Vorwort

[7] Die Sage will ihr Recht.

Ich schreit' ihr nach.

Fouqué an Fichte


Wir übergeben hiermit eine zweite Lese Tiroler Märchen dem Publikum. Wenn sich jemand wundern sollte, warum wir mit der Ausgabe dieses Bändchens so lange gezögert haben, so geben wir unter anderen zu bedenken, daß der Sammler dem Jäger in manchem Stück ähnlich ist und daß niemand einen Jäger schilt, wenn er hie und da umsonst auf die Jagd geht und eine geraume Zeit braucht, bis er eine gewisse Anzahl des eben geforderten Wildes beisammen hat. Wäre es uns nicht gerade darum zu tun gewesen, dieses Bändchen wieder mit Märchen auszufüllen, so wäre es vielleicht schon lange in den Händen der Leser, sie hätten aber dann in bunter Mischung hinnehmen müssen, was wir ihnen lieber gesondert vorlegen. Übrigens können wir unseren Lesern die Nachricht geben, daß auch der dritte Band unseres Sammelwerkes bald ans Licht treten wird.

Wir fürchten aber, daß es noch viele innerhalb und außerhalb unseres Vaterlandes gibt, die über solche Nachrichten lächeln und nicht begreifen, wie es einem gesunden Sinn einfallen könne, ein erstes, zweites, drittes – ja vielleicht noch mehrere Bändchen solchen Zeugs drucken zu lassen. Solche Verachtung dieser schlichten, immer kindlichen Kinder unseres Volkes wurzelt in allerlei Grundsätzen, Meinungen und Gewohnheiten, und es kann nicht unsere Absicht sein, die so oft geführte, aber wenig gewürdigte Verteidigung zu übernehmen. Es haben schon Männer berühmtesten Namens von verschiedenen Standpunkten aus gesprochen, und wenn man diese überhört hat, so dürfen wir uns um so weniger schmeicheln, ein entscheidendes Wort in die Waagschale zu legen. Namentlich haben Simrock und Wolf – beide vom christlichen Standpunkt aus – die Verteidigung übernommen und sind besonders gegen jene aufgetreten, die aus religiösen Besorgnissen oder gar aus einseitiger Liebhaberei des griechisch-römischen Heidentums uns die Erforschung unserer eigenen Vorzeit verleiden möchten.[7] Sie haben die ersteren aufmerksam gemacht, wie ehrwürdige Reste der Uroffenbarung sich im germanischen Heidentum vorfinden, und haben den letzteren gezeigt, in wie lächerliche Widersprüche sie sich verwickeln, wenn sie alle schmutzigen Geschichten der sogenannten klassischen Mythologie für so wichtig halten, daß sogar die deutsche Jugend damit angesteckt werden muß, während sie so viele tiefsittliche Momente altgermanischen Heidentums nicht eines Blickes würdigen.

Es ist hierbei gewiß nicht die Absicht dieser Vorredner echtdeutscher Wissenschaft gewesen, das Studium nichtdeutscher Mythologien zu entwerten, sondern sie haben nur Einseitigkeiten und Extreme verurteilt, die die Wissenschaft, die an ihnen längst schon vorübergegangen ist, wieder ganz und gar auf die Seite ziehen möchten. Nicht griechische, nicht römische, auch nicht ausschließlich deutsche, sondern die vergleichende Mythologie ist es, auf die jetzt die führenden Geister ihre Aufmerksamkeit richten.

Freilich kann diese universelle Wissenschaft ihre Aufgabe nicht erreichen, wenn die einzelnen Zweige nicht ihre Pfleger finden. Aber diese sollen dann nicht mit Verachtung ihrer Mitarbeiter ans Werk gehen, sondern beständig das große Ganze vor Augen behalten und über die Bemühung jener sich freuen, die scheinbar einem anderen, aber eigentlich doch demselben großen Zweck entgegenarbeiten. Möchte doch die Zeit, in der jeder Splitter der Wissenschaft sich von dem anderen losriß und nur allein sich breitzumachen suchte, bald ganz und gar vorüber sein und nur im leidigen Andenken, nicht aber in eigensinniger Wirklichkeit existieren!

Würde es nun einmal gelingen, die oben genannten Gegner der Märchen- und Sagenliteratur von der Wichtigkeit deutsch-mythologischen Studiums zu überzeugen, so müßte auch ihr Eifer gegen das Zusammenlesen der zerstreuten Überreste unseres Heidentums mit einem Mal erkalten. Daß aber unsere Sagen, unsere Märchen und alles, was in dieses Gebiet schlägt, solche Überreste sind, bedarf wohl keines Wortes. Man sage uns nur, auf welchem Grund ist das alles gewachsen, wenn nicht auf heidnischem? Und man sage uns, wohin hat sich das vertriebene Heidentum geflüchtet, wenn nicht in diese harmlosen[8] Zufluchtsstätten? Freilich muß man hierbei die Form genau von dem Wesen unterscheiden und aus dem christlichen Gewand, womit sich manches Märchen, manche Sage, mancher Brauch geschmückt hat, nicht auf Wesen und Herkunft schließen.

Aber mit dieser Verteidigung ihrer Herkunft könnten wir die Volkskinder, deren wir hier wieder eine Schar vorführen, schlecht empfehlen. Unsere auf ihren Irrfahrten hier und dort aufgegriffenen Jungen wollen ja nicht bloß in die Stuben der Gelehrten wandern, sondern sie suchen sich auch in anderen Häusern Zutritt, bei Bauern und Herren, und überall möchten sie gern gelitten sein.

Aber wenn sie heidnischer Herkunft sind, wer sollte sie dann aufnehmen, wer gar an ihnen ein Gefallen finden? Nur nicht verzagt! Diese Kleinen haben sich ja durch so viele Jahrhunderte mit unserem festgläubigen Volk vertragen, sind seine Freunde geworden, haben ihm seinen christlichen Sinn niemals verdorben und werden wohl, wie anderswo, erst dann verabschiedet werden, wenn fade Aufklärerei mit jedem ehrwürdigen Herkommen auch christlichen Sinn und christliche Sitte aus dem Land scheucht. Diese heidnischen Waisen haben sich dem christlichen Wesen so gefügt und so angeschmiegt, daß an manchen nur das geübteste Auge und der tiefste Scharfsinn die heidnischen Züge noch herausfinden wird. Und wie würden sie auch sonst von einem der christlichsten Völker so lange geduldet worden sein, wenn sie sich zu frei und heidnisch ungebührlich benommen hätten? Und rennt uns ein solcher Range in die Arme, der ohne alle christliche Zucht umherläuft, so können wir ihn schon auf solchen Wegen in die Quartiere der Gelehrten schicken, daß nicht zu befürchten ist, er laufe auch in andere Häuser hinein und treibe dort sein Unwesen.

Aber wenn sich unsere Jungen dem sittlichen Gefühl anstößige Frechheiten nicht erlauben, so haben sie doch die Höhe moderner Zivilisation noch lange nicht erstiegen. Sie erlauben sich manchmal Ungezogenheiten, die einem Salon wenig Ehre machen würden und wobei Übelkeiten, wenn nicht gar Ohnmachten zarterer Wesen erfolgen könnten. Es möchte ihnen in modern-zimperlicher Gesellschaft ebenso gehen, wie es dem Bauern gegangen ist, der, auf einmal zum König erhoben, sich[9] in die Hofsitte nicht schicken konnte. Es wird daher gescheiter sein, wenn man sie von solchen Kreisen ausschließt und anstatt der unscheinbaren kräftigen Bauernkost, die sie mit sich bringen, wieder die rotgeschminkten transrhenanischen Zuckeräpfelchen aufspeist. Sie würden in solcher Umgebung vielleicht auch deswegen nicht wohl gelitten sein, weil sie keinen Frack tragen, der doch zu guter Aufnahme in höhere Kreise unentbehrlich ist. Ja einem fleißigen Beobachter wird es sogleich auffallen, daß die heuer ausgesandten in einem noch schlichteren Kleid auftreten als ihre früher ausgeschickten Brüder. Gelacktes Zeug paßt nicht für dies bäurische Völklein. Es nimmt sich immer verblüfft und tölpisch darin aus und ist dann am feinsten und lustigsten, wenn es in seinem gewohnten Loden steckt.

Aber jetzt dürfen wir über die Achselzucker auch unsere teilnehmenden Freunde nicht vergessen, die sich durch Wort und Tat unserem Unternehmen günstig erwiesen haben. Unser erstes Bändchen hat verschiedene Anzeigen, Besprechungen und Mitteilungen hervorgerufen, aus denen wir freudig ersahen, daß Männer, deren Wort in solchen Dingen gewichtig ist, unserem Unternehmen anerkennende Teilnahme zollten. Lob und Rüge von solcher Seite muß dem aufrichtig Strebsamen immer zur Ermunterung gereichen.

In unserem Vaterland haben sich dann so manche gefunden, die ihre Teilnahme durch die Tat bezeugten und eifrigst bestrebt sind, unsere Sammlungen durch Beiträge zu bereichern. Die Herren Hugo Ritter von Goldegg, Joseph Dielitz, P. Heinrich Högl, Peter Stolzissi, Anton von Kripp, nebst manchen anderen, deren Bescheidenheit wir durch Nennung ihres Namens nicht zu nahe treten wollen, waren und sind für unsere Zwecke tätig. Auch das jugendlich rüstige Volk an den Gymnasien regt die Hand, und wir sind, von anderen zu schweigen, besonders den wackeren Gymnasiasten Angerer und Tragseil, derzeit in Salzburg, zu innigem Dank verpflichtet. Diese Regung der jugendlichsten Kräfte muß uns besonders Trost und Aufmunterung sein, denn das freudige Handanlegen der Jünglinge ist immer ein günstiges Vorzeichen für die Zukunft gewesen.

Wir haben nun noch einen Wunsch zu erfüllen, der von mehreren Seiten laut geworden ist und dem wir nachkommen zu müssen[10] glauben, wenn es sich auch nur darum handelte, nicht als eigensinnig vor der Welt zu erscheinen. Man hat uns geraten, bei den einzelnen Märchen ihren Fundort anzugeben, damit hieraus wissenschaftlich interessante Vergleiche gezogen werden könnten. Ob hierbei, wenn man das freie, von jeder engeren Heimat losgebundene Umherschweifen des Märchens recht ins Auge faßt, für die Wissenschaft etwas Ergiebiges herauskommen könne, wollen wir nicht untersuchen, sondern wollen denen, die für ihre laut gewordenen Wünsche die gehörigen Gründe haben werden, die geforderten Notizen nicht vorenthalten. Wir geben deshalb nach jedem Märchen den Ort an, wo wir es gehört haben. Der geneigte Leser wird daraus ersehen, daß fast jede Gegend Deutsch-Tirols im Büchlein vertreten ist. Das schöne Unterinntal wie das starre, aber kräftige Oberland, das großartige Ötztal wie das weiche Zillertal, das paradiesische Etschland wie das unwirtliche Gebiet von Außerfern haben ihre Mannschaft zu dieser Märchenschar gestellt.

Darin liegt zugleich die Verteidigung gegen den Vorwurf, der uns deswegen gemacht wurde, weil in der ersten Märchensammlung gewisse Landesteile besser vertreten waren als andere. Die Hauptabwehr gegen diesen Vorwurf liegt aber in unserer Absicht, die angefangene Sammlung nicht mit diesem oder dem folgenden Bändchen zu schließen, sondern eifrig fortzufahren und mit jedem folgenden Teil die früheren zu ergänzen. Wenn uns von manchen Gegenden bisher wenig zugekommen ist, so kann die Schuld auch an etwas anderem liegen als an unserem guten Willen.

Mit diesem Paß oder Laufzettel mag sich diese Schar auf die Reise machen und gute Aufnahme finden bei Gelehrten und Ungelehrten! Besonders mögen sie unseren Freunden in und außer Tirol viel Freude machen und vor allem demjenigen von unseren Landsleuten, der zuerst den heidnischen Überbleibseln in Tirol größere Aufmerksamkeit zugewendet hat. Sollten wir ihn dem einen oder anderen erst nennen müssen: es ist der gelehrte Germanist Joseph Thaler, Pfarrer in Kuens. Ihm und allen unseren Mitstrebenden unseren herzlichsten Gruß!


Ignaz und Joseph Zingerle

Quelle:
Zingerle, Ignaz und Joseph: Kinder- und Hausmärchen aus Süddeutschland. (Regensburg 1854) Nachdruck München: Borowsky, 1980, S. 7-11.
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