S. 210-213.
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