13. Vom armen Schuster.

[62] Dieser Schuster war sehr arm und war Vater von acht Kindern und die Frau war ihm gestorben. Er hatte sehr schlimme Tage und wenig Verdienst und die armen Würmchen wollten doch ihr Brot haben und schrien oft wie die Raben vor Hunger. So ging es lange Zeit und der arme Schuster versetzte seinen letzten Leisten, um den Hunger der Kinder zu stillen. Allein, als der morgende Tag anbrach, stellte sich auch der Hunger wieder ein und die Kinder weinten, und da wußte sich der Schuster gar nicht zu helfen. Endlich fiel ihm ein Ausweg ein. Er ging zu seinem Nachbar, der sehr reich, dabei aber auch sehr geizig war, und bat ihn, er möchte ihm doch einige Kreuzer leihen, damit er seinen Kindern Brot kaufen könnte, denn sonst müßten sie Hungers sterben. Der geizige Mann schnauzte aber den Armen an und schrie: »Wenn deine Kinder verhungern, was geht das mich an? – Ich gebe dir keinen gespaltenen Heller, geschweige einen ganzen. Ich bin nicht der Narr, der das Geld hinauswirft ohne Hoffnung, es je wieder zu bekommen.«

Der arme Schuster sah nun, daß sein Bitten umsonst sei, und ging ohne Geld und ohne Trost vom reichen Nachbar weg zu seinen hungernden Kindern. Diese meinten, der Vater würde mit Brot kommen, und warteten mit größter Sehnsucht auf ihn. Der Vater kam nun, und als er die armen hungernden Kindlein sah, ging es ihm ans Herz und er fing auch an zu weinen. Die Kinder, wie sie dies[63] sahen, weinten noch mehr und wurden immer trostloser und trauriger. So ging es zwei Tage, daß sie einander ansahen und weinten, und der Hunger wurde immer größer und größer. Da dachte sich der arme Schuster: »Ich will es noch einmal probieren und zum Nachbar gehen und ihn um etswas bitten; vielleicht erweichen Gott und meine Tränen sein hartes Herz.« Der Schuster begab sich nun zum Nachbar und weinte und bat ihn auf den Knien recht inständig um etwas. »Ja,« erwiderte der geizige Nachbar, »einen Strick will ich dir geben, damit du deinem elenden Leben ein Ende machen kannst«, und gab ihm einen Strick. Der arme Schuster nahm den Strick und dachte an seine bereits verhungerten Kinder und an die noch lebenden, zu denen er aber ohne Brot nimmer zurückkehren mochte, und beschloß, wenn der himmlische Vater keine Hilfe senden würde, sich aufzuhängen.

Er ging nun in den Wald hinaus und ging recht tief in denselben hinein, damit kein Mensch ihn sehen möchte. Und wie er im dichten Walde so dastund und sich aus Hunger aufhängen wollte, wurde es ihm so schwer um das Herz, daß er von der Welt scheiden sollte, und dachte: »Bevor ich sterbe, will ich die schöne Welt doch noch anschauen«. Er suchte nun einen recht hohen Baum und stieg bis zum Wipfel hinauf, und wie er droben war, sah er recht weit herum und es kam ihm noch schwerer vor, sich aufzuhängen.

Wie er nun so herumschaute, siehe, da erblickte er tiefer in dem Walde ein großes, großes Haus, das war so schön, daß er nie ein solches gesehen hatte. Er kletterte nun eilig wie ein Eichkätzchen vom Baume herunter, ließ den Strick liegen, wo er lag, und eilte dem schönen, großen Hause zu, um dort Hilfe und Trost zu suchen, denn zum Hängen, meinte er in seinem Sinne, ist es noch Zeit.

Wie er zum Hause kam, fand er es offen. Er ging hinein und kam in einen weiten, lichten Saal, in dem viele, viele Tafeln stunden,[64] und alle waren gedeckt und mit den herrlichsten Speisen beschwert – aber keine Seele war im ganzen Gebäude zu finden. Da war ein Glühen und Duften, daß der arme Schuster glaubte, er sei bei der himmlischen Hochzeit. – Wie sich lange Zeit niemand sehen ließ, setzte sich der hungrige Schuster endlich zu einer Tafel hin, kostete von jeder Speise und trank von jedem Weine. Er war schon fast satt, da hörte er plötzlich Stimmen und es war, als ob Leute kommen würden. Der arme Schuster fürchtete sich und versteckte sich eilig in das Ofenloch. Wie er dort horchte und zitterte, kamen zwölf Herren, setzten sich zu Tische und als sie sahen, daß alles angenascht war, murmelten sie: »Wer hat von meiner Suppe gegessen?« »Wer hat von meinem Fleische gekostet?« »Wer hat von meinem Brote geschnitten?« »Wer hat von meinem Weine getrunken?« »Wer hat mit meinem Löffel geschöpft?« »Wer hat mit meinem Messer geschnitten?« So murmelten und murrten sie, bis der erste, der gekommen war, fragte, was es Neues gebe. Da sagte der zweite, er wisse nichts und so ging es der Reihe nach; alle bis auf den letzten wußten nichts. Als die Reihe zum letzten gekommen war, erzählte er, in der Königsstadt liege die Königstochter schwer krank und leide am rechten Fuße fürchterliche Schmerzen. Kein Doktor könne ihr helfen und die schöne Prinzeß sei ohne Rettung verloren, wenn nicht bald geholfen würde.

»Und kann ihr niemand helfen? Und können wir ihr nicht helfen?« fragten alle auf einmal. Da antwortete der letzte: »Ich wüßte schon ein Mittel. Es darf nur jemand zum weißen Felsen hingehen. Um Mitternacht bewegt sich dort der große Stein und ein gräßlicher Wurm kommt zum Vorschein. Diesen muß man erschlagen, ihm das Fett nehmen, damit den rechten Fuß der Königstochter einschmieren, und sie wird in acht Tagen ganz gesund sein.«[65]

Als die zwölf Herren dieses gehört und gegessen hatten, stunden sie von ihren Sitzen auf und gingen wieder weg. Der arme Schuster war darüber froh, schlüpfte aus dem finstern Ofenloche hervor, stillte vollends seinen Hunger und ging dann fort, denn er wollte die schöne Königstochter heilen und sich auf diese Weise Geld verschaffen. Kaum war er einige Schritte gegangen, kam er zu einer schönen Straße, und diese führte schnurgerade zur Königsstadt und zur prächtigen Königsburg. Er ging gerade auf die Burg zu und zum Könige und sagte zu diesem, er wolle seine Tochter heilen, wenn er ihm sechs starke Männer mitgeben würde. Die Prinzeß hatte gerade so große Schmerzen, daß sie laut aufschrie; da war der König gleich bereit und ließ sechs baumstarke Männer holen, und die übergab er dem armen Schuster. Der Schuster ging nun wieder in den Wald hinaus und zum weißen Felsen hin und wartete dort mit seinen sechs Gesellen bis Mitternacht. Als es Mitternacht war, bewegte sich wirklich der Stein und ein fürchterlich großer Wurm kam hervor – da stürzte sich der Schuster mit den sechs starken Männern auf das Untier los und alle sieben schlugen so lange mit Keulen und Äxten darauf, bis es maustot war. Der Schuster nahm nun das Fett aus dem Leibe des Wurmes, ging zum Könige zurück und beschmierte den rechten Fuß der Prinzeß. Diese ward besser und besser und in acht Tagen war sie wieder frisch und gesund und sah aus weiß und rot wie ein Apfel. – Der alte König war ganz erfreut, umarmte den armen Schuster und führte ihn in die Schatzkammer. Der Schuster war über die Pracht und Herrlichkeit der Schätze ganz außer sich, und wie er so staunte und schaute, sagte der König: »Nimm so viel Gold, als du willst!«

Der Schuster ließ sich das nicht zweimal sagen und steckte sich alle Taschen voll Gold ein, so daß er nicht mehr ertragen konnte, und dankte dem König dafür. Der König war aber damit noch nicht zufrieden,[66] denn ihm hatte der Schuster zu wenig genommen, und gab ihm noch einen so großen Sack voll Gold, daß der Schuster einen Esel leihen mußte, um das viele Gold nach Hause zu bringen.

Als der Schuster mit dem Schatze nach Hause kam, fand er die Kinder noch am Leben, denn sie hatten indessen etwas zu essen bekommen. Die waren so froh, ihren Vater wieder zu haben, und lebten mit ihm, der nun ein steinreicher Mann war, vergnügt und glücklich viele Jahre hindurch und von einer Not war gar keine Rede mehr.

Wie der geizige Nachbar sah, wie der arme Schuster mit seinen noch lebenden Kindern gut aß und trank und glücklich lebt, da wunderte es ihn, wie es zugegangen sei. Er ging deshalb zum Schuster hin und fragte ihn, wie es denn gekommen wäre, daß er nun so gut fortkomme. Der Schuster machte kein Hehl und erzählte dem Geizigen aufrichtig, wie es ihm ergangen sei. – Da dachte sich der Geizige: »Ich muß es auch so machen,« ging in den Wald hinaus, stieg auf den Baum, sah in die Weite, sah das schöne große Haus und stieg wieder herunter. Er eilte nun der Gegend zu, wo das Haus stund, ging in dasselbe hinein, fand die Tische gedeckt, aß von den Speisen und versteckte sich endlich, als er jemanden kommen hörte, ins Ofenloch. Die zwölf Herren kamen wieder und es ging wie beim ersten Male zu und der letzte erzählte wieder folgende Geschichte: »Es war einmal ein armer Mann hier, den die bitterste Not hieher getrieben hatte und den wir glücklich gemacht haben; heute aber steckt ein reicher, reicher Mann im Ofenloche, den nur der Geiz und die Habsucht hergeführt haben, und auf diesen dürfen wir alle losschlagen.« – Auf diese Rede fuhren alle zwölf sogleich von ihren Sitzen auf, stürzten auf das Ofenloch zu und stachen und stachen in dasselbe hinein, bis der Geizige erstochen und maustot war.


(Bozen.)

Quelle:
Zingerle, Ignaz Vinc. und Josef: Kinder- und Hausmärchen aus Tirol. Innsbruck: Schwick, 1911, S. 62-67.
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