Der daumenlange Hansl

[194] An dem Saum eines großen Waldes stand eine elende Hütte, worin zwei arme Eheleute mit ihren elf Söhnen wohnten; diese waren aber sehr klein und der älteste von ihnen nicht viel größer als eines Mannes Daumen, so daß man ihn allgemein den daumenlangen Hansl nannte.

Da die Eltern sehr arm waren und das nötige Brot nicht mehr auftreiben konnten, so dachten sie daran, sich die Kinder vom Hals zu schaffen. In einer Nacht besprachen sie diese Sache und beschlossen, die Kinder am andern Tag in den Wald zu führen und dort sich selbst zu überlassen.[194]

Hansl hatte aber die ganze Beratung der Eltern heimlich gehört und sann nun auf ein Mittel, wie er mit seinen Brüderchen wohl allein den Weg aus dem Wald nach Hause finden könnte. Zu diesem Zweck stopfte er sich am anderen Tag seine Taschen voll mit kleinen, runden Kieselsteinen und ging dann mit seinen Eltern und Brüdern ganz sorgenfrei in den Wald hinein. Nach einiger Zeit entfernten sich die Eltern von ihnen unter dem Vorwand, sie suchten Holz, gingen aber schnell auf einem anderen Weg nach Hause zurück. Die Brüderchen warteten lange, aber vergebens; da machte Hansl, der nicht wußte, warum sie so lange warten sollten, ihnen den Vorschlag, nach Hause zurückzukehren, er werde den Weg schon finden. Wirklich brachte er alle glücklich nach Hause; denn auf dem Weg in den Wald hatte er in einiger Entfernung ein Steinchen nach dem andern fallen lassen; diese Steinchen suchte er nun auf, und so gelangte er auch glücklich zu Hause an.

Die Eltern erschraken zwar, wie die Kinder ganz wider ihr Hoffen kamen, mußten jedoch Freude heucheln; sie beschlossen aber, die Sache doch noch einmal zu versuchen. Sie führten deshalb am anderen Tag die Kinder in den Wald an einen ganz unbekannten Ort hin.

Hansl hatte diesmal kleine Häufchen von Sand gebildet, um so den Rückweg zu finden. Die Eltern machten sich wieder davon und eilten nach Hause; die Kinderchen warteten lange, aber vergebens auf ihre Rückkehr, deshalb wollten sie allein nach Hause gehen. Da hatte sich ein starker Wind erhoben, der die Sandhäufchen des Hansl vernichtete, so daß sie bald den Weg verloren. Eine Zeitlang irrten sie im Wald umher; endlich stieg Hansl auf eine hohe Tanne, um zu sehen, ob nicht in der Nähe ein Haus oder eine Hütte wäre. Da sah er wirklich in nicht gar großer Entfernung aus einer Hütte Rauch aufsteigen. Er stieg eilig herab und ging mit seinen Brüderchen auf die Hütte zu; sie war aber versperrt.

Hansl klopfte leise an. Da öffnete ein altes Weiblein und fragte, was sie wollten.

»Ach bitte«, flehte Hansl, »schenkt uns doch ein Stücklein Brot und laßt uns über Nacht bleiben, damit uns nicht die Tiere fressen.«[195]

Das mitleidige Weiblein gab einem jeden ein Stücklein Brot und verbarg dann alle unter dem Ofen; denn der Herr der Hütte war ein Menschenfresser und konnte von seinem Raubzug bald zurückkommen. Wirklich kam er auch bald und rief, sowie er in die Stube getreten war: »I schmeck', i schmeck' a Menschenblut.« Er schnupperte in der Stube herum und hatte die Kleinen hinter dem Ofen bald gefunden. »Ihr seid gerade recht für Mitternacht«, sagte er und legte sich dann auf die Bank, wo er bald einschlief.

Als das Weiblein die Worte des Menschenfressers gehört hatte, erschrak sie sehr, denn die kleinen Kinder hatte sie lieb. Sie befahl ihnen deshalb, als der Menschenfresser fest schlief, unter dem Ofen hervorzukommen, und führte sie in eine Kammer. In dieser aber schliefen die elf Töchter des Menschenfressers, und jede hatte ein goldenes Krönlein auf dem Haupt. Die Krönlein nahm nun das Weiblein heimlich weg und setzte sie dem Hansl und seinen Brüderlein auf, ihre leinenen Zipfelkäpplein aber den Töchtern des Menschenfressers.

Um Mitternacht stand dieser auf und hatte bald herausgefunden, daß die fremden Kinderlein in der Kammer seiner Töchter waren. Schon wollte er den Hansl fassen, als er das goldene Krönlein bemerkte und deshalb irregeführt wurde. Er griff daher nach den leinenen Zipfelkäpplein und biß so seinen Töchtern den Kopf ab. Hansl aber machte sich mit seinen Brüderlein aus dem Staub, und sie liefen und liefen, bis sie vor Müdigkeit nicht mehr weiterkonnten und sich deshalb in einer Höhle verkrochen, um da sicher zu sein.

Mit Tagesanbruch hatte der Menschenfresser seinen Irrtum bemerkt; zornig zog er seine Stiefel an, um den flüchtigen Kindern nachzueilen. Die Stiefel aber hatten die Eigenschaft, daß sie einen hintrugen, wohin man wollte. Deshalb hatte er die Kinderlein, die ihm mit den goldenen Krönlein entflohen waren, auch bald gefunden. Er lachte hellauf vor Freude, als er sie sah, und legte sich dann vor die Höhle hin, um ein wenig auszuruhen. Hansl aber kroch heimlich mit seinen Brüdern aus der Höhle hervor und zog dem Schläfer seine Stiefel aus. Diese waren sehr groß, so daß alle darin Platz hatten. Hansl dachte: Ach, kämen wir nach Hause! Und siehe, kaum hatte er es gedacht, da[196] sprangen die Stiefel nebeneinander fort und fort, bis sie zu Hause ankamen.

Jetzt hatten die Eltern große Freude an ihnen; denn aus den goldenen Krönlein lösten sie viel Geld, und Hansl verdiente sich auch viel, denn er wurde Bote, und zwar der beliebteste und bald auch der reichste, weil er mit seinen Stiefeln die Geschäfte am schnellsten besorgen konnte.


(mündlich in ganz Deutsch-Tirol)

Quelle:
Zingerle, Ignaz und Joseph: Kinder- und Hausmärchen aus Süddeutschland. (Regensburg 1854) Nachdruck München: Borowsky, 1980, S. 194-197.
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