16.
Learchus an Aristipp.

[70] Wir erfreuen uns wieder eines Vorzugs, um welchen uns Athen und Syrakus beneiden, des Glücks, die schöne Lais, nach einer mehr als vierjährigen Abwesenheit, wieder in unsern Mauern zu besitzen; wenn anders die Erlaubniß, seine Augen unentgeltlich an ihrem Anschauen zu weiden, für eine Art von gemeinsamen Besitz gelten kann. Dieß ist ein Recht, oder vielmehr eine Wohlthat, die sie, gleich der Sonne, allen Augen zugesteht, die es auf die Gefahr, eben so wie von einem Blick in die Sonne geblendet zu werden, wagen wollen in die ihrigen zu sehen. Irgend einer höhern oder geheimern Gunst kann sich unter allen, die sich darum zu beeifern scheinen, bis jetzt noch keiner rühmen: aber auch diese ist schon so groß, daß einige Zeit hingehen dürfte, bis irgend ein Uebermüthiger sich erdreisten wird, über die Unzulänglichkeit einer so geistigen Nahrung der ungenügsamsten aller Leidenschaften zu knurren. In der That ist ihre Schönheit noch immer im Zunehmen, und scheint sogar, anstatt durch die Zeit das Geringste von ihrer frischen Blüthe verloren, im Gegentheil in der Blende, worin sie zu Sardes[70] gestanden, einen noch höhern Glanz gewonnen zu haben, – etwas Gebieterisches, Königliches möcht' ich sagen, das in die Länge kaum erträglich wäre, wenn sie es nicht durch die liebenswürdigste Anmuth der Sitten und das gefälligste Benehmen im Umgang zu mildern wüßte. Bei allem dem lebt sie auf einem so fürstlichen Fuß zu Korinth, daß zu besorgen ist, falls auch sie selbst reich genug wäre, es immer auszuhalten, die Korinthier möchten nicht artig oder demüthig genug seyn, es lange gut zu finden. Indessen, bis jetzt geht noch alles als ob es nicht anders seyn könnte. Das Volk, dem der Schein immer für das Wesentliche gilt, wird durch den Schimmer, womit sie sich umgibt, und ihre große Manier das Persische Gold in Umlauf zu setzen, im Respect erhalten; unsre Patricier hingegen trösten sich mit dem Gedanken, daß eine solche Lebensart der geradeste Weg sey, die stolze Göttin desto eher zu humanisiren und endlich so geschmeidig zu machen, als jeder sie, wenigstens für sich selbst, zu finden wünscht. Da dieß aber ganz und gar nicht in den Plan der Dame zu passen scheint, so würde, däucht mich, ein warnender Wink von einem vertrauten Freunde nicht überflüssig und vielleicht von guter Wirkung seyn. Ich selbst bin zwar so glücklich sie öfters zu sehen, und sogar zu dem engern Ausschuß ihrer Gesellschafter zu gehören: aber, wenn ich auch großmüthig genug seyn wollte, gewissermaßen gegen mei nen eigenen Vortheil zu handeln, so ist doch mein Verhältniß zu ihr nicht von solcher Art, daß ich mir ohne Zudringlichkeit das Amt eines Erinnerers herausnehmen dürfte. Auf jeden Fall, lieber Aristipp, wäre wohl das Beste, wenn du dich entschließen[71] könntest, dich den Reizen der schönen Rhodos zu entreißen, und mit der ersten guten Gelegenheit nach Korinth zu kommen. Lais scheint beinahe gewiß darauf zu rechnen, und dein gastfreundliches Gemach im Hause deines Learch ist zu allen Stunden für deine Aufnahme ausgeschmückt.

L.W.

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Band 23, Leipzig 1839, S. 70-72.
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