41. Wie ein armes Mütterchen zu vieler Wäsche kam und dieselbe wieder verlor.

[231] In einem abgelegenen Dorfe auf einem hohen Berge lebte einmal ein gar armes Mütterchen, das den bittersten Mangel litt. Eines Tages nahm es einen Stock und machte sich auf den Weg ins Tal hinunter, um bei guten Leuten Almosen zu erbetteln. Als es durch den dichten Weißtannenwald ging, kam es zu einer Felswand in der wilde Weiblein wohnten, und der Duft frischgebackenen Brotes wehte dem Mütterchen entgegen. Da dachte sich die Arme: »O, hätte ich nur ein Stücklein Brot, um meinen ärgsten Hunger zu stillen!« Kaum hatte sie dies gewünscht, stand ein wildes Weiblein mit einem großen Brotlaib vor ihr und sprach: »Da hast du's, hungeriges Ding!« und gab ihr das Brot. Das erstaunte Mütterchen wollte danken, allein das Weiblein war blitzschnell im Felsen verschwunden. Das Mütterchen stillte nun seinen Hunger und wanderte dann neugestärkt weiter, bis es in das Tal kam. Hier hausten aber sehr böse und übermütige Leute, welche der Armen nichts gaben und sie verhöhnten und mißhandelten. Und wenn das Mütterchen am Tage sich müde gegangen hatte, mußte es nachts auf offenem Felde liegen, so daß es vor Frost nicht schlafen konnte. Da dachte es: »Mein Bleiben dahier ist vergebens, ich gehe wieder heim.« Als es sich aber auf[232] den Heimweg machte, war es sehr kalt und das Mütterchen zitterte vor Frost, denn sein Gewand war zerrissen und zerschlissen. Die Arme wäre wohl auf dem Wege erlegen, wenn nicht das Brot, welches nie zu Ende ging, sie wunderbar gestärkt hätte. Als der Weg sie zum Felsen der wilden Weiblein führte, sah sie dort ganze Leinwandballen auf der Bleiche liegen. Da seufzte das Mütterchen, welches vor Kälte zitterte: »Oh hätte ich nur ein Stück solcher Leinwand! Dann könnte ich mir gute Hemden machen und es würde mich nimmer so frieren.«

Als es diesen Wunsch getan hatte, stund wieder das wilde Weiblein vor ihr, trug einen Garnsträhn in der Hand und sprach mitleidig: »Da hast du einen Garnkranz, nacktes Ding! Er wird nimmer zu Ende gehen, wenn du nicht selbst es wünschest. Darum sage nie, wenn du denselben in die Hand nimmst: ›Oh, wärest du zu Ende!‹« Mit diesen Worten verschwand das wilde Weiblein wieder und das beschenkte Mütterchen ging freudig seinen Weg, bis es nach Hause kam. Da setzte es sich müde auf einen Stuhl und begann Garn zu winden und soviel es wand und wand, das Garn ging nicht zu Ende. Das Mütterchen gab nun dem Weber vollauf zu tun, bezahlte ihn zuerst mit Leinwand, machte sich dann Hemden und verkaufte dann die übrigen Stücke. Der Leinweber war vom Mütterchen allein in einem fort beschäftigt und dieses löste aus dem schönen Tuche so viel Geld, daß es ganz sorgenfrei und glücklich leben konnte. So ging es lange Zeit hindurch und das Mütterchen wurde immer wohlhabender. Die Leute verwunderten sich darüber, woher es soviel Garn und Geld nehme, konnten aber ihr nichts Böses nachsagen. Einmal kam aber das Mütterchen in einen Wortwechsel mit einer bösen Nachbarin und beide erzürnten sich gar sehr. Da sagte die Nachbarin: »Schweig du, alte Hexe! – Wir wissen alle, daß der Selbander[233] dir das Garn bringt,« und so zankten und haderten sie lange Zeit hindurch. Endlich ging das Mütterchen ergrämt nach Hause und begann wiederum Garn zu winden. Als es aber mißmutig einige Zeit lang gewunden hatte, sagte es unwillig: »Du verwünschtes Garn, wärst du doch einmal zu Ende!« Kaum gesagt, war der Wunsch auch erfüllt und Garn, Leinwand und Geld waren verschwunden. Selbst das Gewand, das aus solchem Garn gewoben war, war verflogen und zerstoben, und splitternackt saß das alte Mütterchen auf dem Stuhle und war ärmer als zuvor.


(Luserna.)

Quelle:
Zingerle, Ignaz Vinc. und Josef: Kinder- und Hausmärchen aus Tirol. Innsbruck: Schwick, 1911, S. 231-234.
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