Drittes Capitel

Unvermutete Unterbrechung des Bacchus-Festes

[388] Eine Schar Cilicischer Seeräuber, welche frisches Wasser einzunehmen bei nächtlicher Weile an dieser Küste geländet, hatten von fern das Getümmel der Bacchantinnen gehört, und sogleich für einen Aufruf zu einer ansehnlichen Beute aufgenommen. Sie erinnerten sich, daß die vornehmsten Frauen dieser Gegend die geheimnisvollen Orgya um diese Zeit zu begehen pflegten; und daß sie, wenn sie sich zu solchem Ende versammelten, in ihrem schönsten Putz aufzuziehen pflegten, ob sie gleich vor Besteigung des Berges sich dessen wieder entledigten, und alles bis zu ihrer Wiederkunft von einer Anzahl Sclavinnen bewachen ließen. Die Hoffnung, außer diesen Weibern, von denen sie die schönsten für die Asiatischen Harems bestimmten, eine Menge von kostbaren Kleidern und Juwelen zu erbeuten, schien ihnen wohl wert, sich etwas länger aufzuhalten. Sie teilten sich also in zween Haufen, davon der eine sich derer bemächtigte, welche die Kleider hüteten, indessen daß die übrigen den Berg bestiegen, und mit großem Geschrei unter die Thracierinnen einstürmend, sich von ihnen Meister machten, ehe sie Zeit oder Mut hatten, sich zur Wehr zu setzen. Die Umstände waren allerdings so beschaffen, daß sie sich allein mit den gewöhnlichen und anständigsten Waffen ihres Geschlechts verteidigen konnten. Allein diese Cilicier waren allzusehr Seeräuber, als daß sie auf die Tränen und Bitten, noch selbst auf die Reizungen dieser Schönen einige Achtung gemacht hätten, welche doch in diesem Augenblick, da Schrecken und Zagheit ihnen die Weiblichkeit (wenn es erlaubt ist, dieses Wort einem großen Dichter abzuborgen) wiedergegeben hatte, selbst dem sittsamen Agathon so verführerisch vorkamen, daß er vor gut befand, seine nicht gerne gehorchende Augen an den Boden zu heften. Allein die Räuber hatten izt andre Sorgen, und waren nur darauf bedacht, wie sie ihre Beute aufs schleunigste in Sicherheit bringen möchten. Und so entging Agathon, für etliche nicht allzufeine Scherze über die Gesellschaft, worin man ihm gefunden hatte, und für seine Freiheit, einer Gefahr, aus der er seinen Gedanken[388] nach sich nicht zu teuer loskaufen konnte. Der Verlust der Freiheit schien ihn in den Umständen worin er war, wenig zu bekümmern; und in der Tat, da er alles übrige verloren hatte was die Freiheit schätzbar macht, so hatte er wenig Ursache sich wegen eines Verlusts zu kränken, der ihm wenigstens eine Veränderung im Unglück versprach.

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Werke. Band 1, München 1964 ff., S. 388-389.
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