Seilpolygon [1]

[67] Seilpolygon oder Kettenpolygon ist die Gleichgewichtsfigur eines vollkommen biegsamen, undehnbaren Fadens oder Seiles, das an bestimmten Punkten, K1, K2, K3, ... Kn (s. Fig. 1), von Kräften P1, P2, P3, ... Pn ergriffen ist. Die Punkte K heißen die Knoten. Das Polygon K1 K2 K3 ... kann eben oder windschief sein. Die Seiten desselben sind gespannt, und wenn eine solche durchschnitten wird, so sind zwei entgegengesetzt gleiche Kräfte erforderlich, um das gestörte Gleichgewicht herzustellen. Diese Kräfte heißen die Spannungen, und durch Einführung derselben kann das Gleichgewicht an jedem einzelnen Knoten untersucht werden, wie an einem freien Punkte, an dem die Kraft P und die Spannungen nach den beiden benachbarten Knoten hin angreifen. Die Endpunkte des Polygons sind entweder seit, oder ihre Fertigkeit wird durch zwei Kräfte, die Endspannungen, vertreten. Ist das Seilpolygon geschlossen, so sind die Endkräfte die entgegengesetzt gleichen Spannungen der Schlußseite desselben.

Die gleichen Spannungen längs der Seite K1 K2 seien T12 und T21, die der Seite K2 K3 gleich T23, und T32 u.s.w., die Endspannungen T und Tn, die Winkel, welche die Kräfte P mit den vorhergehenden und folgenden Seitenrichtungen bilden, seien α und β und γ die Polygonwinkel selbst. Dann gelten für das Gleichgewicht an den einzelnen Knoten die Doppelproportionen:


Seilpolygon [1]

Aus ihnen erhält man, indem man sie gruppenweise miteinander multipliziert, die Verhältnisse der Spannungen unter sich und zu den Kräften P. Ist das Polygon geschlossen, so tritt hinzu noch die Gleichung für die Winkelsumme des Polygons. Hieraus zieht man leicht folgende Schlüsse:

1. Sind die Kräfte P und die Endspannung T nach Größe und Richtung sowie die Seitenlängen des Polygons gegeben, so kann die Gleichgewichtsfigur desselben durch Konstruktion gefunden werden. Denn trägt man T und P1 am Knoten K1 an, so wird T12 der Diagonalen des Parallelogramms aus diesen beiden Kräften entgegengesetzt gleich. Dadurch ist die Richtung der Seite K1 K2 und damit die Lage des Knotens K2 bestimmt und zugleich ergibt sich T12 = T21 als die geometrische Summe [T] + [P1]. Trägt man hierauf T21 und P2 an K2 nach Größe und Richtung auf, so folgt ebenso T23 = T32 = [T21] + [P2] u.s.f., so daß ein Polygon aus T, P1, P2, P3, ... von irgend einem Punkte O aus konstruiert, die Seitenrichtungen und die Spannungen durch seine Diagonalen liefert und die Schlußlinie die Endspannung Tn gibt.

2. Halbieren die Richtungen der Kräfte P die Polygonwinkel γ, so werden die Kräfteparallelogramme an den Knoten Rhomben, die Spannungen alle gleich und gleich den Endspannungen. Man erhält dann


Seilpolygon [1]

[67] 3. Da das Gleichgewicht fortbestehen muß, wenn das ganze Syriern unveränderlich wird, so müssen die Kräfte P und die Endspannungen T, Tn den Gleichgewichtsbedingungen des unveränderlichen Systems genügen. Daher muß für jeden Punkt des Raumes die Resultante und das Moment der Kräftereduktion Null sein. Dasselbe gilt für jeden beliebigen abgetrennten Teil der Figur bezüglich der längs desselben wirkenden Kräfte P und der Spannungen an den Enden.

4. Schneiden sich die Richtungen zweier Polygonseiten und trennt man den zwischen ihnen enthaltenen Teil des Polygons ab, so kann man die Spannungen an den Enden finden, indem man die Resultante der Kräfte P des Teiles an dem Schnittpunkte, in entgegengesetztem Sinne genommen, nach den Richtungen derselben zerlegt.

5. Sind die Kräfte P einer Ebene parallel, so ist das Polygon eben. Insbesondere tritt dies ein, wenn die Kräfte P alle untereinander parallel sind.

An die Lehre vom Seilpolygon kann angelehnt werden die Theorie der Kettenlinien (s.d.), welche die Gleichgewichtsformen eines Fadens sind, der in allen seinen Punkten von Kräften ergriffen wird. An die Grundgedanken dieser Lehre lehnen sich an die Behandlung der Stabverbindungen, welche die Theorie des Fachwerks rechnend und konstruktiv ausführlich behandelt. Vgl. a. Graphische Statik, Bd. 4, S. 613.


Literatur: Appell, Traité de mécanique rationnelle, Paris 1893, Bd. 1, S. 165–180; Schell, Theorie der Bewegung und der Kräfte, 2. Aufl., Leipzig 1879, Bd. 2, S. 78–87. Ferner die in den technischen Artikeln über Fachwerke angeführte Literatur.

(† Schell) Finsterwalder.

Seilpolygon [1]
Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 8 Stuttgart, Leipzig 1910., S. 67-68.
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