49.
An Lais.

[284] Um uns die gezwungene Unterwerfung unter das eiserne Gesetz der Nothwendigkeit erträglicher zu machen, gibt es wohl kein besseres Mittel, liebe Laiska, als uns des großen Vorrechts zu bedienen, womit die Natur den Menschen vor allen andern lebenden Wesen begabt hat, »daß es in seiner Macht steht, bloß durch eine willkührliche Anwendung seiner Denkkraft, wo nicht allen, doch gewiß dem größten Theil der Uebel, die ihm zustoßen, den Stachel zu benehmen, indem er sie aus dem düstern Licht, worin sie ihm erscheinen, in ein freundlicheres versetzt, und sie so lange auf alle möglichen Seiten wendet, bis er eine findet, die ihm einen tröstlichen Anblick gewährt.« An diese sollten wir uns dann, wenn wir weise wären, festhalten, ohne spitzfindig nachzugrübeln, wie viel davon etwa bloß Täuschung seyn möchte. Warum wollten wir die Schale mit Nepenthes137, die uns eine mitleidige Gottheit reicht, ausschlagen, um uns vorsetzlich dem Gram einer einseitigen Vorstellung zu überlassen, der, wie der Geyer des Prometheus an unserm Leben nagt, ohne daß irgend etwas Gutes für uns oder Andere daraus entspringen kann? Was wir selbst, was alle bessern Menschen, was die Welt überhaupt durch den Tod unsers unersetzlichen Freundes verloren hat, kann uns durch unsern Unmuth nicht wiedergegeben werden. Reißen wir uns mit unsern Gedanken von allen eigennützigen Gefühlen los, und erwägen dafür, was er selbst,[285] der Geliebte, dessen Verlust wir beklagen, verloren oder gewonnen haben mag! – War es nicht eher ein Gut als ein Uebel für ihn, die Zeit der immer fühlbarer werdenden Abnahme, die Zeit nicht zu erleben, wo der Mensch in seinen eigenen und andrer Augen nur noch als eine zusehends in Trümmer zerfallende Ruine dessen, was er war, erscheint? »Er hätte, sagen wir, noch lange, vielleicht noch zehn Jahre leidlich leben können.« – O ja, und dann vielleicht noch andere zehn Jahre unter allen Entbehrungen und Beschwerden des höchsten Greisenalters, wie eine allmählich sterbende Pflanze, hingeschmachtet! der Welt unnütz, sich selbst und seinen Freunden lästig, ein trauriger Gegenstand ihrer in bloßes Mitleiden verwandelten Liebe! Ihm war ein besseres Loos beschieden. Denn wahrlich, im Genuß aller seiner Kräfte und einer vollständigen Gesundheit der Seele und des Leibes, siebzig Jahre zurückzulegen, und dann ohne Krankheit und Schmerzen so schnell und leicht aus der Welt zu kommen, wie er, ist ein Glück das unter tausend Menschen kaum Einem zu Theil wird. – »Er starb schuldlos von ungerechten Richtern verurtheilt,« – aber ruhig, heiter, freudig, im Bewußtseyn eines ganzen wohl geführten, untadelhaften, gemeinnützlichen Lebens! geliebt, geehrt, beweint und betrauert von allen guten Menschen! Er lebt fort im Herzen seiner Freunde, wird ewig leben im Andenken der spätesten Nachwelt, die seinen Namen zur gewöhnlichen Bezeichnung der Idee eines weisen und tugendhaften Mannes machen wird. Seine denkwürdigsten Reden, seine Lehre, sein bürgerliches und häusliches Leben, werden, von seinen Freunden in Schriften dargestellt, noch[286] Jahrtausende lang, vielleicht unter Völkern, deren Benennung uns jetzt noch unbekannt ist, Gutes wirken. Gibt es ein glorreicheres Loos für einen Sterblichgebornen, als, mit allen diesen Vorzügen gekrönt, von der Tafel der Natur aufzustehen und schlafen zu gehen – entweder zur Ruhe eines ewigen Schlafs, oder (wie er selbst glaubte) um, mit den Geistern aller Edeln und Guten, die vor ihm waren, vereinigt, ein neues Leben in der unsichtbaren Welt zu beginnen? Trauren wir also nicht um Sokrates! Er hat nichts verloren, nichts das ihm nicht reichlich ersetzt wird, nichts, wofür ihm nicht schon die letzte Stunde, da sich Vergangenheit und Zukunft in seinem Bewußtseyn in Ein großes, klares, lebendiges Gefühl zusammendrängte, überschwänglichen Ersatz gegeben hätte. – »Aber was wir selbst an ihm verloren haben?« – ist, im Grunde, wenig, meine Freunde! denn von allem, was wir bereits von ihm besitzen, können wir nichts verlieren als durch unsre eigene Schuld; und in der Folge hätte er doch nur wenig mehr für uns seyn können. Gesetzt aber auch wir hätten viel verloren, so sey uns dieß ein neuer Antrieb, einander desto sorgfältiger und eifriger alles zu seyn, was in unserm Vermögen ist!

Ich gestehe, daß es mir jetzt äußerst peinlich wäre, nach Athen zurückzukehren, wo mich alles noch zu frisch an ihn erinnern würde; aber in einigen Jahren werden diese Erinnerungen vielmehr angenehm als schmerzhaft seyn. Was die Athener betrifft, die sind, im Durchschnitt, ein so verächtliches Gesindel, daß sie nicht einmal unsers Hasses werth sind, geschweige daß die liebenswürdigste aller Erdentöchter um ihrentwillen[287] zur Medea oder Tisiphone138 werden sollte. An weniger gefühllosen Menschen würden Scham und Reue bereits eine strenge Rache genommen haben. Aber ich besorge sehr, die Athener sind weder der Scham noch der Reue fähig. Desto schlimmer für sie! Sie werden ihrer verdienten Strafe nicht entrinnen; und schwerlich würdest du, wenn dir auch alle Fackeln und Schlangenpeitschen der Erinnyen zu Dienste ständen, grausam genug seyn, ihnen die Hälfte der Plagen anzuthun, die sie selbst durch die natürlichen Folgen ihrer unheilbaren Verkehrtheit über sich aufhäufen werden.


Meine Geschäfte in Cyrene werden in zehn Tagen beendiget seyn, und dann fliege ich mit dem ersten günstigen Winde deiner Zauberinsel zu. Ich bringe dir, auf meine Gefahr, meinen Freund Kleonidas mit; einen jungen Mann, der es werth ist dich zu sehen, und dir bekannt zu werden, und der so sehr mein anderes Ich ist, daß du schwerlich mehr für ihn thun könntest als ich ihm gönnen würde. Er ist mit allen Anlagen zur bildenden Kunst geboren, gab sich aber in seinen frühern Jugendjahren ganz den Musenkünsten hin. Er würde mich schon vor fünf Jahren nach Griechenland begleitet haben, wenn ihn nicht eine schwärmerische Leidenschaft für die Tochter des damals sich bei uns aufhaltenden Malers Pausias zurückgehalten hätte, die an Schönheit und – Dumpfheit eine andere Theodota ist. Um seine Geliebte so nahe und so oft als möglich zu sehen, bestellte er bei dem Vater ein Gemälde[288] nach dem andern, und brachte, unter dem Vorwande den Künstler arbeiten zu sehen, einen großen Theil des Tages in seinem Hause zu. Die Folge davon war, daß seine Phantasie für die Tochter nach und nach erkaltete, hingegen eine leidenschaftliche Liebe für die Kunst des Vaters in ihm erwachte, für welche er, wie sich in kurzem zeigte, eine entschiedene Anlage hat. Da er reich genug ist bloß zu seinem und seiner Freunde Vergnügen zu arbeiten, wird er die Malerei, wiewohl sie seitdem seine hauptsächlichste Beschäftigung war, schwerlich jemals als Profession treiben. Nichtsdestoweniger verspreche ich mir von ihm, daß er mit der vorzüglichen Geistesbildung und dem Dichtertalent, die ihm dabei zu Statten kommen, ungleich mehr leisten wird, als man gewöhnlich von einem bloßen Liebhaber erwartet. Kurz, ich habe mir in den Kopf gesetzt, es fehle ihm, um noch weiter als sein Lehrer selbst zu kommen, weiter nichts, als die schöne Lais zu sehen, und von ihr aufgemuntert zu werden. Ich habe also nicht von ihm abgelassen, bis ich ihn schon in voraus so verliebt in dich gemacht habe, daß er vor Ungeduld brennt, sich mit seinen eignen Künstleraugen zu überzeugen, ob du noch schöner und reizender bist, als die Idee, die er sich von dir gemacht, und in einem Bilde der Hebe, die dem neu vergötterten Herakles die erste Nektarschale reicht, in der That meisterhaft ausgeführt hat. Wir wollen sehen!

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Band 22, Leipzig 1839, S. 284-289.
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