Das verzauberte Schloß

[186] Es lebte einstens ein reicher, mächtiger Graf. Dieser hatte drei Söhne, von denen die älteren zwei ziemlich herangewachsen waren, als ihre liebe Mutter starb; der dritte war aber noch sehr[186] jung und klein. Die älteren beiden hatten keine größere Freude, als auf die Jagd zu gehen oder mit den Pferden sich herumzutummeln und den jüngsten Bruder zu necken; denn dieser blieb den ganzen Tag bei seinem trauernden Vater zu Hause und fand nur Freude an dessen schönen Geschichten und angenehmen Erzählungen. Deshalb liebte ihn auch der Vater gar sehr.

So ging es mehrere Jahre fort. Der jüngste war auch größer geworden, und der Vater hatte allmählich die Trauer um sein geliebtes Weib gemäßigt; aber dafür kam jetzt ein anderes großes Unglück über ihn, er wurde sehr krank und bekam einen häßlichen Ausschlag. Von weit und breit wurden die berühmtesten Ärzte berufen, doch keiner kannte ein Kräutlein oder ein Wässerlein gegen diese häßliche Krankheit.

Da erzählte eines Tages ein altes Weiblein, daß weit von hier sich ein Schloß befinde mitten in einem See, und darinnen schlafe eine verzauberte Königstochter. Dort könnte man ein Wässerlein bekommen, das alle Krankheiten heile und von dem der alte Graf ganz gewiß gesund würde.

Wie dies der älteste Sohn hörte, sattelte er sogleich sein Pferd, versah sich wohl mit Gold und Silber, schwang sich in den Sattel und sprengte auf und davon, um seinen Vater zu retten und die Jungfrau zu befreien. Wie er etliche Tage so fortgeritten war, kam er an ein Wirtshaus, darin schien es sehr lustig zuzugehen, denn es wurde getanzt, gesungen und gesprungen, daß es eine Freude war und man den Lärm weithin hören konnte. Er machte verwundert und ermüdet halt. Sogleich sprangen etliche der lustigen Brüder mit der vollen Weinflasche aus der Schenke und hießen den schmucken Reiter herzlich willkommen. Dieser ließ es sich auch nicht zweimal sagen; er sprang aus dem Sattel, übergab das Pferd dem Knecht zur Versorgung und eilte mit den anderen in die Gaststube hinein.

Hier wurde er von allen in die Mitte genommen und nicht mehr losgelassen; er mußte alles mitmachen, so zwar, daß er bald all sein Geld samt dem Pferd vertan hatte.

Als nun der älteste Sohn zur bestimmten Zeit nicht kam, da sattelte der jüngere Sohn sein Roß, nahm viel Silber und Gold mit sich und sprengte auf und davon, um so bald als möglich den See samt dem Schloß zu erreichen. Nach etlichen Tagen kam er[187] auch zum Wirtshaus, worin sein älterer Bruder sitzen geblieben war. Wie dieser seinen jüngeren Bruder daherreiten sah, eilte er ihm mit seinen Zechbrüdern entgegen und nötigte ihn, auch ins Wirtshaus zu gehen. Da erging es ihm geradeso wie dem älteren; er blieb freiwillig so lange, bis er all sein Geld und Gut verpraßt hatte, so daß beide wider Willen bleiben mußten. Zu Hause wartete man mit Sehnsucht auf ihre Rückkehr, jedoch vergebens.

Da machte sich der jüngste Bruder auf und versprach seinem Vater, das Heilwasser zu erobern, seine Brüder dann aufzusuchen und mit sich zurückzubringen. Er sprengte immer fort, Tag und Nacht, ohne Unterlaß. Wie er zum Wirtshaus kam, hörte er wohl seine Brüder von weitem schon lärmen, er gab aber dem Pferd die Sporen und flog mit Windeseile am Wirtshaus vorbei. Alles Rufen der Brüder und der anderen tollen Zecher war vergebens, er ritt unaufhaltsam fort. Endlich kam er an einen großen See, und in dessen Mitte sah er ein schönes Schloß. Der Beschreibung nach mußte es das Schloß sein, das er aufsuchte.

Wie er nun am Ufer auf und ab ritt und forschte, wie er wohl ins Schloß kommen könnte – denn er sah weder Brücke noch Schiff –, da erblickte er ein altes Weiblein, das im See mit dem Wasser kämpfte und dem Ertrinken sehr nahe war. Voll Mitleid sprang er ins Wasser und zog das alte Weiblein ans Ufer. Dies dankte ihm für die Rettung und fragte ihn, was er denn am See wolle. Da erzählte er ihr sein Anliegen.

»Da ist bald geholfen«, sagte das Weiblein. »Weil du gegen mich so barmherzig gewesen bist und mich von der scheinbaren Gefahr des Ertrinkens gerettet hast, so will auch ich dich unterstützen. Ich bin zur Wächterin über das Schloß und die schlafende Prinzessin aufgestellt worden von dem mächtigen Zauberer. Aber diese Beschäftigung wird mir zu langweilig, und die holde Jungfrau erbarmt mir gar zu sehr, deshalb will ich dich unterstützen. Aber du mußt auch erfüllen, was ich von dir verlange. Du mußt dein Pferd in viele Stücke zerhacken und mich an diesem Platz morgen um elf Uhr erwarten. Die Stücklein nimmst du mit, wenn ich dich ins Schloß führe; denn drinnen wimmelt es von den verschiedensten Tieren, kleinen und großen, wilden und zahmen. Wenn ich dir winke, so wirfst du ihnen[188] ein Stück vor, damit du ungehindert durchgehen kannst; ebenso auf dem Rückweg. In dem Zimmer, wo sich die schlafende Prinzessin befindet, nimmst du die mittlere von drei auf einem Tisch stehenden Flaschen und dann eile wieder hinweg, denn um zwölf Uhr dreht sich alles im Schloß herum. Du wärst verloren, wenn du dich noch im Schloß befändest, und die Prinzessin wäre dann unerlösbar.«

Hierauf entfernte sich das Weiblein.

Er erfüllte getreulich, was ihm befohlen war. Mit den Stücklein seines Pferdes harrte er schon in aller Frühe auf seine Führerin. Um elf Uhr erschien sie in einem Kahn und brachte ihn ins Schloß. Hier begegneten ihnen die seltsamsten Tiere, kleine wie große, zahme wie wilde, an den Türen aber hielten Löwen Wache, von denen er einem jeden ein Stück Pferdefleisch hinwerfen mußte. So kam er von einem Zimmer in das andere, und das Weiblein öffnete immer mit einem goldenen Schlüssel.

Endlich kamen sie ins Zimmer, wo die Prinzessin war; diese war aber eine wunderschöne Jungfrau und schlief fest auf einem herrlichen Bett. Der Jüngling war ganz entzückt von der holden Gestalt, er konnte sich daran nicht satt sehen; gerne wäre er geblieben, aber der nahe Glockenschlag und die Führerin mahnten ihn zur Eile. Schnell ergriff er die mittlere von drei Flaschen, die auf einem Tisch standen, warf noch einen Blick auf die Schläferin, die die Augen zu öffnen schien, und eilte dann blitzschnell aus dem Schloß, indem er auf den Wink der Führerin seine Stücklein verteilte. Kaum hatte er das Schloß hinter sich, als auch die Glocke zwölf schlug und im Schloß ein Gepolter und Lärm entstand, als drehe sich alles nach oben und unten. Doch plötzlich wurde es still. Glücklich brachte ihn das Weiblein mit der Flasche ans Ufer. Hier fand er zu seinem größten Erstaunen ein schön gesatteltes Pferd, das ihm froh entgegenwieherte; er schwang sich hinauf und sprengte wohlgemut der Heimat zu. Nach einigen Tagen spätabends kam er beim Wirtshaus an, wo seine zwei Brüder sitzen geblieben waren. »Jetzt«, sagte er zu sich selbst, »kannst du dich wohl gütlich tun, nachdem du ein so schönes Stück Arbeit vollbracht hast.«

Er stieg deshalb ab und ging zu seinen Brüdern hinein. Diese waren mit dem Abgang ihres Geldes auch allmählich stiller geworden[189] und saßen ganz trübsinnig in einem Winkel. Wie sie ihn nun eintreten sahen, sprangen sie vor Freude auf und baten ihn, doch zu erzählen, wie es ihm ergangen war. Er erzählte ihnen die ganze Geschichte und zeigte ihnen die Flasche mit dem Heilwasser. Damit sie am andern Tag mit ihm nach Hause könnten, kaufte er ihnen die Pferde los und legte sich dann wohlgemut und ohne allen Argwohn schlafen. Nicht so die Brüder. Diese wollten es ihm durchaus nicht gönnen, daß er das Heilwasser erobert hatte und dadurch seinen Vater retten konnte. Sie schlichen deshalb ganz leise an sein Lager, um zu lauschen, ob er wohl tief schlafe. Ihn umgaukelten die süßesten Träume. Währenddessen aber nahmen seine Brüder ihm heimlich die Flasche weg, teilten den Inhalt unter sich, füllten sie dann mit Quellwasser, stellten sie an ihren früheren Ort und schliefen dann fest bis an den Morgen. Ohne allen Argwohn sattelte der jüngste sein Pferd und verwahrte seine Flasche wohl; auch die älteren zwei brachen auf und ritten froh mit ihm der Heimat zu. Kaum angekommen, erzählte der jüngste die ganze Geschichte, die er erlebt hatte, zog dann seine Flasche hervor und wusch den Vater; doch blieb dieser krank wie zuvor.

Da fragte er seine andern zwei Söhne, ob etwa sie das wahre Heilwässerlein gefunden hätten. »Wir haben wohl eines«, sagten sie, und ein jeder zog seine Flasche hervor; und während sie den Vater wuschen, erzählten sie eine erdichtete Geschichte, wie sie dazu gekommen waren, und nachdem sie zu erzählen und zu waschen aufgehört hatten, wurde der Vater plötzlich gesund und blühend und schön wie ein Jüngling.

Da gingen dem jüngsten die Augen auf, und er beteuerte, daß ihm die älteren Brüder die Flasche gestohlen hätten. Aber er konnte das nicht beweisen, und deshalb wurde sein Vater sehr zornig auf ihn. Da schlich er gar einsam und traurig durch die Hallen der Burg, und jetzt erst dachte er an die holde Prinzessin, die ihm wegen seines Vaters ganz aus dem Gedächtnis entfallen war.

Wie er so herumirrte und nur an sie dachte, kam ein mit sechs Schimmeln bespannter Wagen dahergefahren; darin saß eine schöne Jungfrau, die von einer zahlreichen Dienerschaft umgeben war. Der Graf eilte mit seinen drei Söhnen der Unbekannten[190] entgegen und hieß sie aufs freundlichste willkommen. Da erkannte der jüngste in ihr die schlafende Prinzessin und konnte seine Freude nicht mehr mäßigen. Er eilte auf sie zu und bot ihr seine Rechte. Sie aber erzählte dem Grafen, wie sie durch den jüngsten gerettet wurde und jetzt da sei, ihn als ihren Bräutigam abzuholen. Als dies der jüngste hörte, nahm er von seinem Vater und den beschämten Brüdern sogleich Abschied, stieg mit seiner Braut in den Wagen und fuhr mit ihr ins Schloß zurück. Dort hielt er Hochzeit und lebte viele Jahre mit ihr recht glücklich und zufrieden.


(mündlich aus dem Zillertal)

Quelle:
Zingerle, Ignaz und Joseph: Kinder- und Hausmärchen aus Süddeutschland. (Regensburg 1854) Nachdruck München: Borowsky, 1980, S. 186-191.
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