Die mit der Verzweifelung

Ringende Lesbie

[100] Du hell Crystallner Fluß, ich nahe mich zu dir,

Und bring in Einsamkeit dir meine Klagen für,

Denn was man nicht darff Menschen klagen,

Das kan man doch wohl stummen Zeugen sagen.

Ja schwieg ich auch bey dem Geräusche deiner Wellen,

Das meiner Thränen-Fluth sich scheinet zu gesellen,

So wirst du dennoch mein Verzweiflungs-volles Wesen

Gar leicht aus Aug und Minen lesen.

Furcht, Unruh und Verdruß heist stets mein Zeitvertreib,

Die Seele lieget kranck,

Die Thränen sind mein Tranck,

Die Seuffzer meine Speise.

Die Kummer-volle Brust, der abgehärmte Leib,

Schickt sich allmählig schon zu seiner letzten Reise.

Ihr Sterne! Hört und seht ihr nicht?

Was die von euch Verbannte spricht.[101]

Ihr schweigt bey meiner Quaal und Schmertzen,

Geht euch mein Elend nicht zu Hertzen?

Ich glaub, ihr seyd von Stahl und Stein,

Weil ihr bey meiner Noth wolt unempfindlich seyn.

Drum will ich mich nur in mir selbst verzehren,

Ich mag und will nichts mehr,

Und wenn das Glücke gleich schon auf dem Wege wär,

Von Hülff und Rettung hören.

Ich opfre meiner Jugend Lauf

Mit Fleiß dem Harm und Kummer auf,

Dem will ich lieber mich zum Raub und Beute geben,

Als länger unvergnüget leben.

Verachtet mich nur nicht, ihr liebsten Quellen,

Die Welt mag, wie sie will, ihr Urtheil drüber fällen.

Jedoch, was präg ich euch das Stilleschweigen ein,

Ihr könt ja nicht Verräther seyn.

Wenn gleich die Welt, so mich vermist,

Euch auszufragen lüstern ist.

Ich hab euch meine Noth zwar in der Angst erzehlet,

Doch auch mit allen Fleiß den Quell davon verhöhlet.

Quelle:
Christiane Mariane von Ziegler: Versuch In Gebundener Schreib-Art, Leipzig 1728, S. 100-102.
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