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An Eurybates.[282] 135

Das sind nun eure so hochgepries'nen Freistaaten, Eurybates! So geht es in euern Demokratien zu! Bei allen Göttern der Rache! eine solche Abscheulichkeit war nur in einer Ochlokratie wie die eurige möglich! Ihr schimpft auf das, was ihr Tyrannie nennt? Wahrlich unter dem Tyrannen Dionysius hätte Sokrates so lange leben mögen als Nestor; alle Gerber, Rhetoren und Versemacher von ganz Sicilien sollten ihm kein Haar gekrümmt haben! – Im Grunde dauern mich deine Athener. Was können sie dafür, daß die Regiersucht solcher ehrgeizigen Aristokraten und Demagogen wie Klisthenes und Perikles ihnen in ihre schwindlichten Köpfe gesetzt hat, ein Wurstmacher, Kleiderwalker oder Lampenhändler verstehe sich so gut aufs Regieren und Urtheil sprechen, als einer der dazu erzogen worden ist? Der Tag, da Athen von der edeln und weislich abgewogenen Solonischen Aristodemokratie zu[282] einer reinen Ochlokratie herabgewürdigt wurde, war der unseligste von allen, die ihr seit Cekrops und Theseus mit schwarzer Kreide bezeichnet habt. Alles Elend, das in den letzten dreißig Jahren über eure Stadt gekommen ist, alles Unheil das ihr über Griechenland gebracht habt, alle die Schandmale, die ihr, durch so viele Handlungen des gefühllosesten Undanks gegen eure verdienstvollesten Bürger, eurem Namen auf ewig eingebrannt habt, schreiben sich von diesem Tage her. – Wie? Die dreißig Tyrannen selbst, denen euch Lysander preisgab, die gewaltthätigsten und verruchtesten aller Menschen, wagten es nicht sich an Sokrates zu vergreifen, als er ihnen mit spottender Verachtung die derbsten Wahrheiten ins Gesicht sagte: und eure Heliasten, Leute, die für drei Obolen des Tags, je nachdem sie einem wohl oder übel wollen, Recht oder Unrecht sprechen, verurtheilen ihn zum Tode, weil er sie nicht um eine gnädige Strafe bitten will; verurtheilen ihn bloß, um ihm zu zeigen daß sein Leben von ihrer Willkür abhange? Die Elenden! – Aber noch einmal, nicht sie, sondern die Urheber einer Verfassung, welche die Macht über Leben und Tod in die Hände solcher Wichte legt, sind verwünschenswerth.

Doch wozu dieser Eifer? Und was berechtigt mich, meine Galle über dich, der an diesem Gräuel unschuldig ist, auszugießen? Verzeih', Eurybates! Ich fühle daß es mich noch viel Arbeit an mir selbst kosten wird, bis ich es so weit gebracht habe, alles an den Menschen natürlich zu finden, was sie zu thun fähig sind, und mich mit einer solchen Natur zu vertragen. Ich schmeichelte mir sonst es schon ziemlich weit[283] in diesem eben so schweren als unentbehrlichen Theile der Lebenskunst gebracht zu haben; – zu früh, wie ich sehe: aber freilich auf ein solches Ungeheuer der schandbarsten Narrheit und Verkehrtheit, wie dieser justizmäßige Sokratesmord, war ich nicht gefaßt.

In drei Tagen schiffe ich mich nach Aegina ein, und gedenke von dort aus eine Reise nach den vornehmsten Städten Ioniens zu unternehmen, und mich in jeder so lange aufzuhalten, als ich etwas zu sehen, zu hören und zu lernen finde, das in meinen Plan taugt. Athen wieder zu sehen, bin ich noch unfähig; der Anblick eines Heliasten würde mich wahnsinnig machen.

Lebe wohl, Eurybates, und stelle, wenn du kannst, die Zeiten wieder her, da die Minervenstadt noch von lebenslänglichen Archonten regiert wurde. Eure Triobolenzünftler136 haben mich mit der Aristokratie auf immer ausgesöhnt. Es ist zwar, im Durchschnitt genommen, nicht viel Gutes von euch zu rühmen, ihr andern Eupatriden: aber das bleibt doch wahr, daß der Schlechteste von euch nicht fähig gewesen wäre, weder Ankläger eines Sokrates zu seyn, noch ihm Schierlingssaft zu trinken zu geben.

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Band 22, Leipzig 1839, S. 282-284.
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