19.
An Eurybates.

[103] Es ist Zeit, Eurybates, daß du wieder von mir selbst vernehmest, daß ich noch unter denen bin, die das erfreuende Licht der Sonne trinken.

Ich habe nun alle Griechischen Pflanzstädte an den Küsten Asiens und den größten Theil des von den Söhnen Hellens bevölkerten festen Landes und der dazu gehörigen Inseln besucht, und nach einer mehr als achtjährigen Abwesenheit sehn' ich mich in die schöne Athenä zurück, die unvergeßliche und unvergleichbare, zu welcher man sich, wie zu einer etwas unartigen aber reizvollen Geliebten, immer wieder mit verborgener Gewalt hingezogen fühlt, weil man, aller ihrer Unarten und[103] Launen ungeachtet, dennoch nichts Liebenswürdigeres kennt als sie. Ich werde den Athenern den Tod des Sokrates nie verzeihen; aber sieben Jahre haben ihre Wirkung gethan und mich an die Vorstellung gewöhnt, daß ich das, was geschehen ist, von der Natur selbst zu gewarten gehabt hätte. Ich würde ihn entweder nicht mehr am Leben, oder in einem Zustande von Abnahme angetroffen haben, worin man, für seine Freunde und sich selbst, schon über die Hälfte – zu seyn aufgehört hat. Die Zeit hilft uns vergessen was nicht zu ändern ist, und was sie selbst bewirkt hätte, wenn ihr die Menschen nicht zuvorgekommen wären.

Was mich am meisten mit den Athenern ausgesöhnt hat, ist: daß sie das Andenken des besten ihrer Bürger in seinen Freunden und Zöglingen ehren, und der Philosophie einen so freien Spielraum und Uebungsplatz gestatten, als sie nur immer verlangen kann. Wie ich höre so hat mein alter Freund Antisthenes schon seit geraumer Zeit in der Cynosarge57, und Plato, seitdem er von seinen Reisen in Aegypten und Italien zurückgekommen ist, in seinem an der Akademie gelegenen Gärtchen, eine Art von Sokratischer Schule eröffnet, deren Beschaffenheit ich mit meinen eigenen Augen zu erkundigen begierig bin. Ich erwarte von beiden nichts anders, als wozu sie schon bei Lebzeiten des Meisters gute Hoffnung gaben, nämlich, daß der eine die Philosophie des Sokrates übertreiben, der andere verfälschen werde. Am richtigsten wär' es vielleicht, wenn man die Sokratiker sammt und sonders als Pflanzen verschiedener Art betrachtete, die neben einander aufgekommen sind, und ihre Nahrung aus eben demselben[104] Boden gezogen, aber jede auf eine andere, ihrer eigenen Natur gemäße Art, verarbeitet haben. Man könnte sie auch mit mehrern Söhnen eben desselben Vaters vergleichen, deren keiner ihm recht ähnlich sieht, wiewohl dieser seine Augen, jener seinen Mund, ein dritter seine Nase hat. Zuweilen findet sich auch ein vierter, der zwar in jedem einzelnen Zuge von dem Vater verschieden ist, hingegen im Ganzen der Physiognomie eine auffallende Aehnlichkeit mit ihm hat. Ich meines Orts möchte lieber dieser letzte seyn als einer von den andern; wiewohl ich glaube, die Natur habe es darauf angelegt, daß jeder sich selbst gleich sehen soll.

Ich habe deinem Freigelass'nen Phormion, meinem alten Hausverwalter zu Athen, aufgetragen, mir, wo möglich in der Nähe vom Pompeion58, eine Wohnung, wie ich sie nöthig habe, zu miethen; das ist, ein paar Schlafkammern, einen Speisesaal und eine Galerie neben etlichen Reihen schattengebender Bäume. Erweise mir die Freundschaft, dich der Sache anzunehmen, und dem ehrlichen Phormion merken zu lassen, daß es dir angenehm seyn werde, wenn er sich meines Auftrags mit Verstand erlediget.

Ich werde mich so lange, bis du mir meldest daß ich kommen könne, bei einem Freunde zu Tanagra59 aufhalten, und nicht vergessen, dir den stattlichsten Kampfhahn mitzubringen, der in der ganzen Stadt aufzutreiben seyn wird.

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Band 23, Leipzig 1839, S. 103-105.
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